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Geschichte der Jüdischen Gemeinde in Blesen (Bledzew)

Bledzew Geschäftshaus Gurau 2020 und 1910
Foto: Anke Geißler-Grünberg; Museum des Meseritzer Landes
Geschäftshaus der Familie Gurau in Bledzew 2020 (links) und 1910-1920 (rechts)

In der von den Zisterziensern dominierten Geschichte von Blesen [heute Bledzew] waren die Juden kein besonders wichtiges Thema. Obwohl es im Meseritzer Land seit dem Mittelalter große jüdische Bevölkerungszentren gab, erschienen Juden erst nach der zweiten Teilung Polens (1793) in Blesen. Dies war auf die Tatsache zurückzuführen, dass Anhänger des Judentums aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur katholischen Kirche in den Dörfern nicht geduldet wurden. Abgesehen von den Zisterzienser-Gütern in Blesen und Paradies [heute Gościkowo-Paradyż], durften sie auch nicht in Betsche [heute Pszczew] leben, das dem Bischof von Posen [heute Poznań] gehörte. In der gleichen Zeit machten Juden in königlichen Städten wie Meseritz [heute Międzyrzecz] oder Schwerin an der Warthe [heute Skwierzyna] bis zu 30 % der Bevölkerung aus.

Juden gab es auch in Tirschtiegel [heute Trzciel] und Brätz [heute Brójce], sowie in anderen Adelsgütern. Nach der Besetzung von Großpolen durch Preußen hat sich die Politik des Staates den Juden gegenüber radikal geändert. Von den Untertanen der untersten Kategorie, beraubt von vielen Grundrechten, sind die Anhänger des Judentums nach und nach zu vollwertigen Bürgern geworden. Die gesetzlichen Bestimmungen von 1797, 1812, 1833 oder 1847 lösten die mittelalterlichen Einschränkungen ab und gewährten ihnen unter anderem die Freiheit, sich niederzulassen, Land zu besitzen, Berufe auszuüben oder volle Stadtrechte zu haben.

Diese Änderung der Rechtslage und auch eine vorübergehend geltende verbindliche Anordnung für Juden, sich in Städten niederzulassen, bewirkte ihren Zustrom nach Blesen. Die erste Quelle mit verfügbaren Informationen stammt aus dem Januar 1797.

Am 2. Januar 1797 erschienen im Rathaus von Blesen die drei Juden Hirsch Mayer, Salomon Moses und Abraham Joseph, als Vertreter der jüdischen Gemeinde aus dem nahegelegenen Adelsdorf Grunzig [heute Goruńsko]. Sie baten um die Möglichkeit, zehn jüdische Familien in der Stadt anzusiedeln. Drei Tage später (5. Januar) meldeten sich mit einer ähnlichen Anfrage Juden aus dem etwa 15 km entfernten Schermeisel [heute Trzemeszno] und baten um die Erlaubnis für zwölf Familien.

Trotz des königlichen Dekrets über die Ansiedlung von Juden versuchte Blesen, sich gegen ihren Zustrom zu wehren. In einem Brief an die Kriegs- und Domänenkammer in Posen herrschte die Angst vor dem Untergang im christlichen Handel und vor jüdischen Wettbewerb im Allgemeinen. Bedenken wurden hauptsächlich gegen die Juden aus Schermeisel geäußert, die einen schlechten Ruf haben sollten. Sie wurden verschiedener Delikte beschuldigt, wie verdächtiger Geschäfte und illegalem Handel während der Zeit der polnisch-preußischen Grenze, vor der zweiten Teilung Polens. Die Antwort der königlichen Beamten war eindeutig. Blesen hatte nicht das Recht, sich gegen die Ansiedlung von Juden in der Stadt zu wehren. Es wurde jedoch befohlen, den Juden aus Schermeisel besondere Aufmerksamkeit zu schenken und die zuständigen Behörden über alle ihre Vergehen zu informieren.

So können wir als Beginn der jüdischen Besiedlung in Blesen das Jahr 1797 betrachten. Es war kein einmaliger Akt. Der Prozess der Organisation und Gründung der Gemeinschaft dauerte mehrere Jahre. Im Jahr 1800 spricht die offizielle preußische Statistik von „sechs jüdischen Seelen“ in Blesen. 1802 lebten bereits zwölf jüdische Familien aus Schermeisel und neun aus Grunzig in der Stadt. Für die Erlaubnis, sich niederzulassen, zahlten sie drei Taler pro Jahr und Person an Steuern. Anfänglich mieteten sie nur Räume und Häuser. Der erste Immobilienkauf geschah erst 1805, als der Blesener Bürgermeister Jastrzembski sein Haus an Hirsch Meierson verkaufte.

Die Juden ließen sich hauptsächlich in der Landsberger Straße [heute ul. Kościuszki], dann auch in der Zielenziger Straße [heute ul. Szkolna], der Klosterstraße [heute ul. Sportowa] und am Marktplatz nieder. Die nach Blesen kommenden Juden waren zunächst nur „Handelsmenschen“, sie handelten meist mit Pferden und Getreide. Sie waren auch sehr oft Hausierer und vermittelten zwischen Stadt und Dorf. Später gab es auch andere Berufe, zum Beispiel einen Gastwirt (Abraham Gerson), einen Metzger (Itzig Wolf) oder einen Kolonialwaren-Händler (Siegfried Gurau). Bevor man eine eigenständig funktionierende Gemeinde gründete, hielt man die starken Bindungen zu den Juden in Grunzig, Schermeisel, Meseritz und Schwerin a.W. aufrecht. Mit der Zeit wurden die Juden von Blesen unabhängig und das Zeichen dafür war die Gründung einer eigenen Gemeinde, die Einrichtung eines Friedhofs und der Bau einer Synagoge.

Der nächste Schritt nach dem Anlegen des Friedhofs war der Bau von Synagoge, Schule und Mikwe. Die von Anfang an wichtigen Gemeindeobjekte befanden sich an der Landsberger Straße 13 [heute ul. Kościuszki 14]. Laut Archivaufzeichnungen hatte die Synagoge eine Grundfläche von 212 m². Der Eingang dazu befand sich nicht direkt an der Landsberger Straße, sondern man ging vorbei an einem seitlichen Durchgang zwischen den Häusern, der viel breiter war als jetzt. Die Synagoge und die Schule wurden spätestens in den frühen 1830er Jahren errichtet. Die Mikwe entstand um 1843.

Bis Mitte des 19. Jh. wuchs die Zahl der Blesener Juden ständig. Im Jahr 1816 waren es 84 Personen, was 11% aller Einwohner ausmachte. Im Jahr 1840 waren es bereits 112 Menschen und 1843 erreichte die Gemeinde ihren Höhepunkt mit 122 Personen.

An der Spitze der Gemeinde stand ein Vorstand, der aus ihrer Mitte gewählt wurde. Im Jahr 1848 bestand er aus den Kaufleuten Joseph Herz Cohn, Abraham Gerson und Aaron Hirschloff. Stellvertreter waren die beiden Pferdehändler Levin und Solomon Schlesinger. In religiösen Angelegenheiten besaß Rabbiner Simon Silberstein von 1834 bis mindestens 1850 die Leitung. In den erhaltenen Dokumenten dominieren die Familien mit den Nachnamen Cohn, Dosmar, Gerson, Gurau, Hirsch, Hirschloff, Leib, Schneider, Schlesinger, Seeligsohn, Segall, Silberstein, Steinbach und Wolf.

Die Mitglieder der Gemeinde lebten nicht nur in Blesen, sondern auch in den umliegenden Dörfern, wie Oscht [heute Osiecko], Tempel [heute Templewo], Seeren [heute Zarzyń], Liebenau [heute Lubrza], Langenpfuhl [heute Wielowieś], Falkenwalde [heute Sokola Dąbrowa], Neuendorf [heute Nowa Wieś] und Möstchen [heute Mostki]. Es waren meistens einzelne Familien, die vom Dienst bei den einheimischen Bauern lebten.

Nach 1850 und der Aufhebung der letzten Beschränkungen für Bewegungs- und Berufsfreiheit gab es eine allgemeine Welle der jüdischen Auswanderung in die großen deutschen Städte, vor allem nach Berlin. Juden besaßen dort bessere Verdienstmöglichkeiten und genossen größere Freiheit. Im Jahr 1871 lebten noch 23 Juden in Blesen und 1905 waren es nur noch 13. Dies führte 1884 zur Auflösung der Gemeinde und dem administrativen Anschluss der wenigen verbliebenen Anhänger des Judentums an die jüdische Gemeinde in Schwerin a.W. Im Jahr 1920 lebten nur noch sieben Juden in Blesen, deswegen wurde 1923 die schon lange nicht mehr genutzte Synagoge an den Blesener Kaufmann Bruno Pade verkauft. Gleich danach wurde das Gebäude abgerissen.

An seine Stelle baute Bruno Pade 1924 ein bis heute bestehendes Zweifamilienhaus. Im Erdgeschoss des neuen Hauses richtete er einen Kolonialwarenladen ein. Als er im Jahr 1936 nicht mehr in der Lage war, seine Kredite zurückzuzahlen, verkaufte er es 1937 an Franz May, der bis 1945 Besitzer von Haus und Geschäft blieb.

Nach dem Ersten Weltkrieg lebten in Blesen nur zwei jüdische Familien. Dies waren die Familien Gurau und Dosmar. Beide besaßen Häuser in der Klosterstraße. Seit 1877 wohnte Familie Dosmar in der Nr. 64 [heute ul. Sportowa 17]. Das Oberhaupt der Familie, David Dosmar, wurde 1846 in Wielichowo bei Grätz [heute Wielichowo bei Grodzisk Wlkp.] geboren. Im Jahr 1877 heiratete er Hulda Gerson in Blesen, die Tochter des Gastwirts Abraham Gerson; die Dosmars hatten sechs Kinder. Ihr Schicksal war typisch für das Schicksal jüdischer Bürger in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jh. Im Jahr 1910 verkaufte David Dosmar das Haus in der Klosterstraße 64 an den Metzger Ernst Münchberg, behielt aber das Recht, in der Wohnung im ersten Stock bis zu seinem Tod zu leben. Nachdem ihre Eltern gestorben waren – Hulda starb 1919 und David 1926 – blieben die zwei unverheirateten Töchter Frieda, geboren 1881, und Rossa, geboren 1887, noch in der Wohnung bis November 1938. Nach der Reichspogromnacht (9./10. November 1938) und den Belästigungen, die sie seither durch die Gestapo erfahren haben, verließen sie Blesen des Nachts ohne sich von der befreundeten Familie Münchberg zu verabschieden. Über das Schicksal von Rossa Dosmar ist nichts bekannt. Frieda Dosmar ging dagegen nach Bremen und lebte bei dem auch aus Blesen stammenden Louis Gurau und seiner Schwester Margarete Gurau. Im Mai 1939 zog sie in das jüdische Altenheim. Von dort wurde Frieda Dosmar am 23. Juli 1942 zusammen mit anderen Bewohnern in das Ghetto Theresienstadt deportiert und starb dort am 23. November 1942.

Hirsch Gurau kam in den 1830er Jahren aus Guhrau bei Lissa [heute Góra bei Leszno] und gründete die am längsten in der Stadt wohnende jüdische Familie. Sie besaß ein großes Haus in der Klosterstraße 14 [heute ul. Sportowa 14] und war ursprünglich im Getreidehandel tätig. Im Laufe der Zeit dehnte sich ihr Handel auf weitere landwirtschaftliche Güter sowie auf Kolonialwaren aus. Das letzte Familienoberhaupt war Siegfried Gurau, der 1894 seine Cousine Henriette Gurau heiratete. Das Paar hatte vier Kinder, von denen zwei bereits früh verstarben. Von den Überlebenden emigrierte Heinrich, geboren 1899, 1935 nach Brasilien. Seine zwei Jahre ältere Schwester Charlotte heiratete 1922 David Lewinski und lebte in Deutsch Krone [heute Wałcz]. Siegfried und seine Familie waren in Blesen beliebt und respektiert. Dies wirkte sich positiv auf seine Geschäfte aus, so dass die lokalen Bauern in Siegfried nicht nur einen Geschäftspartner, sondern auch einen Kumpanen und Vertrauten sahen. Seine Tochter Charlotte erinnerte sich: „Abends kamen sie häufig in seinen Laden, um die Neuigkeiten des Tages zu besprechen, während Siegfried ihnen ein Glas von seinem besten Schnaps ausschenkte.“
Als nach der Machtübernahme Hitlers im Jahr 1933 die antisemitische Kampagne begann, hatte diese auf Familie Gurau anfänglich keinen Einfluss. Den freundlichen Siegfried Gurau mit seinen blonden Haaren und dem roten Bart assoziierte man nicht mit dem durch die Nazi-Propaganda überhaupt erst geschaffenen Bild eines blutrünstigen Juden. Die Situation erlag jedoch einer allmählichen Veränderung. Mehr und mehr suchten die Bauern der Umgebung nach anderen, „arischen“ Unternehmern, da sie befürchteten, dass ihre Familien und Unternehmen leiden würden, wenn sie weiterhin Beziehungen zu bekannten Juden unterhielten. Familie Gurau spürte immer schmerzhafter die feindselige Atmosphäre. Alte Bekannte und Freunde unterhielten nur gelegentlich Kontakt zu ihnen. Das hatte einen starken Einfluss auf Siegfrieds Geschäft, so dass es Mitte der 1930er Jahre kaum noch Gewinn brachte.

Noch 1925, nach der Scheidung von David Lewinski, kehrte Charlotte Lewinski mit ihrer Tochter Ellen von Deutsch Krone nach Blesen zurück. Die blonde Ellen war hier das einzige jüdische Kind. Sie besuchte zuerst einen katholischen Kindergarten und dann dieselbe evangelische Volksschule, auf die ihre Mutter und ihr Großvater einst gingen. Nach 1933 erreichte auch sie die Verfolgung. Mitschüler riefen ihr höhnisch nach: „Judenmädchen, du hast hier nichts zu suchen! Geh nach Palästina!“

1936 musste der örtliche Lehrer Conrad in ihrer Gegenwart Rassentheorien lehren. Unglücklich darüber, drängte er Ellens Mutter dazu, die Dreizehnjährige von der Schule zu nehmen, um ihr weitere Demütigungen zu ersparen. Charlotte schaffte es, die Tochter in einem Internat in der Nähe von Berlin unterzubringen. Leider zwang die schwierige finanzielle Situation die Familie nach sechs Monaten, Ellen zurück nach Blesen zu nehmen. Im selben Jahr starb Siegfrieds Frau Henriette Gurau, die depressiv und an der sie umgebenden Realität zerbrochen und krank geworden war. Im Jahr 1937 verschärfte sich die Situation noch. Die lokale Gestapo plünderte das Haus der Guraus und nahm alle wertvollen Dinge mit. Als der jüngere Sohn Siegfrieds, Heinz, davon erfuhr, kam er aus Brasilien nach Blesen, um seine Familie zur Auswanderung zu überreden, solange man noch ein Visum bekommen konnte.

„‘Es wird furchtbar werden‘, warnte er. ‘Ihr werdet hier nicht sicher sein. Hitler wird uns Juden das Leben unmöglich machen, oder uns umbringen, oder beides.‘ Großvater Gurau, der damals bereits auf die siebzig zuging, wollte davon nichts hören. ‘Ich bin jetzt ein alter Mann‘, sagte er. ‘Wohin sollte ein alter Mann wie ich gehen? Was soll ich in einem Land anfangen, dessen Sprache ich nicht spreche? Mein Geschäft ist hier. Meine Freunde sind hier. Wir bleiben.‘“

Heinz kehrte enttäuscht nach Brasilien zurück. [Er starb 1970 in Friburgo, Brasilien] Er blieb jedoch weiter aktiv, um seine ältere Schwester Charlotte und ihre Tochter Ellen zu retten. Er fand sogar einen Zigarettenhersteller, der bereit war, Charlotte zu heiraten. Aber sie erinnerte sich an ihre erste erfolglose Ehe, weshalb sie immer wieder antwortete: „Ich war einmal verheiratet, und das reicht! Nichts wird mich dazu bringen, noch einmal zu heiraten. Mein Platz ist hier bei meinen Eltern, um die ich mich kümmern muss.“

Ein Jahr später, während der Reichspogromnacht, wurde Siegfried Gurau verhaftet und im Gefängnis von Blesen in der Neuen Straße [ul. Nowa] eingesperrt. Ein lokaler Wächter, der ihn kannte und respektierte, tat es ausdrücklich auf Befehl seines Vorgesetzten. Er fühlte sich hierbei aber so unglücklich, dass er befahl, Siegfrieds Bett in die Zelle zu bringen. Er bat Charlotte auch, für ihren Vater selbst gekochtes Essen von zu Hause zu bringen. Nach einigen Tagen wurde Siegfried aus der Haft entlassen. Er durchlebte jedoch alles unter großen Schmerzen und erkrankte Anfang Dezember an einer schweren Lungenentzündung. Er wurde ins Johanniter-Krankenhaus in Schwerin a.W. eingeliefert, wo er am 4. Januar 1939 starb. In seinen letzten Momenten begleiteten ihn seine Tochter und Enkelin.
Die Beerdigung von Siegfried Gurau war die letzte jüdische Beerdigung in Blesen. Daran nahm auch Bruno Pade Junior teil, der Sohn von Bruno Pade, der 1923 die Synagoge von der Jüdischen Gemeinde gekauft hatte. Er war damals ein zehnjähriger Junge und überlieferte dazu den folgenden Bericht: „Als wir im Januar 1939 vom Tod des von uns so respektierten Kaufmanns Siegfried Gurau hörten, beschloss unsere Familie, an der Beerdigung, die auf dem jüdischen Friedhof nicht weit von der Mühle der Familie Peters stattfand, teilzunehmen. Siegfried Gurau war in Blesen ein von allen angesehener Mann. Das führte dazu, dass viele Blesener ihn auf seinem letzten Weg trotz der Tatsache begleiten wollten, dass dies den vorherrschenden politischen Überzeugungen entgegenstand.

Es war ein kalter, aber schöner Tag, als sich die Räder des Leichenwagens auf der langen, sandigen Straße zum Friedhof abmühten. Die Trauernden folgten ihm. Dieses Ereignis meiner Kindheit ist in meinem Gedächtnis so tief eingebrannt, dass ich, als ich nach 45 Jahren zum ersten Mal Blesen besuchte, zu dieser alten jüdischen Begräbnisstätte ging. Die einst mächtige Friedhofsmauer und das schmiedeeiserne Tor waren weg. Mehrere Grabsteine, darunter auch die der Familie Gurau, erinnern im dichten Gebüsch noch heute an die ehemaligen jüdischen Mitbewohner.“

Nach dem Tod ihres Vaters wollten Charlotte Lewinski und ihre Tochter Ellen nicht in Blesen bleiben. Gezwungen durch die Situation verkaufte Charlotte das Haus und den Laden ihres Vaters für 20 % ihres Wertes und im Mai 1939 siedelten beide nach Berlin über. Bei ihrer Abreise nahmen sie Reste ihres Eigentums mit, darunter zwei Klappbetten, einen Orientteppich, ein Meißener Kaffeeservice und Koffer mit Kleidung.

Damit endete die 140-jährige Präsenz der Juden in Blesen und der örtliche Leiter der NSDAP konnte stolz sein, seinen Vorgesetzten zu berichten, dass Blesen nun judenfrei sei.

Das Schicksal der letzten jüdischen Frauen aus Blesen fand jedoch zum Glück eine Fortsetzung. Charlotte und Ellen ließen sich bei Tante Johanna Kroner, der jüngeren Schwester von Siegfried Gurau, nieder. Während Charlotte versuchte, durch verschiedene Botschaften ein Einreisevisum zu erhalten, begann Ellen eine Ausbildung zur Schneiderin. Im Jahr 1939 traf sie bei einer Familienfeier auf ihren späteren Mann Erich Arndt und verbrachte seither jede freie Minute mit ihm. Es waren leider nicht viele, weil Juden, darunter auch Erich, Ellen und Charlotte, zur Zwangsarbeit in Fabriken gezwungen wurden. Bereits am 5. November 1941 begannen die ersten Deportationen der Berliner Juden nach Osten. Am 14. November 1941 traf dies ebenfalls den in Berlin lebenden Vater von Ellen und Ex-Ehemann von Charlotte, David Lewinski [Deportation nach Minsk und dort sofort erschossen]. Ein ähnliches Schicksal ereilte auch Tante Johanna Kroner, geb. Gurau, die am 15. August 1942 gen Osten nach Riga deportiert und dort ermordet wurde [laut Liste des 18. Transports aus Berlin].

Diese Erfahrungen führten dazu, dass Charlotte und Ellen Lewinski, Erich Arndt und mehrere Mitglieder seiner Familie beschlossen, sich zur Rettung ihres Lebens zu verstecken. Über ihre abenteuerliche Geschichte und Erfahrungen im Berliner Untergrund schrieb die amerikanische Schriftstellerin Barbara Lovenheim in ihrem Buch „Überleben im Verborgenen. Sieben Juden in Berlin“, das 2002 im Siedler Verlag in Berlin erschien.

Alle sieben Personen überlebten unter dramatischen Umständen zweieinhalb Jahre im Untergrund. Im Jahr 1946 heirateten Ellen Lewinski und Erich Arndt. Sie wanderten zusammen mit seiner Mutter und den anderen Juden des Verstecks in die USA aus. Charlotte Lewinski starb 1968, und ihre Tochter Ellen Arndt 2006. Ellen und ihr Ehemann sowie die anderen Überlebenden der Sieben wurden 2002 mit der Verdienstmedaille des Landes Berlin für den tapferen Kampf ums Überleben unter dem Naziregime ausgezeichnet. Weder sie noch ihre Mutter entschieden sich, nach dem Krieg nach Blesen zu kommen.

Andrzej Kirmiel

 

Quellen und Literatur

Archiv ITS Arolsen, Nr. 37/1957.
Archiv ITS Arolsen, Nr. 2151.
GStA PK, II. HA, VI Blesen, Nr. 116.
GStA PK, XVI. HA, Rep. 32, Nr. 226.
GStA PK, XVI. HA, Rep. 32, Nr. 227.
GStA PK, XVI. HA, Rep. 32, Nr. 5237.
Staatsarchiv Gorzów Wlkp., Katasteramt Skwiezyna, sygn. 4.

Privileg De non tolerandis Judeais.
Brief von Hubert Petzelt an A. Kirmiel vom 30. August 2011.
Privatarchiv Hubert Petzelt.

 

Maciej Borkowski, Andrzej Kirmiel, Tamara Włodarczyk: Śladami Żydów. Dolny Śląsk, Opolszczyzna, Ziemia Lubuska, Warszawa 2008.

Aaron Heppner, Isaak Herzberg: Aus Vergangenheit und Gegenwart der Juden und der jüdischen Gemeinden in den Posener Landen, Bromberg 1909, S. 303.

Hubert Petzelt: Der Judenfriedhof in Blesen, in: Unser Heimatkreis Schwerin/W, (121) 2010, S. 18-20.

Erich Keyser (Hrsg.): Deutsches Städtebuch, T. 1, Stuttgart 1939, S. 506-507.

Andrzej Kirmiel: Trzemeszniańscy Żydzi, Gorzów Wlkp. 2010.

Barbara Lovenheim: Überleben im Verborgenen. Sieben Juden in Berlin, Berlin 2002.