Geschichte der Jüdischen Gemeinde in Sternberg (Torzym)
Sternberg war für Christen wie Juden wenig attraktiv. Einzig der Handel mit Vieh bestimmte die bescheidene städtische Wirtschaft. Einige Rittergüter mit Vorwerken hatten sich auf Viehzucht spezialisiert und betrieben am direkt anliegenden Eilangsee drei Mühlen. Im Jahr 1804 lebte eine fünfköpfige jüdische Familie im 750-Seelen-Ort, nimmt man die überlieferte Zahl zur Grundlage. In der Sternberger Region gab es immerhin 104 Juden.
Bemerkenswerterweise erbaute 1834 mit Karl Friedrich Schinkel einer der bedeutendsten Architekten in Preußen eine neue Stadtkirche im klassizistischen Stil, nachdem die alte Kirche zehn Jahre zuvor bei einem Brand zerstört worden war. Diese architektonische Aufwertung der Stadt Sternberg mag dazu beigetragen haben, dass ihre Einwohnerzahl allmählich zunahm und auch Juden anlockte.
Wie Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof belegen, lebten um 1850 einige jüdische Familien in Sternberg, der in den folgenden Jahren weitere folgten. Ob sie im Viehhandel unterwegs waren oder einem anderen Gewerbe nachgingen, ist nicht bekannt. Die Jüdische Gemeinde hatte sich aber ihren Friedhof am nördlichen Stadtrand angelegt, besaß eine Schule und eine Schlächterei. Vom Grabstein der 1869 gestorbenen Esther Löwenthal Bibo ist zu erfahren, dass sie mit dem Lehrer Aharon Bibo verheiratet gewesen ist. Dem Wirtualny Stetl zufolge wirkte als Lehrer ein Abraham und als Schächter ein Bibo – Oder wurden beide Funktionen durch eine Person ausgeübt? Möglich wäre es. Denn die Gemeinde war sehr klein, besaß offenbar noch nicht einmal eine Synagoge für gemeinsame Gottesdienste. Im Jahr 1895 lebten in Sternberg unter den 1.600 Einwohnern gerade einmal 24 Juden, also fünf bis sechs Familien.
Die malerische Lage am Eilangsee und die Anbindung von Sternberg an das Eisenbahnstrecke Frankfurt (Oder) – Posen (heute: Poznań) trugen nicht zu einem wesentlichen Aufschwung des Ortes bei. Erst nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich Sternberg zu einem beliebten Naherholungsgebiet. Auf eine Attraktivität für Juden hatte das aber offenbar keine Auswirkung, denn 1925 lebten hier nur noch 14 Glaubensgenossen. Dann erschöpft sich die Überlieferung. Im „Führer durch die Jüdische Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege“ aus dem Jahr 1932 fehlt ein Eintrag zu Sternberg. Die Jüdische Gemeinde zu Sternberg hatte sich also aufgelöst. Allerdings ist möglich, dass noch einzelne Juden im Ort gelegt haben.
Zwischen 1940 und 1942 befand sich in Sternberg ein Zwangsarbeiterlager, in dem durchschnittlich 300 Juden aus dem Ghetto Litzmannstadt (heute: Łodz) zum Bau der Reichs-Autobahn von Frankfurt (Oder) nach Posen eingesetzt wurden. Die unter den unmenschlichen Bedingungen Gestorbenen wurden auf dem gegenüberliegenden jüdischen Friedhof beerdigt.
Anke Geißler-Grünberg
Literatur und Internet
Klaus-Dieter Alicke: Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum. Frankfurt (Oder), URL: www.jüdische-gemeinden.de/index.php/gemeinden/e-g/638-frankfurt-oder-brandenburg (29.11.2021)
Matthias Diefenbach / Michał Maćkowiak: Zwangsarbeit und Autobahn zwischen Frankfurt (Oder) und Poznań 1940–1945. Die nationalsozialistischen Arbeitslager entlang der Reichsautobahnbaustelle für Juden, sowjetische Kriegsgefangene, Polizeihäftlinge und andere Zwangsarbeiter, Frankfurt (Oder) / Poznań 2017, S. 70.
Ingrid Harks-Hanke: Schinkelbauten diesseits und jenseits der Oder. Aquarelle, URL: www.fu-berlin.de/sites/ub/ueber-uns/ausstellung/archiv/infobl_schinkel.pdf (29.11.2021)
F. Wilhelm Riehl / J. Scheu (Hrsg.): Berlin und die Mark Brandenburg mit dem Markgrafthum Nieder-Lausitz in ihrer Geschichte und in ihrem gegenwärtigen Bestande. Nach amtl. u. anderen Mittheilungen, Berlin 1861, S. 494f.
Szkoła Podstawowa im. Bohaterów Westerplatte w Torzymiu: Wspominajmy Tych, których nie ma między nami i oddajmy im cześć, URL: szkolatorzym.edupage.org/news/ (29.11.2021)
Wirtualny Sztetl: Torzym, URL: sztetl.org.pl/pl/miejscowosci/t/626-torzym (29.11.2021)
Zentralwohlfahrtsstelle der Deutschen Juden (Hrsg.): Führer durch die Jüdische Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege in Deutschland 1932-1933, Berlin 1933.