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Wahlen und Wahlrecht, Art. 20, 38 I

A. Einleitung

Gem. Art. 20 Abs. 2 GG geht die Staatsgewalt vom Volke aus und wird u.a. durch Wahlen ausgeübt. Die Wahl ist dabei als Auswahl einer Partei oder Person zu verstehen.
Die Wählerinnen und Wähler entscheiden über die Zusammensetzung des Deutschen Bundestages, der Landtage, der Kommunalparlamente und des Europäischen Parlaments.
Im Grundgesetz sind die Wahlrechtsgrundsätze normiert (Art. 38 GG), die zwingend eingehalten werden müssen. Das Bundeswahlgesetz (BWG) legt das Wahlsystem der Bundesrepublik fest und trifft Regelungen zum Schutz der einzelnen Wahlrechtsgrundsätze.
Im Folgenden soll ein Überblick über das Wahlsystem (insbes. der Bundestagswahlen), die Wahlrechtsgrundsätze sowie das Ausländerwahlrecht gegeben werden.

 

B. (Bundestags-)Wahlen

I. Wahlsystem

1. Allgemeines

Man unterscheidet grundsätzlich zwischen der Mehrheitswahl und der Verhältniswahl.

Bei der Mehrheitswahl werden bestimmte Personen (Kandidaten) in verschiedenen Wahlkreisen gewählt. Dabei wird das Wahlgebiet in so viele Wahlkreise eingeteilt, wie Stimmen in dem Parlament zu vergeben sind. Es wird dann pro Wahlkreis ein Kandidat gewählt.

Bei der absoluten Mehrheitswahl ist gewählt, wer mehr als die Hälfte der abgegebenen Stimmen in seinem Wahlkreis auf sich vereinigt.
Bei der relativen Mehrheitswahl ist gewählt, wer die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erhält.
Durch eine Mehrheitswahl werden regelmäßig stabile Regierungsverhältnisse geschaffen. Gleichzeitig wird die Minderheit jedoch benachteiligt (eine Partei kann beispielsweise in jedem Wahlkreis die zweitstärkste Kraft sein, ohne davon profitieren zu können, da die nationalen Stimmanteile unbedeutend sind).

Bei der Verhältniswahl erhalten die Parteien so viele Sitze, wie es ihrem nationalen Stimmenanteil entspricht. Vor der Wahl stellen die Parteien Listen mit Kandidaten auf. Je nachdem, ob eine Partei viele oder wenige Stimmen auf sich vereinigt, erhalten dann mehr oder weniger Kandidaten dieser Liste einen Sitz im Parlament.
Das Verhältniswahlrecht sorgt dafür, dass sich die Anzahl der Sitze, die jede Partei erhält, proportional zu ihrer Stimmenanzahl verhält. Der Erfolgswert der abgegebenen Stimmen bleibt hier gleich, es gehen keine Stimmen „verloren“. Ein nachteiliger Effekt der Verhältniswahl ist die Tendenz zur “Zersplitterung“ des Parlaments: Da alle Stimmen berücksichtigt werden, droht eine Zersplitterung des Parlaments in viele kleine politische Gruppen, die eine stabile und mehrheitsfähige Regierungsbildung erschwert.

 

2. Wahlsystem der Bundesrepublik Deutschland (Bundestagswahlen)

Das Grundgesetz entscheidet sich nicht für eines der beiden oben genannten Wahlsysteme. Das Wahlsystem hat lediglich die Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG einzuhalten, Näheres bestimmt gem. Art. 38 Abs. 3 GG ein Bundesgesetz (Bundeswahlgesetz). § 1 Abs. 1 S. 2 BWG bezeichnet das Wahlsystem der Bundesrepublik als eine „mit der Personenwahl verbundene Verhältniswahl“ (kurz: personalisierte Verhältniswahl) als eine Verbindung der genannten Wahlsysteme.

Grundsätzlich hat der Bundestag gem. § 1 Abs. 1 S. 1 BWG 598 Abgeordnete. Eine Hälfte (299 Abgeordnete) wird durch Mehrheitswahl (Direktmandate) und die andere durch Verhältniswahl (Listenmandate) gewählt (§ 1 Abs. 2 BWG).

Nach § 4 BWG hat jeder Wähler zwei Stimmen: Die Erststimme dient der Wahl eines Wahlkreisabgeordneten (relative Mehrheitswahl), die Zweitstimme dient der Wahl einer Landesliste. Landeslisten können nach § 27 Abs. 1 S. 1 BWG nur von Parteien eingereicht werden (sog. Listenprivileg der Parteien) und bestimmen die Reihenfolge, in der die Kandidaten der jeweiligen Partei die Sitze im Bundestag besetzen, welche der Partei in einem Bundesland zustehen.

Die Verteilung der Sitze richtet sich nach § 6 BWG. Zunächst werden die für jede Landesliste abgegebenen Zweitstimmen zusammengezählt (§ 6 Abs. 1 S. 1 BWG).
Die Gesamtzahl der Sitze (598, siehe § 1 Abs. 1 S. 1 BWG) wird den Ländern nach deren Bevölkerungsanzahl zugeordnet; § 6 Abs. 2 S. 1 BWG (die reguläre Anzahl für NRW beispielsweise betrug für die Bundestagswahl 2017 128 Sitze).

Die dadurch ermittelte Sitzzahl wird basierend auf den zu berücksichtigenden Zweitstimmen den Landeslisten zugeordnet. Parteien, die weniger als 5% der gültigen Zweitstimmen erhalten, bleiben grundsätzlich unberücksichtigt (sog. Sperrklausel), sofern sie nicht mindestens drei Direktmandate erringen konnten (sog. Grundmandatsklausel) oder eine Partei nationaler Minderheiten sind (§ 6 Abs. 3 BWG).

Von der Sitzzahl jeder Landesliste, die so ermittelt wurde, wird die Zahl der Sitze, die durch ein Direktmandat in den Wahlkreisen errungen wurden, abgezogen; § 6 Abs. 4 S. 1 BWG (stehen Partei X aufgrund der Zweitstimmenanteile 100 Sitze zu und hat sie 40 Direktmandate erzielt, so werden die restlichen 60 Plätze streng nach der durch die Landesliste vorgegebenen Reihenfolge besetzt). Hier zeigt sich die entscheidende Bedeutung der Zweitstimme: Zwar ziehen die durch die Erststimme gewählten Kandidaten sicher in den Bundestag ein. Die Zweitstimme entscheidet jedoch über die Mandatszahl.

Übersteigt die Zahl der Direktmandate die Sitzzahl, die einer Partei aufgrund ihres Zweitstimmenanteils zusteht, so bleiben diese Direktmandate trotzdem erhalten; § 6 Abs. 4 S. 2 BWG (stehen Partei X aufgrund der Zweitstimmenanteile 100 Sitze zu und hat sie 110 Direktmandate erzielt, so erhält sie 110 Sitze im Bundestag). Die errungenen Direktmandate gehen also nicht verloren, sondern bleiben als sog. Überhangmandate erhalten.

Um die anderen Parteien nicht zu benachteiligen, erfolgt nach § 6 Abs. 5, Abs. 6 BWG ein Ausgleich: Die Sitzzahl der Parteien wird solange erhöht, bis die endgültige Sitzverteilung im Bundestag dem Zweitstimmenanteil aller Parteien entspricht (sog. Ausgleichsmandate).

Die Gesamtzahl der Abgeordneten (Bundestagswahl 2017: 709) ergibt sich also aus der Mindestsitzzahl des Bundestages (598), den Überhangmandaten (Bundestagswahl 2017: 46) und den Ausgleichsmandaten (Bundestagswahl 2017: 65).

(Das Wahlrechtssystem, wie es im BWG geregelt ist, erweist sich als sehr kompliziert und komplex. Insbesondere der genaue Verteilungsmechanismus (sog. Divisorverfahren Saint-Laguë/Schepers) ist im Rahmen der schulischen Ausbildung und des Studiums kaum relevant.
Für eine grundlegende Darstellung des Wahlrechtssystems siehe https://www.youtube.com/watch?v=oMGur8SwFVM; für eine detaillierte Erläuterung siehe http://www.wahlrecht.de/).

 

II. Wahlrechtsgrundsätze

1. Allgemeines

Wie oben ausgeführt, legt das Grundgesetz kein Wahlsystem fest, die Bundestagswahl muss jedoch den Wahlrechtsgrundsätzen des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG entsprechen (Allgemeinheit, Unmittelbarkeit, Freiheit, Gleichheit der Wahl, geheime Wahl, [ungeschrieben:] Öffentlichkeit der Wahl). Das Grundgesetz macht zu dieser Wahl nur in Art. 38 Abs. 1, Abs. 2 GG Angaben, Detailfragen sind im Bundeswahlgesetz als Konkretisierung des Art. 38 Abs. 3 GG geregelt.

Grundsätzlich ist bei der Prüfung der Wahlrechtsgrundsätze folgendes Prüfungsschema einzuhalten:

  • Schutzgehaltsbestimmung (Definition des möglicherweise betroffenen Wahlrechtsgrundsatzes)
  • Beeinträchtigung (Identifikation des Eingriffs bzw. der beeinträchtigenden Handlung)
  • Rechtfertigung des Eingriffs durch einen zwingenden und höherwertigen staatspolitischen Grund (zum Beispiel zum Schutz anderer Wahlrechtsgrundsätze)

Dem Wortlaut des Art. 38 Abs. 1 GG lässt sich entnehmen, dass die dort genannten Wahlrechtsgrundsätze nur auf Bundesebene gelten („Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages…“). Gem. Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG müssen die Volksvertretungen der Länder jedoch ebenfalls aus Wahlen hervorgehen, die diesen Grundsätzen entsprechen. Zu beachten ist, dass Verstöße gegen die Regelung des Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG (oder gegen die in den Landesverfassungen festgelegten Wahlrechtsgrundsätze) vor dem Landesverfassungsgericht (und nicht vor dem Bundesverfassungsgericht) geltend gemacht werden müssen.

 

2. Allgemeinheit der Wahl

Die Allgemeinheit der Wahl regelt die Teilnahme an der Wahl. Alle Bürger der Bundesrepublik sind wahlberechtigt (aktives Wahlrecht) und alle Bürger der Bundesrepublik können gewählt werden (passives Wahlrecht).

Keine Bevölkerungsgruppe darf aus sozialen, politischen oder wirtschaftlichen Gründen von der Ausübung des Wahlrechts abgehalten werden.

Nur Deutsche im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG sind wahlberechtigt (§§ 1, 12 BWG). So heißt es auch in Art. 20 Abs. 2 GG, dass die Staatsorgane vom Staatsvolk gewählt werden (Staatsvolk ist dabei die Summe der Staatsangehörigen in umfassender Lebensgemeinschaft).

Weitere Ausführungen dazu, wer wahlberechtigt ist, enthält insbesondere § 12 BWG.

Wer das Wahlrecht ausüben will, muss gem. Art. 38 Abs. 2 GG mindestens 18 Jahre alt (bzw. volljährig) sein. Häufig wird für eine Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre plädiert. Dafür spricht die dadurch geförderte politische Einbindung Jugendlicher. Fraglich ist allerdings, ob mit Vollendung des 16. Lebensjahres die nötige politische Einsichtsfähigkeit gegeben ist.

Eine weitere ausdrücklich im Grundgesetz genannte Einschränkung des (passiven) Wahlrechts findet sich in Art. 137 Abs. 1 GG: Die Wählbarkeit für Angehörige des öffentlichen Dienstes kann gesetzlich eingeschränkt werden (sog. Inkompatibilitätsregeln).

Rechtliche Problemfälle sind u.a. ein diskutiertes Eltern-/Kind-Wahlrecht und der Ausschluss von Auslandsdeutschen (vgl. hierzu BVerfGE 132, 39 – Wahlberechtigung der Auslandsdeutschen).

 

3. Unmittelbarkeit der Wahl

Die Unmittelbarkeit der Wahl besagt, dass ausschließlich die Wahlentscheidung der Staatsbürger ausschlaggebend für die personelle Zusammensetzung des Parlaments ist. Insbesondere darf zwischen Wählern und Gewählten keine weitere Instanz mit Entscheidungsbefugnissen treten (unzulässig ist also beispielsweise ein Wahlmännergremium wie bei den Präsidentschaftswahlen in den USA).

Auch der Grundsatz der Höchstpersönlichkeit der Wahl unterfällt der Unmittelbarkeit: Das Wahlrecht darf weder übertragen noch veräußert werden.

Allerdings ist es gem. § 14 Abs. 5 BWG zulässig, dass eine Hilfsperson eingeschaltet wird, um u.a. körperlich Behinderten das Wählen zu ermöglichen. Dies ist gerechtfertigt, weil und soweit durch das Einschalten von Hilfspersonen die Allgemeinheit der Wahl geschützt wird.

Das Bundesverfassungsgericht vertritt die Ansicht, dass die Listenwahl (mit der Zweitstimme) keine Beeinträchtigung der Unmittelbarkeit der Wahl sei. Zwar werden die von den Parteien aufgestellten Listen (und nicht etwa direkt Abgeordnete) gewählt. Da der Wähler aber zum Zeitpunkt der Wahl weiß, welcher Abgeordnete über die Listen einziehen wird (sog. „starre Liste“ nach § 27 BWG), sei die Unmittelbarkeit nicht beeinträchtigt.

 

4. Freiheit der Wahl

Die Freiheit der Wahl besagt, dass kein öffentlicher oder privater Zwang auf die Wahlentscheidung des Wählers ausgeübt werden darf. Der Wähler gelangt also in einem freien und offenen Prozess der Willensbildung zu seiner Wahlentscheidung.

Ein unzulässiger öffentlicher Zwang liegt insbesondere in einer Wahlbeeinflussung durch staatliche Stellen. Eine amtliche Wahlwerbung bzw. die (notwendige) Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung jedoch sind zulässig, die zuständigen Stellen unterliegen dabei aber der Neutralitätspflicht des Staates.

Sonstige Wahlwerbung stellt grundsätzlich keine Beeinträchtigung der Freiheit der Wahl dar, vielmehr ist diese auch Teil einer demokratischen und freien Willensbildung (der Bürger wird von verschiedenen politischen Lagern „umworben“ und kann sich [u.a. basierend auf der Wahlwerbung] eine eigene Meinung bilden). Sofern die Wahlwerbung allerdings einen erheblichen Druck auf die Wähler ausübt, ist sie unzulässig.

Auch das sog. „Hirtenwort“ der Kirche (von der Kanzel aus verlesener Brief des Bischofs an die Gläubigen) ist zulässig. Können politische Parteien um die Stimmen der Wähler werben, so kann es auch Gewerkschaften und Religionsgemeinschaften nicht verwehrt sein, Wahlempfehlungen auszusprechen.

In der Vergangenheit wurde häufig über die Einführung einer Wahlpflicht diskutiert, u.a. mit dem Ziel, eine hinreichende politische Partizipation zu gewährleisten. Nach herrschender Meinung ist jedoch auch die Entscheidung, (nicht) wählen zu gehen, eine politische Stellungnahme, sodass die Einführung einer Wahlpflicht einen Verstoß gegen die Freiheit der Wahl darstelle (i.Ü. verstieße diese Wahlpflicht gegen Art. 2 Abs.1 GG [allgemeine Handlungsfreiheit] und gegen Art. 5 Abs. 1 GG [Meinungsfreiheit]).

 

5. Gleichheit der Wahl

Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl besagt, dass alle Wählerstimmen den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis (aktive Wahlrechtsgleichheit) und alle Wahlkandidaten die gleichen Chancen (passive Wahlrechtsgleichheit) haben müssen.

Die Wahlrechtsgleichheit gilt sowohl für den Wahlakt als auch für alle sonstigen, mit der Wahl verbundenen Vorgänge.

 

a) Aktive Wahlrechtsgleichheit

Die aktive Wahlrechtsgleichheit umfasst den Zählwert und den Erfolgswert.

Der Zählwert bedeutet, dass jede abgegebene Wählerstimme den gleichen Wert hat („one man, one vote“). Unzulässig ist beispielsweise eine unterschiedliche Stimmgewichtung, wie sie bis 1918 im Preußischen Klassenwahlrecht galt.

Der Erfolgswert bedeutet, dass jede abgegebene Wählerstimme grundsätzlich den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben muss.

In Bezug auf den Erfolgswert sind besonders die 5%-Sperrklausel sowie die Grundmandatsklausel umstritten und problematisch: Nach § 6 Abs. 3 S. 1 BWG werden bei der Verteilung der Sitze auf die Landeslisten nur solche Parteien berücksichtigt, die

  • „mindestens 5 Prozent der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen Zweitstimmen erhalten oder
  • in mindestens drei Wahlkreisen einen Sitz errungen haben“.

 

aa) Sperrklausel (§ 6 Abs. 3 S. 1 Alt. 1 BWG)

Die 5%-Klausel beeinträchtigt den Erfolgswert der Zweitstimmen erheblich: Die Stimmen der Wähler, welche eine Partei gewählt haben, die die 5%-Hürde nicht erreicht, haben einen Erfolgswert von Null.

Das Bundesverfassungsgericht sieht die Sperrklausel dennoch als zulässig an: Parlamentswahlen dienten insbesondere der Regierungsbildung, weshalb die Bekämpfung der Parteienzersplitterung legitim sei (die Erfahrungen aus der Zeit der Weimarer Republik zeigen, dass eine Parteienzersplitterung zu erheblichen Schwierigkeiten bei der Regierungsbildung führen kann).

Hier kann kein gleicher Erfolgswert, sondern lediglich eine gleiche Erfolgschance gewährleistet werden.

Die Sperrklausel sei also in Bezug auf Bundes- und Landtagswahlen zulässig (nach herrschender Meinung darf diese aber 5% nicht übersteigen), bei Kommunalwahlen und Wahlen zum Europäischen Parlament sei eine starke Parteienzersplitterung jedoch nicht zu erwarten, sodass eine Sperrklausel hier nicht gerechtfertigt werden könne. 

 

bb) Grundmandatsklausel (§ 6 Abs. 3 S. 1 Alt. 2 BWG)

Weitaus problematischer ist die Grundmandatsklausel: Parteien, die weniger als 5% der Stimmen erreichen, werden bei der Verteilung der Sitze auf die Landeslisten beachtet, sofern sie in mindestens drei Wahlkreisen ein Direktmandat errungen haben. Diese Parteien sind dann also ihrem Zweitstimmenanteil entsprechend im Bundestag vertreten. Die Grundmandatsklausel ist somit als Ausnahme der 5%-Sperrklausel zu betrachten.

Ein Großteil der Literatur betrachtet die Grundmandatsklausel als verfassungswidrigen Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit. Dass Parteien mit einem regionalen Schwerpunkt als parlamentswürdiger als andere Splitterparteien angesehen werden, sei nicht schlüssig. Dem regionalen Schwerpunkt werde es ausreichend gerecht, wenn den Parteien, die weniger als 5% der Stimmen erhalten, die durch die Erststimme errungenen Direktmandate erhalten blieben.

Zudem sei es problematisch, dass eine Partei, die 4,9% der Stimmen, jedoch nur zwei Direktmandate erhält, bedeutend weniger Abgeordnete im Bundestag hat als eine Partei mit 4% der Stimmen sowie drei Direktmandaten. Diese Ungleichbehandlung sei nicht zu rechtfertigen.

Eine weitere drohende Gefahren sei das sog. Huckepackverfahren: Eine größere Partei verzichtet in drei Wahlkreisen auf eigene Direktkandidaten, um es einer kleineren Partei zu ermöglichen, drei Direktmandate zu erhalten mit der Folge, dass deren Zweitstimmenanteil im gemeinsamen Interesse nicht verloren geht.

Das Bundesverfassungsgericht hingegen vertritt die Ansicht, dass die Grundmandatsklausel verfassungslegitim sei. Die Wahl sei insbesondere auch ein Integrationsvorgang: Alle bedeutenden politischen Kräfte müssten im Parlament vertreten sein. Erhalte eine Partei drei Direktmandate, so könne der Gesetzgeber diese Partei als politisch bedeutsam ansehen, sodass eine Repräsentanz im Parlament gerechtfertigt sei (die genaue Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Integrationsvorgang und Wahlrechtsgleichheit sei dabei dem Gesetzgeber überlassen). Auch die Funktionsfähigkeit sei durch die Grundmandatsklausel nicht beeinträchtigt.

 

b) Passive Wahlrechtsgleichheit

Sowohl die Kandidaten als auch die sie unterstützenden Parteien müssen die gleichen Chancen haben (die Wahlgleichheit wirkt hier also nicht als Erfolgs-, sondern als Chancengleichheit). Hier gilt das Prinzip der abgestuften Chancengleichheit: Jede Partei und jeder Kandidat muss grundsätzlich die gleichen Möglichkeiten während des Wahlkampfes haben. Aus der Größe und der Leistungsfähigkeit der Parteien resultierende unterschiedliche (insbes. finanzielle) Möglichkeiten müssen jedoch nicht ausgeglichen werden.

 

6. Geheime Wahl

Der Grundsatz der geheimen Wahl dient vor allem dazu, die Freiheit der Wahl sicherzustellen. Der Wähler hat das Recht, seine Wahlentscheidung für sich zu behalten, seine Wahlentscheidung bleibt also unbekannt. Durch das Offenlegen der Wahlentscheidung kann indirekt ein Druck auf andere Wähler und ihre Entscheidung ausgeübt werden, sodass nicht nur ein Recht, sondern sogar eine Pflicht zur geheimen Wahl besteht (die Pflicht zur geheimen Wahl darf nicht falsch verstanden werden: Niemand darf seine Wahlentscheidung im Beisein anderer treffen; zulässig allerdings sind Äußerungen wie „Ich habe XY gewählt“).

Um den Grundsatz der geheimen Wahl zu schützen, sind bestimmte organisatorische Vorkehrungen zu treffen. So müssen Wahlkabinen und –urnen gestellt werden, um das Wahlgeheimnis zu wahren (§ 33 Abs. 1 BWG).

Eine Beeinträchtigung der geheimen Wahl (und der Freiheit der Wahl) ist insbesondere in der Briefwahl (§36 BWG) zu sehen: Hier könnten Dritte Einfluss auf die Wahlentscheidung nehmen oder zumindest während des Wahlvorgangs anwesend sein. Die Beeinträchtigung durch die Briefwahl wird nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts allerdings dadurch gerechtfertigt, dass sie den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl sichere (insb. für Wähler, die aus gesundheitlichen oder anderen Gründen an einer „normalen“ Stimmabgabe gehindert sind). Gem. § 36 Abs. 2 S. 1 BWG hat der Wähler zudem eidesstattlich zu versichern, dass der Stimmzettel persönlich gekennzeichnet worden ist.

 

7. Öffentlichkeit der Wahl

Die Öffentlichkeit der Wahl ist ein ungeschriebener Wahlrechtsgrundsatz, der vom Bundesverfassungsgericht aus dem Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip sowie dem Grundsatz der Republik hergeleitet wird (Art. 38 Abs. 1 S. 1 iVm Art. 20 Abs. 1, Abs. 2 GG). Überwiegend wird die Öffentlichkeit der Wahl als eigenständiger und von den anderen Wahlrechtsgrundsätzen unabhängiger Grundsatz angesehen (vgl. auch § 31 S. 1 BWG).

Es ist aufgrund des Demokratieprinzips erforderlich, dass die Übertragung staatlicher Verantwortung auf die Abgeordneten einer öffentlichen Kontrolle bedarf, um die Nachvollziehbarkeit und den ordnungsgemäßen Ablauf der Wahl zu garantieren. Zudem soll durch die Öffentlichkeit der Wahl das Vertrauen der Bürger in einen vorschriftsgemäßen Wahlvorgang (insbes. ohne Manipulation) gestärkt werden.

Die Öffentlichkeit der Wahl umfasst das gesamte Wahlverfahren, also sowohl den Vorgang der Wahlvorschläge, die Wahlhandlung (die Stimmabgabe ausgenommen) sowie die Stimmauszählung. Zudem gilt der Öffentlichkeitsgrundsatz für die Bundestagswahlen und (wegen Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG) auch für Wahlen in den LändernKreisen und Gemeinden. Über den Einsatz von Wahlcomputern (§ 35 BWG) entschied das Bundesverfassungsgericht mit Verweis auf die Öffentlichkeit der Wahl wie folgt: „Beim Einsatz elektronischer Wahlgeräte müssen die wesentlichen Schritte der Wahlhandlung und der Ergebnisermittlung vom Bürger zuverlässig und ohne besondere Sachkenntnis überprüft werden können“ (BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 03. März 2009- 2 BvC 3/07 -, Leitsatz Nr. 2).

 

III. Ausländerwahlrecht

Wie oben gesehen, sind auf Bundesebene nur Deutsche wahlberechtigt (s.o. Allgemeinheit der Wahl). Gem. Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG wird die Staatsgewalt vom Volk insbesondere durch Wahlen ausgeübt. Das „Volk“ meine hier ausschließlich das Staatsvolk, also die Deutschen iSd Art. 116 Abs. 1 GG. Dies wird damit begründet, dass das Grundgesetz auch an anderen Stellen vom „deutschen Volk“ als Staatsvolk ausgehe (so zB in Art. 146 GG).

Ein Ausländerwahlrecht bei Bundestagwahlen besteht nach herrschender Meinung somit nicht (strittig ist, ob ein solches durch eine Verfassungsänderung eingeführt werden kann oder ob dies wegen Art. 79 Abs. 3 GG nicht möglich ist).

Auch bei den Landtagswahlen besteht nach herrschender Meinung kein Ausländerwahlrecht. Aufgrund des Homogenitätsprinzips seien die gleichen Maßstäbe wie bei der Bundestagswahl zu beachten. Zudem sei der Begriff des „Volkes“ in Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG ebenso als „deutsches Volk“ zu verstehen wie in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG.

Gem. Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG sind bei Kommunalwahlen auch EU-Ausländer wahlberechtigt und wählbar. Daraus folgt als argumentum e contrario, dass Nicht-EU-Bürger nicht wahlberechtigt sind.

 

IV. Rechtsschutz bei Wahlfehlern

1. Wahlprüfungsverfahren (Art. 41 Abs. 1 S. 1 GG iVm §§ 13 Nr. 3, 48 Abs. 1 Alt. 1 BVerfGG)

Gem. Art. 41 Abs. 1 S. 1 GG (iVm WahlprüfungsG) befasst sich zunächst der Bundestag mit einem Antrag auf Wahlprüfung. Eine Beschwerde gegen dessen Entscheidung ist beim Bundesverfassungsgericht gem. Art. 41 Abs. 2 GG zulässig. Das Wahlprüfungsverfahren ist nach §49 BWG gegenüber anderen Rechtsschutzmöglichkeiten vorrangig (Grundsatz der Ausschließlichkeit). Grundsätzlich ist ein Rechtsschutz in Bezug auf eine Wahlverletzung also erst nach der Wahl zu erlangen.

 

2. Sonstiger Rechtsschutz

Eine Möglichkeit, noch vor der Wahl zu prüfen, ob eine Nichtanerkennung einer Partei für die Wahl zum Bundestag rechtens ist, ist in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4c GG (iVm § 18 Abs. 4a BWG, §§ 13 Nr. 3a, 96a ff. BVerfGG) geregelt.

Unter bestimmten Voraussetzungen ist auch eine Verfassungsbeschwerde bei einer Verletzung des subjektiven Wahlrechts aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG statthaft. Aufgrund des Grundsatzes der Ausschließlichkeit darf sich diese Verfassungsbeschwerde aber nicht auf Verletzungen eines Vorganges des unmittelbaren Wahlvorgangs beziehen

 

C. Werkzeuge

Prüfungsaufbau: Wahlrechtsgrundsätze

1. Schutzgehalt

2. Beeinträchtigung

3. Rechtfertigung

 

Definitionen

Zählwert

Jede abgegebene Wählerstimme hat den gleichen Wert.

Erfolgswert

Jede abgegebene Wählerstimme hat den gleichen Einfluss auf das Ergebnis.

Mehrheitswahl

Wahlsystem, bei dem der Kandidat gewinnt, der die Mehrheit der Stimmen erhält (relative o. absolute Mehrheit).

Verhältniswahl

Wahlsystem, bei dem die Parteien so viele Sitze erhalten, wie es ihrem nationalen Stimmanteil entspricht.

 

 

D. Anwendung

Frage 1: Beeinträchtigt das sog. „Hirtenwort“ die Freiheit der Wahl?

Frage 2: Was für ein Wahlsystem gibt es in der Bundesrepublik Deutschland und wo ist dies im Grundgesetz geregelt?

Frage 3: Was besagt die sog. „Sperrklausel“

Frage 4: Woraus ergibt sich der Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl?

Frage 5: Ist die Briefwahl verfassungswidrig und wenn ja, warum?

Frage 6: Woraus setzt sich die Gesamtzahl der Abgeordneten im Bundestag zusammen?

Frage 7: Was ist das sog. „Huckepackverfahren“?

Frage 8: Welche Ansicht vertritt das Bundesverfassungsgericht in Bezug auf die Grundmandatsklausel?