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„Hier kämpft ein Volk verzweifelt für seine Freiheit“ – Der Historiker Bastian Matteo Scianna über den russischen Krieg in der Ukraine

Portrait von Dr. Bastian Matteo Scianna vor einem Bücherregal.
Photo : privat
Dr. Bastian Matteo Scianna

Am 24. Februar 2022 überfielen russische Streitkräfte die Ukraine – und erschütterten damit die Friedensordnung in Europa und darüber hinaus. Der Historiker Dr. Bastian Matteo Scianna forscht am Lehrstuhl Militärgeschichte/Kulturgeschichte der Gewalt zur deutschen und europäischen Außen- und Sicherheitspolitik sowie zu internationalen Konflikten. Im Interview erklärt er, warum Wladimir Putin den Westen als schwach empfindet, wie schwierig die Belagerung von Millionenstädten ist und welche Unterstützung die Ukrainerinnen und Ukrainer brauchen.

Welche Absicht verfolgt der russische Präsident mit dem Angriff auf die Ukraine?

Es geht Putin um die Revision der geopolitischen Entwicklungen der letzten 30 Jahre und er versucht, Demokratie und westlichen Einfluss von Russland fernzuhalten. Da die Ukraine sich immer mehr dem Westen annäherte, ist sie ihm ein Dorn im Auge. Putin hätte viel lieber „stabile Diktaturen“ wie in Belarus um sich herum. Die angebliche Gefahr durch die NATO oder die Ukraine sind inhaltsleere Ausreden, um einen Angriffskrieg zu rechtfertigen. Niemand hat Russland bedroht.

Nachdem der Konflikt jahrelang schwelte, warum greift Putin ausgerechnet jetzt an?

Putin wird nicht jünger. Auch seine Führungsriege wird immer älter. Es geht hier auch um den Platz in Geschichtsbüchern. Zudem empfindet Putin den Westen als dekadent und schwach. In den USA sieht er einen scheinbar willensschwachen Präsidenten, Frankreich ist im Wahlkampfmodus, in Berlin gibt es eine neue Regierung. Auch die Auswirkungen der Corona-Pandemie beschäftigen den Westen. Hinzu kommt, dass man jahrelang russische Aggressionen unbeantwortet ließ: in Georgien 2008, die Annexion der Krim 2014, das russische Ausgreifen in Syrien, Libyen und zuletzt Mali. Bei der Niederschlagung von Demokratiebewegungen, zum Beispiel in Belarus, ließ man ihn ebenso gewähren. Da der Westen Putin nie entschlossen entgegentrat, hatte er nun auch nicht mit einer entschlossenen Reaktion gerechnet.
Zudem hat sich die Kampfkraft der ukrainischen Armee stetig verbessert – wie wir gerade sehen. Ein Angriff schien aus russischer Sicht daher „sinnvoller“, bevor die Reformen und die Modernisierung der ukrainischen Streitkräfte noch weiter vorangeschritten waren.

Wie wird sich die Situation entwickeln, welche Szenarien halten Sie für möglich?

Wir werden kurzfristig vermutlich eine Verschärfung der Kämpfe erleben. Die russischen Truppen erobern zwar im Süden und Osten einige Gebiete, doch deren Kontrolle und die Sicherung der Versorgungslinien wird nicht einfach. Auch die Einkreisung und Belagerung von Millionenstädten wie Kiew sind ein schwieriges Unterfangen. Sie benötigen Zeit und unglaubliche Mengen an Soldaten, Munition und Verpflegung. Man kann nur hoffen, dass Kiew das Schicksal einer langen Belagerung und Zerstörung erspart bleibt. Dass Putin so etwas skrupellos durchsetzt, hat er in Syrien schon verdeutlicht.
Es wird sich zeigen, wie ernst es Putin mit den Verhandlungen bleibt. Hier ist große Skepsis vor Waffenstillständen und weiteren Kämpfen, aber ebenso Hoffnung geboten. Zugleich sollte der Westen die Ukraine weiterhin mit allen möglichen Mitteln und Waffen unterstützen. Hier kämpft ein Volk verzweifelt für seine Freiheit und es sollte die Entscheidung der Ukrainer sein, wie lange sie dies tun und zu welchem Preis.

Putin droht mit dem Einsatz von Atomwaffen gegen die NATO. Was bedeutet dieser Krieg für die bisherige Weltordnung?

Diese politischen Drohungen sollte man sehr ernst nehmen, aber auch nicht in Panik verfallen oder das Eskalationskarussell weiter anstoßen. Die Biden-Administration hat hier zum Glück bisher sehr besonnen reagiert. Forderungen hinsichtlich eines sofortigen EU- oder NATO-Beitritts sind hingegen verantwortungslos und hochgefährlich. Es gilt zunächst die Ukraine als eigenständigen Staat zu erhalten und den Krieg zu beenden.
Es gibt keine neue Weltordnung, sondern den Versuch, die bestehende abzuschaffen. Wir sind auch in keiner neuen Welt wachgeworden. Vielmehr ist der Politik, speziell in Berlin, klar vor Augen geführt worden, zu was die brutalen Regime dieser Welt willens und fähig sind. Das wurde zu lange ignoriert und man gab sich falschen Illusionen hin. Ohne die USA stünden die Europäer nun ganz blank dar. Das ist ein Zustand, der sich ändern muss. Unsere Werte dürfen wir dabei nicht über Bord werfen oder ganze Nationen als Feinde sehen. Wohl aber müssen wir die Abwehrbereitschaft unserer Demokratien stärken.

Wie schätzen Sie die Haltung der Bundesregierung ein?

Die Bundesregierung hat nur nach massivem internationalen und innenpolitischen Druck ihre zögerliche Haltung geändert. Das war richtig und lange überfällig. Die Waffenlieferungen sind ein wichtiger Schritt, ebenso die Stärkung der ostmitteleuropäischen NATO-Partner. Zugleich sollte man der Ukraine humanitär und wirtschaftlich helfen und an einer diplomatischen Lösung des Konflikts arbeiten.

 

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Published

Online editorial

Sabine Schwarz