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Aufbau des vorsätzlichen, vollendeten Unterlassungsdelikts


A. Einleitung

Klassischerweise begeht eine Person eine Straftat, indem sie etwas (aktiv) tut. So zum Beispiel, wenn ein Nichtschwimmer mit Tötungsvorsatz ins Wasser gestoßen wird. Davon ist zu unterscheiden, wenn tatenslos zugesehen wird wie eine andere Person ertrinkt. In dieser Situation hat der Täter eine erforderliche Rettungshandlung unterlassen. Auch ein solches Verhalten kann unter Strafe gestellt sein. Der folgende Beitrag soll einen Überblick über die Strafbarkeit wegen Unterlassen geben.



B. Überblick zur Unterlassungssstrafbarkeit

Die meisten Tatbestände im StGB sind so formuliert, als seien sie lediglich durch aktives Tun zu verwirklichen. Jedoch kann ein Täter den jeweiligen Tatbestand ebenso verwirklichen, indem er es pflichtwidrig unterlässt den tatbestandlichen Erfolg abzuwenden. Bei solchen Unterlassungsdelikten führt gerade das Nicht-Handeln zu einer Strafbarkeit des Täters.

 

I. Echtes und unechtes Unterlassungsdelikt

Innerhalb der Unterlassungsdelikte wird zwischen den echten Unterlassungsdelikten und den unechten Unterlassungsdelikten unterschieden:
Echte Unterlassungsdelikte sind solche, bei denen das Gesetz eine bestimmte Handlung fordert und der Täter gerade dieses geforderte Verhalten unterlässt. Das bekannteste Beispiel ist wohl die Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung gem. § 323c Abs. 1 StGB. Demnach macht sich strafbar, wer in einer bestimmten Gefahrenlage nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und der Person den Umständen nach auch zuzumuten ist. Hier steht das Unterlassen explizit im gesetzlichen Tatbestand („wer nicht Hilfe leistet“ = Unterlassen), sodass es sich bei § 323c StGB um ein echtes Unterlassungsdelikt handelt.
Unechte Unterlassungsdelikte sind solche, bei denen unter den Voraussetzungen des § 13 StGB ein Begehungsdelikt in ein unechtes Unterlassungsdelikt umfunktioniert wird. Grundsätzlich können also alle Straftatbestände durch Unterlassen verwirklicht werden.

Beispiel

Damit sich jemand wegen eines unechten Unterlassungsdeliktes strafbar machen kann, müssen jedoch die Voraussetzungen des § 13 Abs. 1 StGB erfüllt sein. Die einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen werden im Folgenden noch genauer erläutert.

 

C. Prüfungsreihenfolge

I. Tatbestand

Gem. § 13 Abs. 1 StGB macht sich strafbar, wer es unterlässt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört. Dies gilt nach dem Wortlaut der Norm aber nur, wenn die Person rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt und wenn das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entspricht. Neben den allgemeinen Tatbestandsmerkmalen des jeweiligen Straftatbestandes müssen für die Strafbarkeit wegen Unterlassens also noch besondere Voraussetzungen erfüllt sein.

 

1. Eintritt des tatbestandlichen Erfolges

Zunächst ist es – wie auch bei einem Delikt durch aktives Tun – erforderlich, dass ein tatbestandlicher Erfolg eingetreten ist. Beispiele sind der Tod eines anderen Menschen bei einem Totschlag gem. § 212 Abs. 1 StGB sowie die körperliche Misshandlung oder Gesundheitsschädigung bei der Körperverletzung gem. § 223 Abs. 1 StGB.

 

2. Unterlassung einer Verhinderungshandlung trotz physisch-realer Handlungsmöglichkeit

Ferner muss der Täter in der konkreten Gefahrenlage eine erforderliche Rettungs- oder Verhinderungshandlung unterlassen haben. Diese Handlung muss der Person jedoch individuell und physisch-real möglich sein. Das bedeutet, dass alle Handlungen nicht erfasst sind, die der Täter etwa wegen der räumlichen Entfernung oder mangels persönlicher Fähigkeiten nicht vornehmen kann.

Beispiel

 

3. Quasi-Kausalität und objektive Zurechnung

Ebenso wie bei den Begehungsdelikten ist es auch bei den unechten Unterlassungsdelikten erforderlich, dass der Täter durch seine Handlung (hier das Unterlassen) den tatbestandsmäßigen Erfolg in seiner konkreten Gestalt verursacht. Bei den Unterlassungskonstellationen muss die conditio-sine-qua-non-Formel jedoch abgewandelt werden: Es ist zu fragen, ob die rechtlich geforderte Handlung nicht hinzugedacht werden kann, ohne dass der tatbestandsmäßige Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entfiele.

Beispiel

Durch den Zusatz „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ zeigt sich, dass es sich bloß um eine hypothetische Kausalität handelt. Es lässt sich also nicht mit Gewissheit sagen, ob der Erfolg tatsächlich bei Vornahme einer entsprechenden Handlung ausgeblieben wäre. Ist es zweifelhaft oder erscheint es auch nur „möglich“, dass eine bestimmte Handlung den Erfolgseintritt verhindert hätte, muss dem Täter nach dem „in dubio pro reo“ – Grundsatz der für ihn günstigere Kausalverlauf unterstellt und daher die hypothetische Kausalität verneint werden.

Zusätzlich muss dem Täter der tatbestandliche Erfolg objektiv zurechenbar sein. Dabei sind die für die Begehungsdelikte geltenden Grundsätze auf die Unterlassungsdelikte übertragbar. Für die Unterlassungsdelikte lautet die Grundformel wie folgt: Im Erfolg muss sich die Gefahr realisieren, die der Täter durch die pflichtwidrige Unterlassung der gebotenen Rettungshandlung geschaffen hat.

 

4. Garantenstellung

Gem. § 13 Abs. 1 StGB macht sich eine Person wegen Unterlassens nur dann strafbar, wenn sie rechtlich dafür einzustehen hat, dass der tatbestandliche Erfolg nicht eintritt. Damit wird die Notwendigkeit einer sog. Garantenstellung beschrieben. Diese stellt das entscheidende Merkmal für die unechten Unterlassungsdelikte dar. Von der Garantenstellung kann abhängig sein, ob sich jemand wegen Mordes durch Unterlassen oder „nur“ wegen unterlassener Hilfeleistung gem. § 323c Abs. 1 StGB strafbar gemacht hat. Durch das Erfordernis einer Garantenstellung werden die unechten Unterlassungsdelikte zu sog. Sonderdelikten. Ein Sonderdelikt ist ein Straftatbestand, welcher nur durch einen Täter verwirklicht werden kann, der eine bestimmte Eigenschaft aufweist (in diesem Fall eben die Garantenstellung).


Entscheidend für die Entstehung einer Garantenposition ist deren soziale Funktion (sog. Funktionenlehre). Demnach lassen sich alle Garantenpflichten auf zwei Grundtypen zurückführen, die sich durch ihre jeweiligen Aufgabenbereiche unterscheiden: Es gibt den sog. Beschützergaranten und den sog. Überwachungsgaranten.


Dem Beschützergaranten obliegen besondere Obhutspflichten für ein bestimmtes Rechtsgut, das er gegen von außen kommende Gefahren beschützen muss. Eine solche Beschützergarantenstellung ergibt sich zum einen aufgrund familiärer Verbundenheit. Das bedeutet, dass z.B. bei Eltern gegenüber ihrem Kind, bei Geschwistern untereinander und auch zwischen Ehegatten eine Garantenstellung begründet wird. Eine derartige Garantenstellung kann sich auch aus engen persönlichen Lebensbeziehungen ergeben, bei denen das Näheverhältnis mit einer familiären Verbundenheit vergleichbar ist. Darunter fallen z.B. langjährige Lebens- und Hausgemeinschaften sowie auf Dauer angelegte Partnerschaften. Ebenfalls Beschützergaranten sind Mitglieder einer speziellen Gefahrengemeinschaft (z.B. eine Bergsteigergemeinschaft), die sich zusammengetan und gegenseitig versprochen haben, mögliche Gefahren voneinander abzuwenden. Ferner lässt sich die Beschützergarantenstellung aufgrund eines Vertrags bzw. konkreter aufgrund tatsächlicher Übernahme erwähnen. Denn in diesen Fällen kommt es nicht auf die auf die Wirksamkeit des Vertrags an, sondern allein auf die faktische Übernahme der Pflicht (z.B. Babysitter).


Dagegen treffen den Überwachungsgaranten besondere Sicherungspflichten für eine bestimmte Gefahrenquelle. Er hat dafür zu sorgen, dass sich die Gefahren, die von der Quelle ausgehen, nicht ausbreiten und andere schädigen. Eine solche Überwachungsgarantenstellung kann aus einem vorangegangenen gefährlichen Tun entstehen, sog. Ingerenz. Wer durch vorheriges Verhalten die Gefahr für den Eintritt eines Schadens geschaffen hat, muss die drohenden Schäden verhindern (z.B. ein Autofahrer, der aufgrund eines fahrlässig verursachten Unfalls einen Fußgänger verletzt). Die Garantenstellung kann sich ferner aus Verkehrssicherungspflichten ergeben. Danach ist handlungspflichtig, wer die Verantwortung für bestimmte Gefahrenquellen hat, die in den eigenen Zuständigkeitsbereich fallen (z.B. als Eigentümer von Sachen, Maschinen oder Tieren). Drittens wird zum Überwachungsgaranten, wer für das Verhalten Dritter verantwortlich ist und diese beaufsichtigen muss (z.B. Eltern bzgl. ihrer Kinder; Lehrer bzgl. ihrer Schüler).

 

5. Entsprechungsklausel

Nach dem Wortlaut des § 13 Abs. 1 StGB gehört es zu den Voraussetzungen einer Strafbarkeit, dass das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entspricht. Damit wird die sog. Entsprechungsklausel umschrieben. Bei reinen Erfolgsdelikten (z.B. Totschlag gem. § 212 StGB, Körperverletzung gem. § 223 StGB oder Sachbeschädigung gem. § 303 StGB) liegt die Gleichwertigkeit von Tun und Unterlassen vor. Eigenständige Bedeutung kommt diesem Tatbestandsmerkmal nur bei sog. verhaltensgebundenen Delikten zu, bei denen der Erfolg in einer bestimmten Art und Weise herbeigeführt werden muss (z.B. Mord gem. § 211 StGB bzgl. der tatbezogenen Mordmerkmale).

 

6. Vorsatz

Beim Unterlassen ist es auf subjektiver Tatbestandsebene erforderlich, dass der Täter mit Vorsatz handelt. Der Vorsatz muss sich auf alle objektiven Tatbestandsmerkmale, insbesondere auch die Garantenstellung, erstrecken. Soweit beim Begehungsdelikt dolus eventualis ausreichend ist, gilt das auch für das Unterlassen.

 

II. Rechtswidrigkeit: Die rechtfertigende Pflichtenkollision

Auch bei der Unterlassungskonstellation besteht die Möglichkeit, dass der Täter gerechtfertigt und deshalb nicht strafbar ist. Neben den allgemeinen Rechtfertigungsgründen ist beim Unterlassen insbesondere an die sog. rechtfertigende Pflichtenkollision zu denken. Diese kommt immer dann in Betracht, wenn mehrere rechtliche Handlungspflichten aufeinandertreffen und der Täter nur eine dieser beiden Pflichten erfüllen kann. Bei der Erfüllung der einen Pflicht muss er dann zwangsläufig die andere verletzen. In einer solchen Situation können entweder gleichwertige oder ungleichwertige Pflichten miteinander konkurrieren:
Bei gleichwertigen Pflichten hat der Täter die Wahl, welche der Pflichten er erfüllt. Die Verletzung der vernachlässigten Pflicht ist dann durch die Pflichtenkollision gerechtfertigt.

Beispiel

Liegen dagegen zwei ungleichwertige Pflichten vor, so hat der Täter die höherwertige Pflicht zu befolgen. Nur dann ist die Vernachlässigung der anderen (geringerwertigen) Pflicht gerechtfertigt.

Beispiel

Für die Beurteilung, ob gleich- oder ungleichwertige Pflichten vorliegen, kommt es im Wesentlichen auf die betroffenen Rechtsgüter (z.B. Leben, Gesundheit, Eigentum) und den Grad der ihnen drohenden Gefahren an. Ebenfalls maßgeblich ist, ob den Täter eine Garantenpflicht oder nur eine Hilfeleistungspflicht im Sinne von § 323c StGB trifft.

 

III. Schuld: Die Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens

Neben den allgemeinen Entschuldigungsgründen ist bei unechten Unterlassungsdelikten die Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens als besonderer Entschuldigungsgrund anerkannt. Die Pflichterfüllung ist unzumutbar, wenn der Garant durch sie eigene billigenswerte Interessen in erheblichem Umfang gefährden würde und das Gewicht der Interessen, die der Täter preisgeben soll, dem Gewicht des drohenden Erfolges entspricht. Die eigenen Interessen müssen also gegen den drohenden Erfolgseintritt im Falle einer unterlassenen Erfolgsabwendung abgewogen werden. Dabei sind sowohl die Rettungschancen als auch der Grad der drohenden Gefahren zu berücksichtigen. Unzumutbar ist z.B. das Eingehen von konkreten Lebensgefahren. Entsprechendes gilt für konkret drohende schwere Verletzungsrisiken.

 

D. Werkzeuge - Definitionen

Echtes Unterlassungsdelikt

Im Straftatbestand selbst wird eine bestimmte Handlung gefordert und der Täter macht sich strafbar, indem er eben diese Handlung unterlässt.

Unechtes Unterlassungsdelikt

Ein Begehungsdelikt wird unter den Voraussetzungen des § 13 StGB in ein unechtes Unterlassungsdelikt umgewandelt.

Quasi-Kausalität

Das Unterlassen der Handlung ist für den Erfolgseintritt kausal, wenn die rechtlich geforderte Handlung nicht hinzugedacht werden kann, ohne dass der tatbestandsmäßige Erfolg entfiele.

Objektive Zurechnung

Bei Unterlassungsdelikten muss sich im Erfolg die Gefahr realisieren, die der Täter durch die pflichtwidrige Unterlassung der gebotenen Rettungshandlung geschaffen hat.

Beschützergarant

Diesem obliegen besondere Obhutspflichten für ein bestimmtes Rechtsgut, das er gegen von außen kommende Gefahren beschützen muss.

Überwachungsgarant

Ihn treffen besondere Sicherungspflichten für eine bestimmte Gefahrenquelle und er hat dafür zu sorgen, dass sich die Gefahren, die von der Quelle ausgehen, nicht ausbreiten und andere schädigen.

 

 

E. Wiederholungsfragen

Frage 1: Was ist der Unterschied zwischen echten und unechten Unterlassungsdelikten?

Frage 2: Welche Formen der Garantenstellung unterscheidet man?

 

F. Anwendung

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Sachverhalt und Fallfrage

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