Geschichte der Nervenheilanstalt in Obrawalde (Międzyrzecz-Obrzyce)
Zwei Kilometer östlich von Międzyrzecz, in Obrzyce, wurde zwischen 1901 und 1914 ein riesiger Krankenhauskomplex für psychisch und neurologisch Kranke errichtet: die 4. Posener Provinzial-Irrenanstalt Meseritz-Obrawalde. Der Komplex wurde in einem einheitlichen neugotischen Stil als eigenständig funktionierende Stadt gebaut und mit der notwendigen Infrastruktur ausgestattet. Die Einrichtung galt als eine der modernsten in Ostdeutschland, die Behandlungsmethoden und der Umgang mit den Patienten als vorbildlich. Auch Juden aus ganz Deutschland, darunter aus den Bezirken Meseritz und Schwerin, wurden hier behandelt. Im Verwaltungsgebäude gab es einen Gebetsraum für sie. In den 1920er Jahren war ihr geistlicher Betreuer der Kantor G. Schlumper aus Meseritz. Innerhalb des Krankenhauskomplexes befand sich auch ein Friedhof, der in konfessionelle Viertel unterteilt war. Auf dem Plan des Krankenhauses aus den 1930er Jahren befindet sich die jüdische Abteilung nördlich der evangelischen und katholischen Abteilung. Es war der Ort, an dem jüdische Patienten begraben wurden, und noch in den 1960er Jahren konnte man dort einzelne Grabsteine finden.
Am 1. September 1939 begannen die Nationalsozialisten auf dem Gebiet des „Dritten Reiches“ mit einer Euthanasieaktion für psychisch Kranke, die euphemistisch als „Tod aus Gnade“ (Aktion T4) bezeichnet wurde. Nach Protesten einiger deutscher Geistlicher wurde die Aktion gestoppt und 1942 im Geheimen wiederaufgenommen, wobei man auf Zentren in der Provinz zurückgriff. Eines davon war die Einrichtung in Meseritz-Obrawalde, wo die Tötung der Patienten im Sommer desselben Jahres begann und bis Januar 1945 andauerte. Nach überlieferten Berichten wurden die jüdischen Patienten vor der Operation in so genannten „grauen Bussen“ an einen unbekannten Ort transportiert. Dieses Ereignis wird von der Krankenschwester Marianna Grocholewska geschildert:
„(...) während des Krieges, aber bevor die Tötung der Patienten begann, wurden alle jüdischen Patienten aus dem Krankenhaus abtransportiert. Bis zum Abtransport dieser Patienten blieben sie zusammen mit anderen Patienten auf den Stationen. Ich habe persönlich gesehen, und es war im Frühjahr, denn ich erinnere mich, dass es sehr warm war, wie 8-10 große Busse mit SS-Männer in den Krankenhausbereich kamen, um jüdische Patienten aus den verschiedenen Abteilungen nach einer Liste abzuholen. Ich sah, dass diese Busse sehr voll waren und dass die Patienten darin eingepfercht waren. Ratajczak, Jeschke und andere waren bei der Übergabe der jüdischen Patienten anwesend.
Auf der Station, auf der ich arbeitete, gab es eine jüdische Patientin, die einen epileptischen Anfall hatte, als sie abgeholt wurde. Ich trug sie zusammen mit einer anderen Krankenschwester auf einer Bahre zum Bus, aber als wir die Tür des Busses erreichten, entrissen uns die SS-Männer die Bahre und warfen die Patientin auf den Boden des Busses, während sie die Bahre wegwarfen. Als die jüdischen Patienten von der Station abgeholt wurden, fragte ich die Stationsleiterin, wohin die Patienten gebracht würden. Sie antwortete, sie würden in ein anderes Krankenhaus gebracht. Als ich jedoch einen der SS-Männer fragte, sagte er: Was kümmert mich das? Als wir sahen, wie diese Patienten behandelt wurden, ahnten wir, dass sie dem Tod geweiht waren (...).“
Die Zahl der abtransportierten Patienten ist nicht bekannt. Wahrscheinlich waren nicht alle von ihnen Juden, denn so viele gab es in Obrawalde sicher nicht (8-10 große Busse). Ziel war es, Platz für die ankommenden Krankentransporte aus dem ganzen Reich, vor allem aus Berlin, aber auch aus Hannover und Hamburg, zu schaffen. Laut dem so genannten Totenbuch starben zwischen dem 1. Januar 1942 und dem 21. Januar 1945 6.991 Menschen. Fast alle von ihnen waren ermordete Patienten mit überwiegend deutscher Staatsangehörigkeit. Unter den Ermordeten waren auch Juden und Bürger anderer Nationalitäten. Es wird geschätzt, dass weitere 2-3.000 Patienten an den Folgen vorsätzlicher Misshandlungen gestorben sind. Somit könnte die Gesamtzahl der Opfer der Aktion T4 in Obrawalde bei etwa 10.000 liegen.
Im November 2004 wurde auf dem Gelände des Friedhofs in Obrzyce ein Mahnmal zum Gedenken an die ermordeten Patienten des Krankenhauses errichtet. Die Symbolik des Denkmals bezieht sich auch auf das Judentum und erinnert an die jüdischen Opfer, die während des Zweiten Weltkriegs in Obrawalde ermordet wurden.
Andrzej Kirmiel
Literatur & Quellen
Adolf Peritz: Meine Kindheit, Leo Baeck Institute New York, LBI Memoir Collection Nr. ME 498, Mikrofilm, übersetzt von W. Derwich (digital: Versuch einer Sammlung von Memoiren aus einem jüdischen Elternheim; URL: digipres.cjh.org/delivery/DeliveryManagerServlet [Zugriff: 14.12.2021])
Józef Radzicki, Jerzy Radzicki: Zbrodnie hitlerowskiej służby sanitarnej w Zakładzie dla Obłąkanych w Obrzycach [Verbrechen des NS-Sanitätsdienstes in der Irrenanstalt Obrawalde], Lubuskie Towarzystwo Naukowe, Zielona Góra 1975.
The central Database of Shoah Victims Names, yvng.yadvashem.org [Zugriff am 30.07. 2021]
Interview Andrzej Kirmiel mit Jerzy Dąbrowski im Januar 2007.
Archiv des Museums des Meseritzer Landes, Międzyrzecz.
weitere:
Thomas Beddies: Die Heil- und Pflegeanstalt Meseritz-Obrawalde im Dritten Reich, in: Kristina Hübener (Hrsg.): Brandenburgische Heil- und Pflegeanstalten in der NS-Zeit (= Schriftenreihe zur Medizin-Geschichte des Landes Brandenburg, Bd. 3), Berlin 2002, S. 231-258.
Hans Canjé: Sterbebücher aus Meseritz. Nur am Sonntag wurde nicht »gestorben« – Zeugnisse des Massenmordes, in: „antifa“. Magazin für antifaschistische Politik und Kultur (3) 2010; URL: antifa.vvn-bda.de/2013/09/05/sterbebucher-aus-meseritz (Abruf: 14.10.2021)
Die pommersche Landesheilanstalt Obrawalde im brandenburgischen Kreis Meseritz 1939-1945, hrsg. von ARC Group; URL: www.deathcamps.org/euthanasia/obrawalde_de.html (Abruf: 14.10.2021)
Waldemar Dramowicz: Obrzyce – Dzieje Szpitala, Międzyrzecz 2004.
Andreas Jüttemann: Die preußischen Lungenheilstätten 1863 – 1934 (unter besonderer Berücksichtigung der Regionen Brandenburg, Harz und Riesengebirge). Dissertation an der Charité – Universitätsmedizin Berlin, Lengerich 2015, S. 169f.
Andrzej Kirmiel: Jüdische Spuren in Międyrzecz (Meseritz), in: Transodra online, URL: www.transodra-online.net/de/node/1416 (Abruf: 14.10.2021)
Obrawalde. Opfer der NS-Eutanasie. Die sogenannte nationalsozialistische Rassenhygiene, URL: www.ns-euthanasie.de/index.php/obrawalde (Abruf: 14.10.2021)
L. Wabinski: 100 Jahre Obrawalde. Kindheitserinnerungen an Obrawalde, in: Heimatkreis Meseritz e.V. und Heimatkreisgemeinschaft Birnbaum, URL: www.heimatkreis-meseritz.de/4_11.htm (Abruf: 14.10.2021)
Samodzielny Publiczny Szpital dla Nerwowo i Psychicznie Chorych w Międzyrzeczu, URL: www.psychiatria.miedzyrzecz.pl/content.php (Abruf: 14.10.2021)