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[Anmerkungen] [Bibliographie] [Zitierhinweis]

Naphtali Herz Ulmann - נפתלי הרץ אולמן

(1731 Mainz – 22. Juni 1787 Den Haag), Philosoph

Biographie

von Roland Tasch

Naphtali Herz Ulmann war ein jüdischer Gelehrter im 18. Jahrhundert.

Die Geschichte wird von vielen einfachen Menschen getragen, die zusammen das gesellschaftliche Leben formen. Sie stehen oft außerhalb des allgemeinen Interesses und werden deshalb gerne vergessen. Naphtali Herz Ulmann war einer von ihnen. Seine Schriften erhielten niemals die Bedeutung, die er sich vielleicht für sie erhofft hatte. Er arbeitete eifrig und ohne aufsehenerregenden Erfolg und lernte dabei die Großen seiner Welt kennen. Er schickte ein Werk in deutscher Sprache an Moses Mendelssohn,[1] der ihn durch einen Antwortbrief ehrte, in welchem die Intentionen der Arbeit löblich erwähnt, ihr Schreibstil aber kritisiert und die bereits zugesagte Finanzierung zurückgehalten wurde.[2] Er wendete sich wegen einer Druckerlaubnis an Saul Löwenstamm, den Rabbiner der hochdeutschen Gemeinde zu Amsterdam, und wurde milde, aber entschieden abgewiesen.[3] Und als er sich dem berühmten Benjamin Cohen näherte, dessen Geldhahn den europäischen Höfen immer offenstand, bekam er gerade genug, um eines seiner Bücher drucken lassen zu können.[4] Wie er sein Brot verdiente ist unbekannt, gewiß aber war sein Leben schwer und zuweilen hart.

Naphtali Herz Ulmann wurde 1731 in Mainz geboren. Er wuchs im Hause seines Vaters Jehuda Leib heran, der ihm eine seiner Zeit gemäße, traditionelle Erziehung zukommen ließ. Später setzte er seine Studien an der berühmten Jeschiwa des großen Gelehrten Samuel Helmann in Mannheim fort.[5] Rabbiner Helmann zog 1751 nach Metz, und es dürfte um diese Zeit gewesen sein, daß Ulmann nach Mainz zurückkehrte. Hier genoß er noch bis zum Jahre 1767 das Schutzrecht der Stadt. Hier heiratete er, gründete einen Hausstand und wurde Vater dreier Kinder.[6] Und hier sah er schließlich auch mit an, wie sein Vater durch „die Kinder Edoms“ zu Tode gebracht wurde.[7]

Ulmann ging nach Holland. Im Sommer 1767 reagierte er auf eine Preisfrage, die am 21. Februar 1766 vom Legatum Stolpianum zu Leiden ausgeschrieben worden war.[8] Das Thema betraf den ontologischen Beweis Gottes. Die Frage lautete, ob aus der Vorstellung eines notwendigen Wesens dessen wirkliche Existenz apriori abgeleitet werden könne. Ulmanns ursprünglich hochdeutsch verfasste Antwort erreichte die Kuratoren des Legats am 27. Juni 1767 in einer niederdeutschen Übersetzung.[9] Sie erhielt keinen Preis. Von diesem Moment an scheint Ulmann wenig Zeit gehabt zu haben. Neben den religiösen Pflichten und der Sorge um den Lebensunterhalt schrieb er in fieberhafter Tätigkeit eine große Anzahl Bücher philosophischen oder religionsphilosohphischen Inhalts, kopierte sie unter anderem für seinen Gönner Benjamin Cohen,[10] und verfaßte einige kurze Abhandlungen.

Schon früh verspürte Ulmann eine Neigung „zur Untersuchung und Entdeckung der Wahrheit“.[11] Noch im Jahre 1785 schaudert ihm bei den Gedanken an drei Persönlichkeitstypen, die ihm seit seiner Jugend verfolgten. Sie gaben vor im Dienste der Wahrheit zu handeln, lebten in Wirklichkeit aber in einer Art Wahn.[12] Es handelt sich dabei um den Betrüger, den Glaubensfanatiker und den autoritären Leiter.

Den Betrüger beschreibt Ulmann als ein Individuum, das andere scheinheilig vor seinen Karren spannt, um den eigenen, egoistischen Interessen frönen zu können. Der Glaubensfanatiker ist jemand, der eine vorschnelle Erlösung der Menschen anstrebt, sich dabei selber aber zugrunde richtet. Und der autoritäre Leiter interpretiert das allgemeine Recht nach eigenem Ermessen. Von diesen drei Typen ist der letzte der gefährlichste. Denn während der Lügner unter einer ordentlichen Tracht Prügel schnell sein wahres Gesicht sehen läßt, und die Manie des Selbstvergessenen nach einer gewissen Zeit und durch die Kunst des Arztes zu heilen ist, ist das Problem des Autoritären nicht so einfach aus der Welt zu schaffen. Der Autoritäre verstrickt sein Gegenüber in spitzfindige Wortspaltereien, wobei er von einem in ihm selber gründenden Recht ausgeht. Und das heißt, daß er die Wahrheit je nach Gelang und immer zu seinen Gunsten beugen kann. Der Autoritäre wird in jedem Fall Recht behalten.

Ulmann begegnete in seinen jungen Jahren aber noch einem anderen Menschenschlag. Und der sollte sein weiteres Leben bestimmen. Es handelt sich hierbei um den Denker, der zugleich Mathematiker und Naturwissenschaftler ist. Einmal – berichtet Ulmann – kam ein Mann aus Sachsen herüber nach Mainz gezogen. Der Unbekannte lies den Notablen der Stadt allerlei kleine Wunder sehen und entdeckte ihnen schließlich deren natürliche Ursache. Die Demonstration hinterließ einen tiefen Eindruck. Ulmanns Verlangen nach Wahrheit konnte befriedet werden. In der Vergangenheit hatte er versucht selber einen Weg zur Wahrheit zu finden. Er hatte Zeit freigemacht, um sich, neben dem traditionellen Studium von Mischna, Gemara und Talmud, mit den Schriften der großen jüdischen Philosophen des Mittelalters zu beschäftigen. Er las Gersonides, Joseph Albo, Abravanel und natürlich den Maimonides. Und obwohl er deren Werke mit großem Fleiß studierte, mußte er feststellen, „daß sie ohne vorhergegangene Fertigkeiten in den edlen Wissenschaften gänzlich unfruchtbar blieben“.[13]

Seit der Begegnung mit dem Mann aus Sachsen bewegte sich Ulmanns Welt auf einer neuen Kreisbahn. Er beschäftigte sich mit Plato und Aristoteles und behauptet, deren Metaphysik sei nichts anderes als „eine Lehre der Prinzipien und für einen Großteil auch Theologie“.[14] Die mittelalterlichen Erklärungen, die der Metaphysik der Griechen folgten, nennt er „mächtig verwirrt und sehr düster“.[15] Er sagt, sie hätten die verschiedenen Wahrheiten weder gründlich untereinander verbunden, noch durch eine absolute Beweisführung unterbaut. Dies veränderte sich eingehend als „jene zwei Mathematiker und weltgrößten Philosophen, der Deutsche Herr Leibniz und der Deutsche Herr Wolff, kamen“. Seit Ulmann dem Fremden aus Sachsen begegnet war, hatte er sich diesen beiden Philosophen mit Herz und Seele verschrieben. Denn nicht nur „entfernten sie jene Unsicherheiten und Undeutlichkeiten“ des finsteren Mittelalters, sondern sie ließen auch die Zweifel von Naphtali Herz Ulmann schmelzen wie Schnee in der Sonne. Die reine Wahrheit wurde nun eine beweisbare und für jeden ersichtliche Größe. Er betont, daß, wenn die „die Gesetze der sauberen Logik“ auf die „Spekulation von Gott und die Dinge der sichtbaren Welt“angewendet würden, dies sowohl „für den Menschen selbst als auch für den allgemeinen Staat“ von höchstem Nutzen wäre.[16]

Das Leben jedoch ist keine berechenbare Größe. Als Ulmann nach Amsterdam kam, wohnten in der Stadt sehr viele Juden, von denen die meisten am Rande des Existenzminimums lebten. Das ließ dem Oberrabbiner Saul Löwenstamm nur wenig Zeit um über „Naturwunder und göttliche Gründe als beweisbare Themen nachzusinnen“.[17] Ulmann kostete das seine Druckerlaubnis. Er kümmerte sich jedoch nicht darum und ließ, ohne den Segen des Rabbiners, im Jahre 1769, seine zwei Jahre eher verfaßte Antwort auf die Preisfrage des Legatum Stolpianum drucken. Es wurde kein Erfolg. Sein Thema war „dermaßen kompliziert und düster vorgetragen, und obendrein in ein so mißfälliges Holländisch übersetzt“,[18] daß der Kritiker dem Leser nur wenig Befriedigung bei der Lektüre versprechen konnte. Der Rezensent hatte auch ganz richtig bemerkt, daß dem Autoren „Schwierigkeiten unter seiner jüdischen Nation entstanden“ waren.[19] Ulmann verzog nach Den Haag. Hier wurde 1781, zwölf Jahre nach dem Unglück in Amsterdam, sein erstes hebräisches Werk publiziert. Es behandelt die wissenschaftlichen Grundlagen seines rationellen Denkens, und war als das erste in einer Reihe anderer gedacht. Es sollte sein letztes bleiben.

Denn inzwischen wurde in Königsberg das rationelle Denken einer fundamentalen Kritik unterworfen. Die Wissenschaft bog sich über den – wie Mendelssohn ihn nannte – „alles zermalmenden Kant“ und kritisierte ihn ihrerseits. Von dieser Bewegung blieb Ulmann gänzlich unberührt. Er übersetzte noch im Jahre 1786 zwei Werke Wolffs ins Hebräische.[20] Da seine Zielgruppe aber den Bedeutungsgehalt der Wolffschen Dogmatik nicht erfassen konnte – und es vor allem auch gar nicht wollte –, mußte Ulmann scheitern. Er hatte die Kraft seines Sprachmediums und die Aufnahmebereitschaft seines Publikums nicht gut eingeschätzt. Außerdem war ihm der letzte Gipfelsturm der Philosophie entgangen. Er war nicht mehr zeitgemäß. Dafür hatte er aber ein zeitgemäßes Problem. Der ohnehin nicht ergiebige Geldfluß versiegte. Seine Sponsoren wendeten sich anderen zu.

Am 22. Juni 1787 starb Naphtali Herz Ulmann im Alter von nur 56 Jahren. Er erlag einem Herzversagen.[21] Die jüdische Gemeinde von Den Haag setzte ihn auf eigene Kosten bei. Auf seinem Grabstein wird er als ein der Mathematik und Naturlehre kundiger Religionsphilosoph gewürdigt.[22]


Anmerkungen

[1] Siehe Ulmanns Apologia, Amsterdam 1769, S. 3. Das Werk liegt in der Freien Universität von Amsterdam. [2] HS Bodleian 1397 (Meamar ha-Elohut), Fol. 11b. Ulmann hat den Brief von Mendelssohn selber kopiert und seinem Werk vorangestellt. Siehe auch: Moses Mendelssohn. Gesammelte Schriften, Stuttgart 1974, Brief Nr. 179; hebräisch Bd. 19, S. 203f; deutsch Bd. 20-2, S. 328. R.W. Munk bemerkt zu diesem Brief kritisch, daß es keineswegs sicher sei, ob Mendelssohn diesen Brief tatsächlich geschrieben habe, da uns das Original nicht erhalten geblieben ist (s. R.W. Munk: Naftali Herz Ulman, een vroege maskil, inaugurele Rede, 4. Nov. 2003, S. 16). [3] HS Bodleian 1397, Fol. 7a-b. [4] Chokhmat ha-Schoraschim, Den Haag 1781. Das Werk liegt in der Universitätsbibliothek von Leiden mit einer besonders schönen Marge und in der Bibiotheca Rosenthaliana in Amsterdam. [5] HS Warner 86-1 (Sela ha-Machaloqet), Fol. 143a. [6] Ganz herzlich danke ich Herrn Josef Heinzelmann für die Mühe und die Bereitschaft, mit der er mir diese Informationen aus dem Herdschillingsregister in Mainz hat zukommen lassen. [7] HS Ez Chaim 47 D 32 (Sod ha-Maschiach), Deckblatt. [8] Siehe zur Geschichte des Legatum Stolpianum: Legatum Stolpianum: History and Archives of the Leiden Prize Competitions in Natural Theology and Moral Philosophy, 1754-2004, Leiden 2004, S. 11-35. [9] Bei dem Übersetzer handelte es sich um Adolph Frederik Maris. Die Arbeit liegt in Leiden (Stolp B 7.19) und trägt den Titel: Demonstratio de existentia & attributo DEI à priori. Das Werk wurde 1769 unter dem Titel: Betoog van het aanwezen Gods en deszelfs eigenschappen apriori gedrukt. Hier zeichnet als Übersetzter ein gewisser »S.«, was auf Salomon Asser deuten könnte. Siehe zu dem Werk, seine Übersetzer und Ulmanns Beziehungen in Holland: R.W. Munk: Naftali Herz Ulman, een vroege maskil, inaugurale Rede, Leiden 4. Nov. 2003, S. 4ff. [10] Die Kopien betreffen den aus zwei Teilen bestehenden Chokhmat ha-Elohut und liegen in Oxford (HS Bodleian 1398 und 1399). Das Deckblatt des ersten Teils trägt ein golden verziertes Ledermedallion mit einer Widmung an Benjamin Cohen. In Leiden liegen die Originale (HS Warner 126 und 86d-c). Die Paragraphenzählung der Arbeit ist hier unvollständig. [11] Apologia, S. 2. [12] Ich folge im weiteren HS Warner 86 [Or. 4807 (2)], Fol. 143a-144b. Die Folios sind wegen der biographischen Informationen besonders wertvoll für uns. Ulmann spricht in diesem Text von einem Mann „der aus dem Lande Sagsonia (sc. Sachsen) – das in Aschkenas (sc. Deutschland) liegt – in die Stadt meiner Geburt Mainz kam“ (Fol.143a, Zeile 10-11). Auch sahen seine Augen, als er „im Lande Pfalz, in der Stadt Mannheim, in der Jeschiwah des großen Gelehrten und Genies Rabbie Helmann, gesegneten Andenkens“, lehrte (Fol. 143a, Zeile 16-17), jenen Betrüger, den Ulmann einen „Possen-Macher“ nennt (Fol. 143b, Zeile 24). Und dann berichtet er noch von einer Sache, die „in Frankfurt stattfand“, wo „in der Nähe von Mainz“ (Fol. 144a, Zeile 5-6) ein Mann ganze Nächte mit dem Studium kabbalistischer Bücher verbrachte (Fol. 144, Zeile 9-10), was ihn am Ende beinahe um den Verstand gebracht hätte. [13] Apologia, S. 2. [14] Chokhmat ha-Schoraschim, 15a. [15] Ich folge im weiteren HS Warner 126, Fol. 8a-b. [16] Apologia, S. 19f. [17] HS Bodleian 1397, Fol. 7a-b. [18] Nieuwe Vaderlandsche Letteroefeningen, 3. Teil, 1. Stück (Amsterdam 1770), S. 346. [19] Ebd. S. 345. [20] Es handelt sich hierbei um HS Warner 89 und HS Bodleian 1395 (MeHalekh ha-Sekhel) sowie HS Bodleian 1394 (Chokhmat ma sche-achar ha-Teva ha-Qazar). [21] Im Gemeindearchiv von Den Haag finden sich die Sterbedaten Ulmanns. Er wird dort unter „Ulme“ geführt. [22] Der Grabstein ist in Grafzerken Joodse Begraafplaats ’s Gravenhagen, Nr. 833, top. Nr. 9/13; form. Nr. 1613 abgebildet. 

Bibliographie

zusammengestellt von Roland Tasch

Bücher

  • a) Betoog van het Aanwezen Gods b) Apologia, Amsterdam 1769. [Niederländisch]
  • חכמת השורשים [Chokhmat ha-Schoraschim], Amsterdam 1781. [Hebräisch]

Handschriften

  • Demonstratio de existentia & attribute DEI à priori, Amsterdam (Amersfoort) 1767. [Niederländisch, Übersetzung aus dem Hochdeutschen]
  • מאמר האלוהות [Meamar ha-Elohut], Amsterdam 1768/9. [Hebräisch]
  • פרוש הניפלה על דרך הפילוסופיה האלוהית [Perusch ha-Niphla al Derekh ha-Philosophia ha-Elohit], Haag 1775. [Hebräisch]
  • סוד המשיח [Sod ha-Maschiach], Haag 1776. [Hebräisch]
  • חכמת העולם [Chokhmat ha-Olam], Haag 1779. [Hebräisch]
  • חכמת האלוהות [Chokhmat ha-Elohut], Haag 1782. [Hebräisch]
  • חכמת הנפש [Chokhmat ha-Nefesch], 3. Teile, Haag 1784-1785 (?).[Hebräisch]
  • מאמר היחוד [Me’amar ha-Jichud], Haag 1785. [Hebräisch]
  • שער היחוד החדש [Scha’ar ha-Jichud ha-Chadasch], Haag 1785. [Hebräisch]
  • מהלך השכל [Me-Halekh ha-Sekhel], Haag 1786. [Hebräisch]
  • חכמת מה שאשר הטבע הקצר [Chokhmat ma sche-Acher ha-Teva ha-Qazar], Haag 1786. [Hebräisch]

Zitierhinweis:

Roland Tasch: Naphtali Herz Ulmann. Biographie und Bibliographie (Version II, 2017), in: haskala.net. Das online-Lexikon zur jüdischen Aufklärung / hg. von Christoph Schulte, URL<>, letzter Zugriff [Datum, Uhrzeit].