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[Anmerkungen] [Zitierhinweis] [Portrait]

Raphael Levi

(1685 Weikersheim/Tauber – 17. Mai 1779 Hannover)

Foto: © Historisches Museum Hannover
Portrait des Raphael Levi, nach 1760

Biographie

von Christoph Schulte

Raphael Levi wurde 1685 in Weikersheim an der Tauber in Franken geboren und vermutlich schon im Knabenalter in eine angesehene Jeschiva in Frankfurt am Main gegeben, um wie sein Urgroßvater, R. Raphael Levi aus Hanau, Rabbiner zu werden. Nach dem Tod seines Vaters Jakob Josef Levi kehrte Levis Mutter Eva in ihre Geburtsstadt Hannover zurück, wo sie 1706 starb. Unklar ist, ob Raphael Levi dann wegen des Todes seines Vaters aus Geldnot die Jeschiva verlassen mußte; jedenfalls kommt er in den Jahren nach 1700 ebenfalls nach Hannover, wo er als Buchhalter im Bankhaus des Simon Wolf Oppenheimer, dem Sohn des einflußreichen kaiserlichen Hofjuden Samuel Oppenheimer in Wien und Hannoveraner Residenten des Bankhauses Oppenheimer, angestellt wird.[1]

Levi hat sich in diesen Jahren in Hannover autodidaktisch Kenntnisse des Lateinischen und Französischen, der Mathematik und Physik aneignet. Dann begegnete er dort dem Universalgelehrten, Philosophen und Hannoveraner Hofbibliothekar Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) und wurde dessen Schüler.

Foto: © Historisches Museum Hannover
Portrait des Raphael Levi, nach 1760

„Man erbauete damals den Marstall in Hannover. Raphael Levi sah den Arbeitern zu und bemerkte, daß sie eben in Gefahr standen, bey der Grundlegung einen großen Fehler zu begehen. Er trat hinzu und zeigte, wie sie leichter ihren Zweck erreichen könnten. Seine Unterredung hörte der Ingenieur-Major Mölling und fand die Bemerkung dieses Juden gegründet; jener war aufrichtig genug u gestehen, daß er zwar wohl würde den Fehler, aber nicht dies vorgeschlagene Mittel, demselben abzuhelfen, entdeckt haben. Bey dem Gespräch, in welches sich der Major mit Raphael einließ, fand er so viele Kenntnisse bey ihm, daß er voll Verwunderung fragte: wo er diese Kenntniß her habe? — ich gebe mir Mühe etwas zu wissen, wo ich Gelegenheit habe, versetzte Raphael. — Hat er denn wohl Lust, es recht weit zu bringen? — Mit Freuden! — war die Antwort, — allein das kostet zu viel. Diese Unterredung gründete indessen das ganze Glück unseres jungen Mathematikers [...][2] Der Major bestellt ihn nemlich bald darauf nach seinem Hause, und gab ihm ein Billet an Leibnitz. Es war ein Vergnügen zu hören, wie der alte achtzigjährige Greis die Empfindungen beschieb, mit welchen er damals in das Leibnitzsche Haus und in das Zimmer trat, worin er gewürdigt werden sollte, mit einem Manne zu sprechen, den jeder andere Jude  damals mit dem geringen und vornehmen christlichen Pöbel, für einen Zauberer hielt, dessen Geistesgröße aber Raphael lange mit Ehrfurcht empfunden hatte. Leibnitz that einige wenige Fragen auf ihn über eine Sonnenuhr, welche gerade da stand, und gab ihm sodann, ohne daß sich das geringste weder von Beifall noch von Tadel aus seinem Bezeigen schließen ließ, den Auftrag an Oppenheimer: er möge ihn besuchen, er habe ein Geschäft mit ihm. Oppenh. Erschien, — nach einiger Erkundigung über die Aufführung des jungen Menschen, fragte Leibnitz ihn endlich, wie viel er denn, als ein reicher Mann , wohl anlegen wollen, um seinen Buchhalter weiter zu bringen? Er weiß, setzte er hinzu, wohlfeil bin ich nicht: unter 300 Rthlr. nehme ich nicht in Unterweisung. Oppenheimer entschloß sich ohne Bedenken dazu. Nun sagte L., ich sehe, er hält viel auf den jungen Menschen; er ist ein rechtlicher Mann: ich verlange nichts; schicke er ihn her. Jetzt gieng Raphael täglich zu L., zog in sein Haus, und wohnte endlich 6 Jahre beständig bey ihm.“[...][3]

Levi wurde auf Empfehlung des Ingenieur-Majors Mölling, der beim Bau des Marstalls in Hannover (ca. 1710 abgeschlossen) auf Levi aufmerksam geworden war, bei Leibniz vorgelassen. Leibniz hat den jungen Juden Raphael Levi mit Einwilligung von Simon Oppenheimer zunächst als Schüler akzeptiert und ihn dann sechs Jahre lang als Adlatus, Amanuensis oder Privatsekretär (darüber gibt es keine verläßlichen Quellen) in seinem Haus beschäftigt. Als Leibniz ab einem Zeitpunkt zwischen ca. 1705 und 1710 Levi für sechs Jahre tagtäglich in seinem riesigen Haus, das zugleich die Hannoveraner Hofbibliothek beherbergte, unterrichtete und arbeiten ließ (irgendwann zwischen 1705 und 1710), verfügte Levi als vormaliger Schüler einer Jeschiva schon über gute Kenntnisse der rabbinischen Tradition, des Talmud und zumindest der halachischen Werke des Maimonides, vor allem der Mischne Tora (‚Wiederholung der Tora’), dem bedeutendsten halachischen Werk des Mittelalters. Beim Universalgelehrten Leibniz, der u.a. die Infinitesimalrechnung revolutionierte und Rechenmaschinen baute, lernte Levi darüber hinaus intensiv Mathematik und Astronomie. Levi verehrte Leibniz zeitlebens mit größter Hochachtung als seinen Förderer und Lehrer; in Anerkennung seiner Dienste schenkte Leibniz ihm ein Porträt seiner selbst, das sich heute im Besitz der Universität Göttingen befindet.

Im Jahr 1717, ein Jahr nach dem Tod von Leibniz, erhielt Levi durch ein Regierungsrescript eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung für Hannover, er verdiente seinen Lebensunterhalt als „Rechenmeister“, unterrichtete Juden wie Nichtjuden in Buchhaltung und Arithmetik, Physik und Astronomie, heiratete, zeugte sieben Kinder und war ein angesehenes, religiös observantes Mitglied der jüdischen Gemeinde.[4] Mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Tod von Leibniz begann er, eigene und eigenständige Werke zu schreiben und zu publizieren. Und zwar hebräische Bücher für das jüdische Publikum und wissenschaftliche deutsche Bücher für die deutsche Leserschaft. Philosophisch bleibt er dabei ein treuer Anhänger von Leibniz, so wie unter seinen jüdischen Zeitgenossen nur die eine Generation jüngeren Philosophen Naftali Herz Ulmann (1731-1787) und Moses Mendelssohn (1729-1786). Aber in seinen wissenschaftlichen Werken löst Levi sich ganz aus der Rolle des Leibniz verpflichteten Schülers und zeigt sich als intellektuell unabhängiger Forscher und Autor.

Haskala in Bildern

Raphael Levi in der bildenden Kunst: Erfahren Sie mehr über das Portrait des Aufklärers

Ein philosophisches Werk ist von Levi nicht bekannt, aber aus einem ehrerbietigen Antwortbrief Mendelssohns an den alten Levi aus dem Jahr 1767 (Levis Brief an Mendelssohn über dessen Phaedon ist leider verloren gegangen) wird deutlich, daß a) beide sich als Philosophen sehen und adressieren, sich b) ganz selbstverständlich in der Nachfolge der Metaphysik von Leibniz (Mendelssohn auch der von Christian Wolff) bewegen und c) bei den Konstanzbeweisen zur Unzerstörbarkeit von nichtmateriellen Substanzen wie Seelen, wie sie in Mendelssohns Phaedon (1767) thematisch sind, die philosophische Monadenlehre von Leibniz (vgl. dessen Monadologie, 1710) voraussetzen.[5]

Raphael Levi hat anders als Mendelssohn nicht bei Leibniz' Philosophie angeknüpft, er hat keine philosophischen, sondern astronomische und mathematische Werke verfaßt.[6] Aber es ist für sein Selbstverständnis als Aufklärer kennzeichnend, daß er sich nicht als reiner Naturwissenschaftler, sondern auch als Philosoph begreift. Kenntnisse der Philosophie und der Wissenschaften gehören für Levi beide zur Aufklärung. Hierin bleibt er nicht nur Leibniz treu, sondern er folgt auch seinem jüdischen Gewährsmann: dem wichtigsten jüdischen Philosophen des Mittelalters, Moses Maimonides (1135-1204). Für Maimonides zeichnet den wahren jüdischen Weisen aus, daß er Kenntnisse der Physik und der Metaphysik verbindet mit halachisch observanter Lebensweise und rabbinischer Gelehrsamkeit. In seinem Hauptwerk More Nevuchim ('Führer der Unschlüssigen', 1190) hatte Maimonides gleich im Widmungsschreiben an R. Joseph ben Jehuda zu Anfang festgelegt, daß dieses Hauptwerk der mittelalterlichen jüdischen Philosophie geschrieben ist für rabbinisch gelehrte, observant lebende und moralisch gefestigte jüdische Gelehrte, die solide Kenntnisse in den Wissenschaften erworben haben und dadurch zur Philosophie vorbereitet sind. Metaphysik, Ma'ase Merkaba, kann man nicht studieren ohne Physik, Naturwissenschaften, Ma'ase Bereschit.[7] Kenntnisse der Philosophie gehen sonach für Raphael Levi mit solchen der Naturwissenschaften Hand in Hand, selbst wenn ein Naturwissenschaftler keine philosophischen Werke verfaßt hat.

Dennoch gibt es einen spezifischen Unterschied zwischen dem mittelalterlichen Selbstverständnis des Maimonides und dem des jüdischen Aufklärers Raphael Levi. Levi versteht sich nämlich nicht nur als umfassend ausgebildeter Wissenschaftler, Gelehrter und Philosoph, sondern, wie die Interpretation seines Porträts zeigen wird, in einem spezifisch modernen Sinn als Forscher, der Wissen nicht einfach tradiert, sondern generiert, neu schafft und damit den Wissensstand der eigenen Zeit mehrt.

Raphael Levi war ein früher jüdischer Aufklärer, der nicht mit der rabbinischen Tradition gebrochen hat, sondern bis zu seinem Tod am 17. Mai 1779 halachisch observant lebte und versuchte, die Kompatibilität von jüdischer Tradition, Aufklärung und moderner Naturwissenschaft zu erweisen und vorzuleben. Als Astronom und Mathematiker, als Forscher geht er eigene Wege über Leibniz hinaus, allemal in seinen hebräischen Büchern, die bei Maimonides anschließen, aber dessen ptolemäische Astronomie und Kosmologie kopernikanisch überwinden. Mit Luchot HaIbbur („Tafeln der Monatszyklen“, Leiden 1756/57) hatte Levi ein zweibändiges astronomisches Werk mit Kalendertafeln vorgelegt; mit Techunot HaSchamajim (‚Himmlische Astronomie“, Leiden 1756) brachte den jüdischen Lesern das kopernikanische Weltbild nahe. Als Mathematiker betrieb er eine von allen jüdischen wie nichtjüdischen Gelehrten respektierte exakte Wissenschaft, die ihn, anders als etwa die Philosophie, wegen ihrer religiösen und weltanschaulichen Neutralität weder in Konflikte mit Rabbinern noch mit der christlichen Obrigkeit bringt.[8]

Raphael Levi ist dabei nicht mit dem eigenen Erfolg zufrieden gewesen und stehen geblieben, er hat aktiv auch die Aufklärung anderer Juden befürwortet und befördert. So hat Isaak Euchel, der Kulturrevolutionär der Haskala, großer Autor und Erneuerer der hebräischen Sprache unter den Maskilim der Berliner Haskala, drei Jahre in Hannover bei Raphael Levi gelernt. Raphael Levi ist damit ein Vorläufer der Haskala, jener jüdischen Aufklärungsbewegung, die sich nach 1770 im Kreis um Mendelssohn in Berlin bildet. Levi ist noch ein Einzelkämpfer, aber einer mit Schülern und Nachahmern, ein weithin bekanntes Vorbild und der lebendige Beweis, daß ein Jude bei Juden und Nichtjuden als Aufklärer, als Wissenschaftler und als moralische Person Anerkennung finden kann. Dennoch unterscheidet sich Levis jüdische Aufklärung in zwei wichtigen Punkten von der Berliner Haskala: Anders als Levi, der in Hannover seinen Aufstieg seinen Verbindungen zum Milieu der privilegierten Hofjuden verdankt, fordern die jüdischen Aufklärer in Berlin die bürgerliche Verbesserung aller Juden im preußischen Staat, Bürgerrechte und bürgerliche Gleichstellung. Sie wollen nicht mehr Privilegien für einzelne Juden und ihre Familien, sondern bürgerliche Rechte für alle Juden. Die Berliner Haskala, einschließlich ihrer Bugfigur Mendelssohn, agiert politisch und verfolgt, neben der Forderung nach mehr Wissen und Bildung für die Juden, eine Verbesserung des juristischen und politischen Status der Juden im Spätabsolutismus. Von Levi ist dergleichen nicht bekannt, er ist vor Beginn der von Christian Wilhelm Dohm 1781 angeregten Debatte um die bürgerliche Verbesserung der Juden gestorben. Die frühen jüdischen Aufklärer wie Levi waren noch unpolitisch, agierten als gelehrte Einzelkämpfer und waren nicht in einer Bewegung organisiert.

Zusammenfassend läßt sich sagen: In Raphael Levi treffen sich exemplarisch europäische Aufklärung und frühe jüdische Aufklärung. In der Geschichte von Judentum und Aufklärung steht Raphael Levi an einem Übergang. Er steht als Vorreiter exemplarisch für die Öffnung der jüdischen Gemeinschaft gegenüber der Aufklärung. Auch Spinoza (1632-1677) war ein jüdischer Aufklärer gewesen, aber einer außerhalb der jüdischen Gemeinschaft, ein von ihr Gebannter. Raphael Levi ist demgegenüber einer der ersten jüdischen Aufklärer, die zu Anfang des 18. Jahrhunderts innerhalb der jüdischen Gemeinschaft zu wirken beginnen, derselben treu und religiös observant bleiben und der Aufklärung im aschkenasischen Judentum Anerkennung, erste Anhänger und einen Platz verschaffen.

Literatur

  • Christoph Schulte: Leibniz und sein „Schüler“ Raphael Levi. In: D. Cook, H. Rudolph, Ch. Schulte (Hg.): Leibniz und das Judentum. Stuttgart 2008, S. 35-47.
  • Steven und Henry Schwarzschild: Two Lives in the Jewish Frühaufklärung. Raphael Levi Hannover and Moses Abraham Wolff. In: Leo Baeck Year Book. 29 (1984), S. 229-276. In diesem Aufsatz sind die  mathematischen und astronomischen Schriften von Raphael Levi bibliographiert.
  • Moritz Steinschneider: Mathematik bei den Juden (1551-1840). In: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums (1905) Heft 6, S. 723-728.

Anmerkungen

[1] Vgl. Rotraud Ries: Die Residenzstadt Hannover als Kommunikationsraum für Juden und Christen um 1700. In: D. Cook, H. Rudolph, Ch.Schulte (Hg.): Leibniz und das Judentum. Stuttgart 2008, S. 49-77. [2] [Anonym] Monatliche Hefte zur Beförderung der Cultur, 1. Jg. 1789, S. 215-225, zit. S. 215f. [3] Ebd. S. 217-219. [4] Ebd. S. 220-223. [5] Vgl. Christoph Schulte: Leibniz und sein „Schüler“ Raphael Levi. In: D. Cook, H. Rudolph, Ch.Schulte (Hg.): Leibniz und das Judentum. Stuttgart 2008, S. 35-47; hier S. 41f. [6] Bibliographie bei: Moritz Steinschneider: Mathematik bei den Juden (1551-1840). In: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums (1905) Heft 6, S. 723-728. [7] Moses Maimonides: Führer der Unschlüssigen. Übers. u. hg. v. Adolf Weiss (1923). ND Hamburg 1995, S. 1-25, bes. S. 6. [8] Vgl. Christoph Schulte: Die Mathematik in der jüdischen Aufklärung, in: D. Tyradellis u. M. Friedlander (Hg.): 10+5=Gott. Die Macht der Zeichen. Berlin 2004, S. 47-60. 

Zitierhinweis:

Christoph Schulte: Raphael Levi. Biographie (Version II, 2017), in: haskala.net. Das online-Lexikon zur jüdischen Aufklärung / hg. von Christoph Schulte, URL<>, letzter Zugriff [Datum, Uhrzeit].