Gutachterlicher Lösungsvorschlag
Strafbarkeit des V gem. §§ 212 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB
V könnte sich wegen Totschlags durch Unterlassen gem. §§ 212 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB strafbar gemacht haben, indem er tatenlos dabei zugesehen hat, wie sein Sohn S ertrinkt.
I. Tatbestandsmäßigkeit
V müsste tatbestandsmäßig gehandelt haben.
1. Objektiver Tatbestand
a) Eintritt eines tatbestandlichen Erfolges
Der tatbestandliche Erfolg eines Totschlags ist gem. § 212 Abs. 1 StGB der Tod eines anderen Menschen. Hier ist S ertrunken, so dass sein Tod und damit der Erfolg eingetreten sind.
b) Nichtvornahme einer gebotenen Handlung trotz physisch-realer Handlungsmöglichkeit
Ferner müsste V eine objektiv gebotene Handlung unterlassen haben, welche den Tod abgewendet hätte. Objektiv gebotene Handlungen sind hier z.B. selbst ins Wasser zu springen oder das Aus-dem-See-Ziehen vom Steg aus. V hat jedoch keine dieser Handlungen vorge-nommen.
Diese Handlung müsste für V auch physisch-real und individuell möglich gewesen sein. Die Möglichkeit zum Handeln würde etwa fehlen, wenn sich die Person an einem anderen Ort befindet oder selbst Nichtschwimmer ist. Hier war V jedoch vor Ort am Steg und ist auch selbst ein guter Schwimmer. Andere Gründe, die gegen eine Handlungsmöglichkeit sprechen sind nicht ersichtlich. Die gebotene Handlung war für V somit physisch-real und individuell möglich.
c) Quasi-Kausalität
Darüber hinaus müsste das Unterlassen der gebotenen Handlung durch V ursächlich für den Tod des S sein. Kausal ist die rechtlich erwartete Handlung, wenn sie nicht hinzugedacht werden kann, ohne dass der Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entfiele. Denkt man sich hinzu, dass der V als guter Schwimmer ins Wasser gesprungen wäre und seinen Sohn aus dem See geholt hätte, wäre der Tod des S mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in dieser konkreten Form nicht eingetreten. Mithin war das Unterlassen der gebotenen Handlung durch V kausal für den Tod des S.
d) Garantenstellung
Zudem müsste V eine Garantenstellung innehaben. Gem. § 13 Abs. 1 StGB macht sich wegen Unterlassens nur strafbar, wer rechtlich auch dafür einzustehen hat, dass der tatbestandliche Erfolg nicht eintritt. Nach der sog. Funktionenlehre lassen sich die Garantenstellungen auf zwei Grundpositionen zurückführen und es ist zwischen Beschützergaranten und Überwachungsgaranten zu unterscheiden. Hier kommt eine Stellung des V als Beschützergarant in Betracht. Beschützergaranten sind dazu verpflichtet ein bestimmtes Rechtsgut gegen von außen kommende Gefahren zu schützen. In diesem Fall ergibt sich die Garantenstellung aufgrund der familiären Verbundenheit zwischen V und S. V muss als Vater das Leben seines Sohnes vor Gefahren schützen. Dies folgt ferner aus § 1626 Abs. 1 BGB. Demnach haben El-tern die Pflicht und das Recht, für das minderjährige Kind zu sorgen (elterliche Sorge). Die elterliche Sorge umfasst u.a. die Sorge für die Person des Kindes (Personensorge), vgl. § 1626 Abs. 1 S. 2 BGB. Im Ergebnis war V damit Beschützergarant.
e) Entsprechungsklausel
Beim Totschlag gem. § 212 Abs. 1 StGB handelt es sich um ein reines Erfolgsdelikt, ohne dass eine besondere Begehungsweise vorausgesetzt wird. Die Gleichwertigkeit von Tun und Unterlassen gem. § 13 Abs. 1 StGB liegt vor.
2. Subjektiver Tatbestand
Auf subjektiver Ebene müsste V mit Vorsatz gehandelt haben. Der Vorsatz muss sich auf alle objektiven Tatbestandsmerkmale, einschließlich der Garantenstellung, beziehen. V sieht und erkennt, dass sein Sohn ins Wasser gefallen ist und er weiß, dass S noch nicht schwimmen kann. Ebenfalls ist V sich darüber bewusst, dass er als Vater dafür sorgen muss, dass sein Kind nicht ertrinkt. V handelte mithin vorsätzlich.
3. Zwischenergebnis
V handelte sowohl objektiv als auch subjektiv tatbestandsmäßig.
II. Rechtswidrigkeit
Rechtfertigungsgründe zugunsten des V sind nicht ersichtlich. Er handelte rechtswidrig.
III. Schuld
Anhaltspunkte für ein Entfallen der Schuld sind ebenfalls nicht erkennbar.
IV. Ergebnis
Im Ergebnis hat V sich wegen Totschlags durch Unterlassen gem. §§ 212 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB strafbar gemacht.