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Notwehr, § 32 StGB

A. Einleitung

Verletzt jemand vorsätzlich eine andere Person oder beschädigt er vorsätzlich eine fremde Sache, macht er sich grundsätzlich nach § 223 Abs. 1 StGB wegen Körperverletzung oder § 303 Abs. 1 StGB wegen Sachbeschädigung strafbar. Wird die Person jedoch angegriffen und beschädigt in dieser Folge eine fremde Sache oder verletzt den Angreifer, führt dies in der Regel nicht zu einer Strafbarkeit.

Werden wir angegriffen, befinden wir uns in einer sog. Notwehrlage und dürfen uns entsprechend verteidigen. Rechtlich normiert ist dieses Notwehrrecht in § 32 StGB.

Getragen wird es von zwei Grundprinzipien: Zum einen soll ein effektiver Individualschutz möglich sein (Schutzprinzip): Schon seit der Antike herrscht das anerkannte „Ur–recht“ des Menschen, sich gegen einen Angriff zur Wehr setzen zu können. Demnach soll der einzelne Mensch sich verteidigen dürfen, wenn er sich einem Angriff ausgesetzt sieht. Zum anderen geht es um eine effektive Rechtsbewährung (Rechtsbewährungsgedanke): Die Notwehr ist die stellvertretende Wahrnehmung der eigentlich dem Staat zustehenden Aufgabe der Verteidigung der Rechtsordnung. Jeder durch Notwehr abgewehrte Angriff erhält somit die Rechtsordnung.

 

B. Notwehr und Nothilfe, § 32 StGB

Derjenige der eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt gem. § 32 Abs. 1 StGB nicht rechtswidrig. Die Notwehr stellt einen Rechtfertigungsgrund dar und ist entsprechend unter dem Prüfungspunkt „Rechtswidrigkeit“ zu prüfen.

 

I. Notwehr, § 32 Abs. 2 Alt. 1 StGB

Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff abzuwenden, § 32 Abs. 2 StGB.

 

1. Notwehrlage

Zunächst muss objektiv eine Notwehrlage gegeben sein. Diese zeichnet sich durch einen gegenwärtigen und rechtswidrigen Angriff aus.

 

a) Angriff

Ein Angriff ist jedes menschliche Verhalten, dass ein rechtlich geschütztes Gut oder Interesse des Einzelnen bedroht oder verletzt. Ein schuldhaftes Angriffsverhalten wird nicht vorausgesetzt. Zudem sind von Tieren ausgehende Angriffe nicht erfasst; eine entsprechende Abwehrmaßnahme des Angegriffenen kann nicht nach § 32 Abs. 1 StGB gerechtfertigt sein. Tierische Angriffe sind von solchen menschlichen Angriffen abzugrenzen, bei denen ein Mensch ein Tier als Angriffswerkzeug einsetzt. Erstere sind nicht von § 32 Abs. 1 StGB erfasst, letztere dagegen schon.

Notwehrfähig ist jedes Gut und Interesse, dass dem Angegriffenen zusteht und rechtlich geschützt ist (z.B. Leben, Körper, Gesundheit, körperliche Freiheit, Eigentum).

Beispiel 1: Tim geht abends mit seinem Hund Max im Park spazieren. Plötzlich springt eine vermummte Gestalt aus dem Gebüsch, läuft auf Max zu und versucht ihn mit dem Messer zu verletzen. Hier liegt ein Angriff auf das Leben und den Körper von Max vor. Dieser darf sich daher zur Wehr setzen und sich verteidigen.

Beispiel 2: Der Nachbar von Tim mag seinen Hund Max nicht, da dieser sehr groß und bedrohlich aussieht. Deshalb beschließt der Nachbar, dass dem Hund gezeigt werden muss, wer der „Herr im Haus“ ist. Er nimmt ein schweres Lexikon und „nimmt die Verfolgung auf“, als Tim und Max das Haus verlassen. Der Nachbar schleicht sich von hintern heran und möchte den Hund mit dem Buch treffen. Tim bemerkt den Angriff in letzter Sekunde, schubst den Nachbarn zur Seite und verhindert so einen Angriff auf seinem Hund Max.

 

b) Gegenwärtigkeit des Angriffs

Ein Angriff muss auch gegenwärtig sein. Ein Angriff ist gegenwärtig, wenn er unmittelbar bevorsteht, gerade stattfindet oder noch fortdauert. Präventive Notwehrmaßnahmen gegen künftige, noch nicht gegenwärtige Angriffe, werden von § 32 StGB nicht erfasst.

Beispiel: Der Wirt Manfred erfährt um 22 Uhr, dass ihn drei Gäste nach Geschäftsschluss gegen ca. 1 Uhr überfallen wollen und schüttet ihnen vorsorglich K.O.-Tropfen ins Bier. Hier ist der Angriff auf den Körper in Form der körperlichen Misshandlung und der Gesundheitsschädigung durch die K.O.-Tropfen nicht gerechtfertigt, da kein gegenwärtiger Angriff durch die drei Gäste vorlag. Der Angriff sollte erst in drei Stunden stattfinden.

Ein Angriff bleibt hingegen gegenwärtig, solange dieser noch fortdauert und abgewendet werden kann.

Beispiel: Marion geht über einen Wochenmarkt spazieren und schaut nach frischem Obst und Gemüse. Plötzlich schleicht sich Peter an sie heran und versucht ihr die Handtasche zu entreißen. Marion versucht verkrampft die Tasche mit ihren Händen festzuhalten. Peter jedoch schubst Marion heftig, sodass diese das Gleichgewicht verliert, hinfällt und die Tasche nicht mehr festhalten kann. Peter flüchtet indes mit der Tasche. Marion hat sich schnell wieder gefangen und aufgerichtet und nimmt die Verfolgung des Täters auf. Nach einer ganzen Weile holt sie Peter ein, springt auf seinen Rücken und bringt ihn so zu Fall. Diese Verteidigung von Marion war gem. § 32 Abs. 1 StGB gerechtfertigt, da immer noch ein gegenwärtiger Angriff von Peter aus vorlag. Der Raub war zwar schon vollendet, die Rechtsgutsverletzung des Eigentums von Marion dauerte jedoch immer noch an und konnte dementsprechend noch abgewendet werden.

 

c) Rechtswidrigkeit des Angriffs

Der Angriff müsste zudem rechtswidrig sein.

Rechtswidrig ist ein Angriff, der objektiv im Widerspruch zur Rechtsordnung steht. Ein rechtswidriger Angriff liegt zumindest dann vor, wenn der Angreifer seinerseits nicht durch Rechtfertigungsgründe gerechtfertigt ist. Eine Notwehr gegen Notwehr ist somit nicht zulässig.

 

2. Notwehrhandlung

Wurde eine Notwehrlage bejaht, ist im zweiten Schritt zu prüfen, ob eine Notwehrhandlung vorliegt.

Die Notwehrhandlung muss sich gegen den Angreifer richten, objektiv erforderlich und normativ geboten sein.

 

a) Gerichtet gegen den Angreifer

Die Notwehrhandlung darf sich nur gegen den Angreifer und dessen Rechtsgüter richten. Rechtsgüter von unbeteiligten Dritten dürfen im Rahmen der Notwehr nach § 32 StGB nicht in Mitleidenschaft gezogen werden.

 

b) Erforderlichkeit der Notwehrhandlung

Die Notwehrhandlung ist erforderlich, wenn sie zur Angriffsabwehr geeignet ist und gleichzeitig das mildeste zur Verfügung stehende Mittel darstellt.

 

aa) Geeignetheit

Die Notwehrhandlung ist zur Angriffsabwehr geeignet, wenn die Maßnahme grundsätzlich in der Lage ist, den Angriff zu beenden, abzuschwächen oder ihn wenigstens zu erschweren. An die Geeignetheit dürfen nur sehr geringe Anforderungen gestellt werden, um auch unterlegenen Angegriffenen das Notwehrrecht nicht zu nehmen.

Beispiel: Der 2m große und 120kg schwere Arnold versucht die 1,50m kleine und zierliche Tina zu fesseln und zu knebeln. Hier liegt ein gegenwärtiger und rechtswidriger Angriff auf die (Bewegungs-)Freiheit von Tina vor. Tina versucht sich zu wehren, indem sie mit Armen und Beinen um sich schlägt. Auch wenn diese Maßnahme angesichts des Größen- und Gewichtsunterschiedes nicht zur Beendigung des Angriffs führen kann, erschwert sie zumindest den Angriff von Arnold und ist somit zur Angriffsabwehr geeignet.

 

bb) Relativ mildestes Mittel

Die Notwehrhandlung muss das relativ mildeste Mittel darstellen. Zu wählen ist immer dasjenige Mittel zur Angriffsabwehr, das den geringsten Schaden verursacht. Maßgeblich ist immer die konkrete Situation.

Beispiel: Tina wird von einem Einbrecher in ihrer Wohnung angegriffen. Als Abwehrmittel stehen der körperlich unterlegenen Tina ihr Pfefferspray sowie ein langes Küchenmesser zur Verfügung. Nach dem Gebot des relativ mildesten Mittels müsste Tina erst das Pfefferspray einsetzen, ehe sie das Messer zur Verteidigung nehmen darf, da das Pfefferspray weniger Schaden anrichten kann als ein Messer. Sollte das Pfefferspray jedoch nicht griffbereit oder leer sein, stellt das Messer das einzige Abwehrmittel dar, sodass Tina das Messer in einem solchen Fall zur Abwehr einsetzen darf.

Vorsicht ist allerdings geboten, wenn lebensgefährliche Waffen (z.B. Schusswaffen oder Messer) zur Abwehr eingesetzt werden. Die Zufügung einer tödlichen Verletzung kann zwar grundsätzlich vom Notwehrrecht gedeckt sein, muss aber stets „ultima ratio“ (lateinisch: letzte Möglichkeit) bleiben. Daher ist der Einsatz solcher Verteidigungsmittel in der Regel zunächst anzudrohen (z.B. mündliche Androhung und Warnschuss). Reicht dies nicht aus, muss der Versuch unternommen werden, weniger sensible Körperteile zu treffen (z.B. Arme oder Beine). Erst als letzten Ausweg darf ein gezielter (tödlicher) Schuss oder Stich abgegeben werden.

Zwingend sind derartige weniger gefährliche Einsatzformen aber nur, wenn sie im konkreten Fall eine so hohe Erfolgsaussicht haben, dass sie dem Angegriffenen zugemutet werden können.

Beispiel: Rennt der Angreifer auf das Opfer zu oder holt er unmittelbar vor ihm das Messer aus der Tasche, kann dem Angegriffenen nicht zugemutet werden, dass er eine tödliche Waffe erst androht. Der gezielte Schuss kann in einem solche Fall das relativ mildeste Mittel darstellen.

 

cc) Gebotenheit der Notwehrhandlung

In einigen Ausnahmefällen kann das Notwehrrecht eingeschränkt sein. Diese Einschränkungen hängen von normativen und sozialethischen Erwägungen ab. Im Wortlaut des § 32 Abs. 1 BGB wird die Möglichkeit der Einschränkung daran festgemacht, dass die Notwehr „geboten“ sein muss.

Die Einschränkungen der Gebotenheit der Notwehr können entweder zu einer Beschränkung oder dem gänzlichen Wegfall des Notwehrrechts führen. Ist ein Notwehrrecht nach normativen und sozialethischen Erwägungen einzuschränken, erfolgt dies nach der so genannten „Drei-Stufen-Theorie“: Auf der ersten Stufe hat der Angegriffene auszuweichen zu versuchen, sodass ihn der Angriff nicht trifft. Gelingt ihm dies nicht, darf der Angegriffene zur defensiven sog. Schutzwehr übergehen. Er kann z.B. die Arme schützend vor seinen Körper legen oder andere defensive Abwehrmaßnahmen einleiten. Erst als letzte Möglichkeit darf der Angegriffene zur aktiven Abwehr des Angriffs (sog. Trutzwehr) durch einen Gegenangriff übergehen. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass die Trutzwehr nur unter größtmöglicher Schonung des Angreifers zulässig ist.

Die Gebotenheit wird vor allem in folgenden Fallgruppen problematisiert:

 

Krasses Missverhältnis

Eine Abwehr, deren Folgen in krassem Missverhältnis zum drohenden Schaden stehen, ist nicht zulässig. Dies gilt selbst dann, wenn diese Maßnahme das einzig mögliche Abwehrmittel darstellt. Es kommt somit zu einem Wegfall des Notwehrrechts, wenn die Disproportionalität zwischen Abwehrfolgen und drohender Schaden gänzlich unerträglich sind.

Beispiel: Der im Rollstuhl sitzende Gartenbesitzer Herr Meier darf den Schuljungen Sören, der in einen seiner Bäume steigt und sich einige Kirschen schmecken lässt, auch dann nicht mit einem gezielten Körpertreffer vom Baum holen, wenn andere Abwehrmöglichkeiten nicht in Betracht kommen. Ein gegenwärtiger und rechtswidriger Angriff des Sören auf das Eigentum des Herrn Meier liegt hier vor. Auch die Erforderlichkeit des Schusses als einzige Möglichkeit zur Abwehr des Angriffes ist zu bejahen. Jedoch wäre bei dem geringen Gewicht, dass Angriffen von Kindern beizumessen ist, und dem relativ geringen drohenden Schaden eine so drastische Abwehrmaßnahme weder mit dem Schutzprinzip noch mit dem Rechtsbewährungsgedanken als den beiden Grundpfeilern des Notwehrrechts zu vereinbaren.

 

Angriffe Schuldunfähiger

Auch von einem Schuldunfähigen kann ein Angriff ausgehen. Zu den Schuldunfähigen zählen z.B. Kinder (siehe Beispiel oben), Volltrunkene und geistig verwirrte Menschen. Die Rechtsordnung wirft diesen Angreifern keine Schuld vor (vgl. §§ 19 ff. StGB), sodass dementsprechend auch das Rechtsbewährungsinteresse zu reduzieren ist. Deshalb ist das Notwehrrecht bei einem Angriff eines Schuldunfähigen nach der oben genannten Drei-Stufen-Theorie zu beschränken.

Beispiel: Ein stark betrunkener Mann pöbelt Manuel vor der Diskothek an. Er beleidigt ihn und versucht Manuel zu schlagen. Hier ist es nach sozialethischen Erwägungen nicht angebracht, wenn Manuel gleich zurückschlägt im Sinne eines aktiven Gegenangriffs. Vielmehr muss er zuerst versuchen, dem betrunkenen Mann auszuweichen oder sich selbst zu schützen, eher er zur Trutzwehr übergehen darf.

 

Enge familiäre Beziehung

Sozialethische Einschränkungen des Notwehrrechts kommen auch unter Personen mit engen familiären Beziehungen (insbes. unter Ehegatten) in Betracht. Angriffe und Übergriffe von nur geringer Intensität, welche keine ernsthafte Gefahr für Leib oder Leben begründen, rechtfertigen nicht sofort den Griff zu Abwehrmitteln, die den Tod des Angreifers zur Folge haben können. Allerdings wird diese Ansicht zunehmend kritisiert und die Einschränkung des Notwehrrechts infrage gestellt, da diese ansonsten de facto einen Freibrief für Misshandlungen unter Ehegatten darstellt. Unabhängig von der Frage, ob das Notwehrrecht unter Ehegatten einzuschränken ist, müssen Misshandlungen intensiver Art nicht geduldet werden. Gegen solche Angriffe darf sich der Ehepartner wehren.

Weitere Fälle, in denen die Gebotenheit eingeschränkt wird, werden unter dem Schlagwort Notwehrprovokation zusammengefasst. Von Notwehrprovokation spricht man, wenn der Angegriffene die Notwehrlage selbst provoziert hat.

Unterschieden wird danach, ob der Angegriffenen den Angriff absichtlich oder sonst vorwerfbar provoziert hat:

 

Angriff wurde absichtlich provoziert

Bei einer absichtlichen Notwehrprovokation geht es dem Provozierenden darum, den „Angreifer“ unter dem Deckmantel der Notwehr zu verletzen. Es muss dem Provozierenden gerade darauf ankommen, eine Notwehrlage herbeizuführen. Denn dann kann die Person behaupten, „sie habe in Notwehr gehandelt“. In Wahrheit geht es dem Provozierenden aber nur darum, den anderen selbst zu verletzen.

Diese absichtliche Notwehrprovokation führt zu einem Ausschluss des Notwehrrechts wegen Rechtsmissbrauchs. In Wirklichkeit ist der Provozierende selbst der Angreifer. Wer das Notwehrrecht gezielt missbraucht, hat das Recht nicht auf seiner Seite und kann sich nicht auf Notwehr berufen.

 

Angriff wurde nicht absichtlich, aber sonst vorwerfbar herbeigeführt

Wird der Angriff und somit die Notwehr nicht absichtlich, aber in sonst vorwerfbarer Weise herbeigeführt, führt dies nicht zu einem Ausschluss des Notwehrrechts, wohl aber zu einer Einschränkung des Notwehrrechts nach der Drei-Stufen-Theorie.

Nach der Rechtsprechung reicht es für eine sonst vorwerfbar herbeigeführte Notwehr bereits aus, wenn das Vorverhalten sozialethisch in seinem Gewicht einer schweren Beleidigung gleichkommt, also sozial zu missbilligen ist (vor allem Hänseleien, Anspielungen und Belästigungen außerhalb des strafbaren Rahmens).

Für die Ansicht der Rechtsprechung spricht, dass in der Realität die Gesamtumstände eine wichtige Rolle spielen und sich mehrere einzelne, lediglich moralisch zu beanstandende Verhaltensweisen zu einem „provokativen Gesamtbild“ verdichten können. Dagegen spricht jedoch, dass das Kriterium der Sozialwidrigkeit zu unbestimmt ist und daher keine klare rechtliche Bewertung zulässt.

Eine andere Ansicht verlangt für eine sonst vorwerfbar herbeigeführte Notwehr, dass das Vorverhalten jedenfalls rechtswidrig war, da in solchen Fällen der Verteidigende schon zu diesem Zeitpunkt den „Boden des Rechts“ verlassen habe (Rechtsbewährungsprinzip) und das Privileg des § 32 StGB ausnahmsweise nicht mehr greifen kann (z.B. strafbare Beleidigung oder fahrlässige Körperverletzung).

Für diese Ansicht spricht folgendes Argument: Würde man auch sozialethisch zu missbilligendes Verhalten für eine schuldhafte Provokation ausreichen lassen, würde die Gefahr bestehen, alle irgendwie störende Verhaltensweisen als hinreichend provozierend einzustufen und damit eine weitgehende Einschränkung des Notwehrrechts in Kauf zu nehmen.

 

3. Subjektive Voraussetzung: Verteidigungswille

In subjektiver Hinsicht muss der in Notwehr Handelnde einen Verteidigungswillen aufweisen. Dafür ist zweifaches erforderlich: Der Handelnde muss das Vorliegen einer Notwehrlage erkannt haben und zudem in der Absicht gehandelt haben, den Angriff abzuwehren. Dabei muss der Verteidigungswille nicht das einzige Handlungsmotiv sein. Er muss jedoch bestimmend und ein ausschlaggebendes Motiv für die Abwehrhandlung darstellen.

 

II. Nothilfe, § 32 Abs. 2 2. Alt. StGB

Nothilfe bezeichnet die zu Gunsten eines Dritten ausgeübte Notwehr. Sie unterscheidet sich von der Notwehr dadurch, dass nicht die eigenen Rechtsgüter und Interessen angegriffen werden, sondern die eines Dritten. Ansonsten müssen die gleichen Voraussetzungen wie bei der Notwehr nach § 32 Abs. 2 Alt. 1 StGB vorliegen.

Beispiel: Kai sieht, wie Josie im Park von einem Mann angegriffen wird. Kai läuft zu den beiden und schubst den Mann so heftig, dass er stürzt und daraufhin verdutzt wegläuft. Kai hat Josies Rechtsgüter „Leib und Leben“ geschützt und somit in Nothilfe i.S.d. § 32 Abs. 2 Alt. 1 StGB gehandelt.

 

C. Werkzeuge

Prüfungsaufbau Notwehr, § 32 StGB

I. Tatbestandsmäßigkeit

II. Rechtswidrigkeit

-> Notwehr / Nothilfe, § 32 StGB

1. Notwehrlage

Angriff auf geschütztes Rechtsgut/ Angriff auf geschütztes Rechtsgut eines Dritten

Angriff: Ein Angriff ist jedes menschliche Verhalten, dass ein rechtlich geschütztes Gut oder Interesse des Einzelnen bedroht oder verletzt. Notwehrfähig ist jedes Gut und Interesse, dass dem Angegriffenen zusteht. Gegenstand eines Angriffs kann neben dem Leben und dem Körper somit z.B. auch die Freiheit oder das Eigentum sein.

Gegenwärtigkeit des Angriffs

Gegenwärtigkeit: Ein Angriff ist gegenwärtig, wenn er unmittelbar bevorsteht, gerade stattfindet oder noch fortdauert. Er bleibt gegenwärtig, solange er noch fortdauert und abgewendet werden kann.

Rechtswidrigkeit des Angriffs

Rechtswidrigkeit: Rechtswidrig ist ein Angriff, der objektiv im Widerspruch zur Rechtsordnung steht. Ein rechtswidriger Angriff liegt zumindest dann vor, wenn der Angegriffene den Angriff nicht zu dulden braucht bzw. der Angreifer seinerseits nicht durch Rechtfertigungsgründe gerechtfertigt ist.

2. Notwehrhandlung

Gerichtet gegen den Angreifer

Erforderlichkeit

Erforderlichkeit: Die Notwehrhandlung ist erforderlich, wenn sie zum einen zur Angriffsabwehr geeignet ist und zum anderen das mildeste zur Verfügung stehende Mittel darstellt.

Geeignetheit

Die Notwehrhandlung ist zur Angriffsabwehr geeignet, wenn die Maßnahme grundsätzlich in der Lage ist, den Angriff zu beenden, abzuschwächen oder ihn wenigstens zu erschweren.

Relativ mildestes Mittel

Die Notwehrhandlung muss das relativ mildeste Mittel darstellen. Zu wählen ist immer dasjenige Mittel zur Angriffsabwehr, das den geringsten Schaden verursacht.

Gebotenheit

 3. Subjektive Voraussetzung: Verteidigungswille

III. Schuld

 

D. Anwendung

Beispielfall:

Anton befindet sich am Rosenmontag mit der Straßenbahn auf dem Weg nach Hause. Kurze Zeit später setzt sich Fabian – verkleidet als Vampir – neben Anton. Fabian war auf dem örtlichen Karnevalszug und scheint leicht angeheitert, aber keineswegs betrunken zu sein. Anton ist jedoch von Fabians Gesang und Auftreten genervt. So beschließt Anton den Fabian von seinem Platz „wegzuekeln“. Dafür öffnet er das Fenster, da er weiß, dass der nur leicht bekleidete Fabian frieren wird und hofft, dass er dadurch seinen Platz verlässt. Fabian reagiert allerdings anders als erwartet. Er schnauzt Anton an, er solle das Fenster schließen, bevor er sich „den Hintern abfriert.“ Dieses Vorgehen wiederholt sich noch einmal. Nunmehr droht Fabian mit Prügel, für den Fall, dass Anton nochmal das Fenster öffnet. Davon unerschrocken öffnet dieser jedoch erneut das Fenster. Genau in dem Moment steht Fabian ruckartig auf und holt zum Schlag aus. In diesem Moment ergreift Anton sein Klappmesser, welches er in seiner Hosentasche bei sich trägt und sticht Fabian ruckartig in den Unterbauch. Dabei nimmt er den Tod von Fabian billigend in Kauf. Fabian wird sofort ins Krankenhaus eingeliefert, erliegt dort jedoch seinen Stichverletzungen.

Hat Anton in Notwehr gehandelt, als er Fabian mit dem Klappmesser in den Unterbauch stach? War seine Handlung nach § 32 Abs. 2 Alt. 1 StGB gerechtfertigt?

 

Anton könnte gem. § 32 StGB in Notwehr gehandelt haben, als er Fabian in den Unterbauch stach. Dafür müssten eine Notwehrlage und eine Notwehrhandlung vorliegen.

1. Notwehrlage

Zunächst müsste eine Notwehrlage vorliegen. Diese zeichnet sich durch einen gegenwärtigen und rechtswidrigen Angriff aus.

a) Angriff

Fabian müsste Anton angegriffen haben. Ein Angriff ist jedes menschliche Verhalten, dass ein rechtlich geschütztes Gut oder Interesse des Einzelnen bedroht oder verletzt. Das Ausholen zum Schlag durch Fabian stellt einen Angriff auf Leib und Leben von Anton dar. Somit liegt ein Angriff durch Fabian vor.

b) Gegenwärtigkeit des Angriffs

Dieser Angriff müsste weiter auch gegenwärtig sein. Ein Angriff ist gegenwärtig, wenn er unmittelbar bevorsteht, gerade stattfindet oder noch fortdauert. Fabian wollte gerade zum Schlag ausholen. Somit stand der Angriff auf Leib und Leben von Anton unmittelbar bevor.

c) Rechtswidrigkeit des Angriffs

Rechtswidrig ist der Angriff, wenn er seinerseits nicht durch Rechtfertigungsgründe gedeckt ist. Hier holte Fabian gerade zum Schlag aus, um Anton zu verletzen. Dieser Schlag war seinerseits nicht durch Rechtfertigungsgründe gedeckt.

2. Notwehrhandlung

Fraglich ist, ob auch eine Notwehrhandlung i.S.d. § 32 StGB vorliegt. Dafür müsste der Messerstich objektiv erforderlich und normativ geboten gewesen sein.

a) Erforderlichkeit

Der Messerstich müsste erforderlich gewesen sein. Die Notwehrhandlung ist erforderlich, wenn sie zur Angriffsabwehr geeignet ist und das mildeste zur Verfügung stehende Mittel darstellt.

aa) Geeignetheit

Die Notwehrhandlung ist zur Angriffsabwehr geeignet, wenn die Maßnahme grundsätzlich in der Lage ist, den Angriff zu beenden, abzuschwächen oder ihn wenigstens zu erschweren. Der Stich in den Unterbauch war dazu geeignet, den bevorstehenden Angriff zu beenden.

bb) Relativ mildestes Mittel

Die Notwehrhandlung muss das relativ mildeste Mittel darstellen. Zu wählen ist immer dasjenige Mittel zur Angriffsabwehr, das den geringsten Schaden verursacht. Maßgeblich ist immer die konkrete Situation.

Problematisch ist hier, dass Anton zur Abwehr ein tödliches Werkzeug (Messer) eingesetzt hat. Der Einsatz von lebensgefährlichen und tödlichen Mitteln ist nicht per se ausgeschlossen, da dem Verteidigenden nicht auferlegt werden kann, dass er durch ein milderes Mittel im Einzelfall sein eigenes Leben riskiert. Hier könnte jedoch daran gedacht werden, dass Anton vor dem Stich mit dem Messer vorher das Messer hätte androhen können. Dies erscheint in der konkreten Situation allerdings fraglich, da Fabian nicht weit von Anton entfernt war und ihn in der Zwischenzeit auch hätte schon angreifen und verletzen können. Das Androhen konnte dem Anton also nicht zugemutet werden. Ein milderes Mittel ist nicht ersichtlich. Daher ist die Erforderlichkeit insgesamt zu bejahen.

b) Gebotenheit

Fraglich ist weiter, ob die Notwehrhandlung auch geboten war. An der Gebotenheit kann es im Einzelfall fehlen, wenn eine Einschränkung aus normativen oder sozialethischen Gründen geboten erscheint.

aa) Absichtsprovokation

Vorliegend könnte eine Absichtsprovokation von Anton vorliegen. Dies ist der Fall, wenn der Angegriffene die Notwehrlage absichtlich herbeigeführt hat, um den Angreifer unter dem Deckmantel des Notwehrrechts zu verletzen. Es muss ihm gerade darauf ankommen, eine Notwehrlage herbeizuführen. Vorliegend wollte Anton Fabian jedoch nicht unter dem Deckmantel des Notwehrrechts verletzen, sondern er wollte vielmehr, dass Fabian sich woanders hinsetzt. Damit liegt keine Absichtsprovokation vor.

bb) Angriff wurde nicht absichtlich, aber sonst vorwerfbar herbeigeführt

Anton könnte die Notwehrlage jedoch in sonst vorwerfbarer Weise verursacht haben. Es könnte ein sozialethisches vorwerfbares Vorverhalten vorliegen. Anton hat die ganze Zeit versucht Fabian von seinem Platz „wegzuekeln“, indem er mehrfach das Fenster aufgemacht hat. Dabei hatte Anton keinen vernünftigen Grund, Fabian „wegzuekeln“. In einem öffentlichen Verkehrsmittel ist es regelmäßig hinzunehmen, dass sich auch Fahrgäste, die einem persönlich nicht sympathisch erscheinen, neben einen setzen. Dass Fabian gesungen hat vermag diese Aussage nicht zu entkräften. Jedenfalls ist zu berücksichtigen, dass es Rosenmontag war. Zudem hätte Anton Fabian auch höflich auffordern können, das Singen einzustellen. Somit liegt ein sozialethisch vorwerfbares Vorverhalten von Anton vor. Dieses sozialethisch missbilligte Verhalten reicht auch für eine sonst vorwerfbar herbeigeführte Notwehr aus, da sich in der Realität mehrere einzelne, lediglich moralisch zu beanstandenden Verhaltensweisen zu einem „provokativen Gesamtbild“ verdichten können. Genau das ist vorliegend geschehen.

Somit wird das Notwehrrecht des Angegriffenen durch die sonst vorwerfbar herbeigeführte Notwehr beschränkt. Wie weit diese Beschränkung geht, hängt dabei vom Einzelfall ab. Dabei ist die Beschränkung umso geringer, je schwerer das Übel ist, das vom Angreifer droht. Grundsätzlich muss der Angegriffene dabei zunächst Ausweichen und dann Schutz- vor Trutzwehr anwenden. Hier verblieb Anton wohl kaum viel Zeit, um Fabian auszuweichen. Allerdings hätte Anton hier auch um Hilfe rufen oder Fabian von sich wegstoßen können, mithin Schutzwehrmaßnahmen anwenden können. Er griff jedoch sofort zum Messer und stach zu, sodass diese Notwehrhandlung im Ergebnis nicht geboten war.

3. Ergebnis

Die Notwehrhandlung war nicht geboten. Der Stich in den Unterbauch ist somit nicht durch Notwehr gem. § 32 Abs. 2 Alt. 1 StGB gerechtfertigt. Anton hat somit nicht in Notwehr gehandelt, als er Fabian mit dem Klappmesser in den Unterbauch stach.

 

E. Widerholungsfragen  

Frage 1: Was sind die beiden Grundprinzipien, auf welchen die Notwehr beruht?

Frage 2: Durch welche drei Voraussetzungen zeichnet sich die Notwehrlage aus?

Frage 3: Was sind die Voraussetzungen der Notwehrhandlung?

Frage 4: Wonach richtet sich im Rahmen der Gebotenheitsprüfung eine etwaige Einschränkung des Notwehrrechts?

Frage 5: Nennen Sie zwei Fallgruppen, bei denen die Gebotenheit der Notwehr zu problematisieren ist.