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Geschichte der Jüdischen Gemeinde in Groß Neuendorf

Foto: Anke Geißler
Straßenschild mit dem Namen des Getreidehändlers und Gründers der Jüdischen Gemeinde in Groß Neuendorf

In Groß Neuendorf und dem nahe gelegenen Letschin gab es erst seit 1853 eine eigenständige jüdische Gemeinde. In der Zeit davor hatten sich die wenigen jüdischen Familien, die hier oder in den umliegenden Dörfern wohnten, den Gemeinden in den nahegelegenen Städten angeschlossen, besonders der in Wriezen (z.B.: Lehmann Baumann, C. Ephraim, Abraham Grünthal, S. Cohn, Salomon Fürstenhain, Witwe Eulenburg).

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts schlossen sich die in Letschin und den umliegenden Orten wohnenden Juden zu einer zunächst privaten Gemeinschaft zusammen. Die Inschrift auf dem Grabstein von Michael Sperling (geb. 1803 in Bernstein/Neumark) weist diesen als Initiator für die Gründung der offiziellen jüdischen Gemeinde Letschin/Groß Neuendorf und auch des Friedhofs aus.

Im Jahr 1855 wurde für die damals noch in Letschin ansässige Gemeinde das Statut beschlossen und genehmigt. Der Synagogenbezirk, für den die Gemeinde zuständig sein sollte, wird darin mit dem „Polizei-Bezirk des Domainen-Amtes Wollup“ beschrieben. Mitglieder lebten außer in Letschin und Groß Neuendorf noch in den Dörfern Klein Neuendorf, Kienitz, Gerickenberg, Sophiental und Ortwig.

Im Jahr 1864 war der langjährige Vorsitzende des Vorstands Herz Hartwich gestorben und als Nachfolger wurde Michael Sperling gewählt. In derselben Versammlung wurde auch der Beschluss gefasst, den Sitz des Gemeindevorstands nach Groß Neuendorf zu verlegen. Die wichtigsten Neuerungen waren dabei, dass der jüdische Religionslehrer seinen Wohnsitz in Groß Neuendorf haben sollte und die Gottesdienste hier und nicht mehr in Letschin abgehalten werden sollten. Im Protokoll der Mitgliederversammlung vom 22. März 1864 heißt es:

"Es soll von jetzt ab der Sitz des Vorstandes der Synagogen-Gemeinde von Letschin nach Groß Neuendorf verlegt werden, da der Vorsitzende des Vorstands Kaufmann Hartwig in Letschin verstorben ist und da sich der, der Synagogengemeinde zugehörige Begräbnisplatz bereits hier befindet, und der heute zum Vorstandsmitglied gewählte Kaufmann Michael Sperling für die Folge der Vorsitzende des Vorstands werden soll.

Der jüdische Lehrer soll für die Folge seinen Wohnsitz in Groß Neuendorf haben, doch wird Sorge getragen werden, dass den außerhalb des Dorfes Groß Neuendorf wohnhaften schulpflichtigen Kindern unserer Glaubensgenossen der Religionsunterricht da ertheilt wird, wo die betreffenden Eltern wohnen. Wir bemerken gleichzeitig dabei, dass sonstige Einrichtungen im Gemeindewesen weder aufgehoben noch abgeändert werden sollen. Die Verlegung des Vorstandes der Synagogen Gemeinde hat ferner zur Folge, dass der Gottesdienst nicht mehr wie bisher in Letschin sondern in Groß Neuendorf abgehalten wird."

Für das gemeinsame Beten in Groß Neuendorf wurde sogar eine kleine Synagoge eingerichtet. Sie wird heute als Wohnhaus genutzt (Straße der Freundschaft Nr. 32). Das ehemalige Bethaus erkennt man nur auf der Rückseite des Gebäudes an den zugemauerten Fenstern in Spitzbogenform.

Im Jahr 1881 hatte die jüdische Gemeinde Groß Neuendorf nur noch 14 männliche Mitglieder und war nicht mehr in der Lage, die im Statut vorgeschriebenen 9 Repräsentanten zu stellen. Die Existenz der Gemeinde wurde noch einmal vorübergehend durch Änderung des Statuts gerettet, aber im Jahr 1895 erfolgte auf behördliche Verfügung die Auflösung. Die jüdischen Einwohner in den Dörfern des Amtes Wollup wurden in den Synagogenbezirk Seelow einbezogen.

Einer der Gründer der Letschiner/Groß Neuendorfer Gemeinde war Lehmann Baumann. Er war vorher Mitglied der jüdischen Gemeinde in Wriezen gewesen und im Jahr 1855 verzog er nach Landsberg an der Warthe. Neben seinem Beruf als Kaufmann fungierte er als Beschneider. Sein Beschneidungsbuch, das Eintragungen von 1833 bis 1871 enthält, ist im Original erhalten. Von 1833 bis 1854 beziehen sich die Eintragungen auf Wriezen und die umliegenden Ortschaften im Oderbruch, nach 1855 auf Landsberg a.W.

Michael Sperling und seine Frau Betty starben bereits 1866 bzw. 1865. Ihr einziger Sohn, Julius Sperling, eröffnete 1876 ein Getreidegeschäft in Berlin und 1886 eine Zweigniederlassung in Groß Neuendorf, wo die Familie ohnehin eine Villa als Sommerhaus besaß. Michel Sperling, Urenkel von Michael, gründete in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine Getreide-Aktiengesellschaft in Berlin, sowie eine Tochtergesellschaft „Gesellschaft für Landhandel“ mit Sitz in Wriezen. Er floh 1939 nach Kuba. Sein gesamtes Vermögen wurde vom nationalsozialistischen Staat eingezogen.

Brigitte Heidenhain

 

Quellen:

BLHA Rep. 3 B I Pol, Nr. 916 (1807)
BLHA Rep. 3 B I Pol, Nr. 1129 (1853)
BLHA Rep. 3 B I Pol, Nr. 1186 (1854-1891)
BLHA Rep. 36 A (II), Nr. 36512 (1938-1942)
BLHA Rep. 203 AVE, Bet 834
ZLB Berliner Adressbücher 1799-1943

Heinrich Simon: Ein Beschneidungsbuch des 19. Jahrhunderts aus der Mark Brandenburg, in: Nachrichtenblatt der Jüdischen Gemeinde in Berlin und des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der Deutschen Demokratischen Republik, 5 Folgen, Juni 1978 bis März 1980.