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Geschichte der Jüdischen Gemeinde in Wittenberge

Foto: Martin Wiesche
Der Platz vor dem Wittenberger Bahnhof heißt seit 2009 Salomon-Herz-Platz

Während die Städte der Umgebung, wie etwa Perleberg, bereits seit dem Mittelalter jüdische Bevölkerung aufwiesen, ließen sich in Wittenberge erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts Juden nieder. Im Jahre 1847 lebten dort sieben jüdische Bürger, in den 1860er und 1870er Jahren stieg deren Zahl auf etwa 30 Personen.

Dementsprechend existierte in Wittenberge auch keine eigene jüdische Gemeinde, vielmehr waren die Wittenberger Juden der Gemeinde in Perleberg angeschlossen. Einzig ein Schächtraum stand ihnen zur Verfügung. Erst am 14. November 1923 konnte in Wittenberge eine jüdische Gemeinde gegründet werden, der 10 Männer, 9 Frauen und 13 Kinder angehörten.

Doch auch ohne Gemeinde wurde die Stadt Wittenberge von ihren jüdischen Bürgern erheblich geprägt. Allen voran ist der Industrielle Salomon Herz zu nennen, der 1825 aus Bernburg im heutigen Sachsen-Anhalt nach Wittenberge kam. Da im Staat Preußen 1820 die Mühlengerechtigkeit aufgehoben worden war, nutzte Salomon Herz die Gelegenheit, in Wittenberge eine Ölmühle zu errichten. Dabei handelte es sich nicht nur um den ersten Industriebetrieb der Stadt, sondern auch um die erste Ölhandelsgesellschaft im deutschsprachigen Raum. Mit Ölsaaten, die aus aller Welt eintrafen, teilweise sogar aus Indien, wurden hauptsächlich technische Öle wie Leucht- und Schmiermittel produziert, Speiseöl spielte nur eine untergeordnete Rolle.

Neben seiner Tätigkeit als Kaufmann beteiligte sich Salomon Herz auch als Aktionär an der Berlin-Hamburger und der Magdeburg-Wittenberger Eisenbahngesellschaft. Damit trug er maßgeblich dazu bei, dass die wichtige Verbindung zwischen Berlin und Hamburg über Wittenberge geführt wurde.

Salomon Herz verstarb 1865 in Berlin, wo er auch begraben liegt. Seine beiden Söhne blieben Wittenberge jedoch weiterhin verbunden. So riefen sie 1873 aus Anlass des 50jährigen Bestehens der Ölmühle zwei Stiftungen ins Leben, die erwerbslose Arbeiter sowie weitere Bedürftige unterstützten und engagierten sich auch darüber hinaus für soziale Projekte.

Aufgrund der Verdienste der Familie Herz wurde 1898 die vormalige Mühlenstraße in Herzstraße umbenannt. Während des Dritten Reiches erhielt diese Straße jedoch abermals einen neuen Namen, und so heißt sie bis heute Bad Wilsnacker Straße.

In den 1920er Jahren geriet die Ölmühle in wirtschaftliche Schwierigkeiten und wurde von dem deutsch-amerikanischen Kaufmann Louis (Ludwig) Roever übernommen, der den Betrieb sanierte, sodass er bis 1951 tätig bleiben konnte. Heute stehen die Gebäude unter Denkmalschutz und beherbergen ein Hotel, das in seiner hauseigenen Brauerei das „Herz-Bräu“ herstellt.

Im Jahre 1904 begann ein weiteres jüdisches Unternehmen in Wittenberge eine Fabrik zu errichten: Die Firma Singer aus den USA, die hier ein Nähmaschinenwerk erbaute. Auch dieses Werk hat mittlerweile die Produktion eingestellt, doch im Stadtbild ist noch der Uhrenturm sichtbar, der zum Zeitpunkt seiner Errichtung die zweitgrößte Turmuhr Europas (nach dem Big Ben in London) trug.

Mit Beginn des 20. Jahrhunderts und vor allem nach 1933 verringerte sich die Zahl der jüdischen Einwohner in Wittenberge deutlich. Im Jahr der „Reichskristallnacht“ 1938 verzeichnete die Gemeinde nur noch drei zahlende Mitglieder, insgesamt lebten zu diesem Zeitpunkt noch etwa 30 bis 40 Menschen in der Stadt, die jüdisch oder „jüdischer Abstammung“ waren. Die meisten konnten emigrieren, 18 Personen wurden in Lager oder Ghettos deportiert.

Damit war die Geschichte der Juden in Wittenberge jedoch noch nicht beendet. In Wittenberge befand sich ein Werk der Phrix AG, das Zellstoff produzierte und 300 polnische Juden als Zwangsarbeiter erhielt. Aufgrund deren schlechten Gesundheitszustands starben 12 der Häftlinge in Wittenberge, die übrigen waren kaum arbeitsfähig und wurden gegen KZ-Häftlinge ausgetauscht. Im Juni 1943 befanden sich keine jüdischen Häftlinge mehr in Wittenberge. Ihr weiteres Schicksal ist nicht bekannt, ihre Überlebenschancen dürften jedoch sehr gering gewesen sein.

Martin Wiesche

Quellen und Literatur:

Buggeln, Marc: Wittenberge, in: Benz, Wolfgang und Barbara Distel: Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 5, S. 539-543.

Muchow, Heinz: Die Ölmühle zu Wittenberge, Wittenberge 1997.Muchow, Heinz: Wie Wittenberge einst die „Stadt der Nähmaschinen“ wurde, 2. Aufl., Wittenberge 1999.

Rodegast, Günter: Aus der Geschichte der Juden in Wittenberge, Wittenberge 1996.

Weißleder, Wolfgang: Der gute Ort. Jüdische Friedhöfe im Land Brandenburg, Potsdam 2002.

www.jüdische-gemeinden.de/index.php/gemeinden/p-r/1563-perleberg-brandenburg, letzter Zugriff am 01.06.2017.