Diskutieren statt rezipieren - Flipped Vorlesung in den Kognitionswissenschaften
Dr.-Ing. Sebastian Stober ist Nachwuchsgruppenleiter für Machine Learning in Cognitive Science im Forschungsschwerpunkt Kognitionswissenschaften der Universität Potsdam. Er erforscht Methoden des „Deep Learning“, d.h. künstliche neuronale Netze, mit denen Computer lernen können, verschiedene Sensordaten wie Hirnsignale (EEG), Audio (Sprache/Musik) und Blickdaten (Eye-Tracking) zu verstehen.* Ziel seiner Forschung ist es, damit die Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen Mensch und Computer zu verbessern. Seine Vorlesung “Representation Learning - from a Deep Learning Perspective” im zurückliegenden Wintersemester führte er ganz untraditionell in einem Flipped Classroom-Format durch, hat damit gute Erfahrungen gemacht und uns davon in einem Interview berichtet.
UP2date:Herr Dr. Stober, wie kamen Sie dazu, über tradierte Formate in der Lehre nachzudenken und ihre Vorlesung völlig neu zu konzipieren?
S. Stober: Leider sind die klassischen Lehrformate sehr vortragslastig. Das führt schnell zum “Abschalten” und geringer aktiver Beteiligung. Ich möchte aber die Zeit, die die Studierenden und ich gemeinsam in der Vorlesung miteinander verbringen, besser nutzen. Das sollte für alle ein Gewinn sein. Das Flipped Classroom-Konzept als alternative Möglichkeit habe ich während meines zweieinhalbjährigen Aufenthalts in Kanada kennengelernt, wo es weitaus verbreiteter ist. Es hat mir gut gefallen, nicht einfach schweigend in einer Vorlesung zu sitzen, sondern mich daheim, in meinem eigenen Tempo mit den Inhalten befassen zu können und in Präsenz aktiv zu sein.
UP2date:Wie sieht Ihr Lehrveranstaltungskonzept aus?
S. Stober: Das Konzept verknüpft zwei Hauptelemente: ein Flipped Classroom-Format kombiniert mit Kleingruppenaktivitäten in der “Vorlesung” sowie Forschendes Lehren und Lernen durch ein Kursprojekt.
UP2date:Was bedeutet das ganz konkret?
S. Stober: Die Inhalte - meist ein Lehrbuchkapitel oder eine Zusammenstellung wissenschaftlicher Publikationen - werden von den Studierenden selbständig oder in Gruppen außerhalb der Präsenzzeit erarbeitet. Alles steht online zur Verfügung. Zur Kommunikation außerhalb der Vorlesungszeit nutzten wir einen Campus.UP** Workspace. Dort gibt es ein Forum zur Diskussion und für jeden ein persönliches Lernblog, wo das Gelesene zusammengefasst oder Fragen zum Inhalt gestellt werden können.
Für die Vorlesung selbst bereite ich jeweils eine 3-Minuten-Kurzzusammenfassung vor, um den Kontext herzustellen. Dann folgt gewöhnlich ein Block mit Gruppenarbeiten, die verschiedene Schwerpunkte aus dem zuhause vorbereiteten Stoff aufgreifen. Die Gruppen werden jedes Mal neu zusammengewürfelt, möglichst heterogen. Bei der gemeinsamen Lösung der häufig anspruchsvollen Aufgaben sollen Verständnislücken aufgedeckt und wenn möglich auch gleich geschlossen werden. Ich versuche dabei, möglichst im Hintergrund zu bleiben und nur minimal zu moderieren.
Abschließend folgt ein Block zum Kursprojekt, welches sich durchs ganze Semester zieht. Dieser praktische Teil ist mir sehr wichtig, da man beim bloßen Lesen der Literatur schnell den falschen Eindruck bekommt, dass Deep Learning ganz einfach anwendbar sei. Stattdessen müssen bis zu einer funktionierenden Lösung häufig viele Hürden im Detail genommen werden. Daher wähle ich auch keine einfachen “Toy”-Beispiele für das Kursprojekt.
Dieses Mal haben wir einen modernen Spracherkenner gebaut. Das war sehr anspruchsvoll. Dazu wurden mit der Zeit verschiedene Ideen erarbeitet und verfolgt. In der Vorlesung wurde dann über den Fortschritt in den verschiedenen Gruppen berichtet, diskutiert, warum etwas funktioniert oder nicht, und das weitere Vorgehen geplant. Ein Resultat können Sie sich übrigens am 13. Mai auf dem Potsdamer Tag der Wissenschaften ansehen.
Es wurden keine Inhalte bewertet,
weil ich das für die Motivation beim forschenden Lernen
nicht für förderlich halte.
UP2date:Sie hatten kurz Campus.UP erwähnt. Digitale Medien spielten in ihrem Konzept also auch eine Rolle?
S. Stober: Die Nutzung von Campus.UP spielte eine zentrale Rolle. Die aktive Beteiligung war allerdings nicht verpflichtend. Es wurden keine Inhalte bewertet, weil ich das für die Motivation beim forschenden Lernen nicht für förderlich halte. Ich habe mich deshalb gezielt für Campus.UP entschieden, auch wenn das noch in der Testphase war. Bei Moodle stand mir der Bewertungsaspekt zu sehr im Vordergrund. Ich suchte eher nach einer Plattform für ein soziales Netz zum Zusammenarbeiten, wollte dafür aber nach Möglichkeit keine kommerziellen Anbieter nutzen. Da kam Campus.UP genau zum richtigen Zeitpunkt.
UP2date:Haben die Studierenden dann Campus.UP genutzt, wenn es nicht verpflichtend war?
S. Stober: Das Angebot wurde unterschiedlich stark angenommen. Deutlich über die Hälfte hat regelmäßig gebloggt und gepostet. Einige bevorzugten stattdessen handschriftliche Aufzeichnungen. Im Forum wurden Links zu weiterführenden Informationen wie z.B. Publikationen, Blogs oder Videos gesammelt. Außerdem gab es einige Threads zum Kursprojekt, wo zu verschiedenen Teilaspekten diskutiert wurde. Die Diskussionen liefen allerdings recht langsam, da jeder von selbst nachschauen musste, ob es etwas Neues gibt. Mittlerweile gibt es auch Benachrichtigungen.
Ich schaute mindestens einmal täglich nach neuen Posts und versuchte, alle Fragen möglichst zeitnah zu beantworten. Das war ziemlich aufwendig - für manche Fragen, musste ich selbst erstmal nachlesen -, wurde aber als sehr hilfreich empfunden. Die Fragen dienten auch als Anregung für die Gruppenaktivitäten in der Vorlesung.
Es gab sehr viele positive Rückmeldungen,
die mich in meinem Ansatz bestätigen.
UP2date:Wie wurde das Veranstaltungskonzept im Ganzen von den Studierenden angenommen?
S. Stober: Die Studierenden fragten zu Semesterende: „Und wie geht’s jetzt weiter?“ Es gab sehr viele positive Rückmeldungen in der Lehrveranstaltungsevaluation und auch informell, über die ich mich sehr gefreut habe und die mich in meinem Ansatz bestätigen. Natürlich gibt es auch Ideen für Verbesserungen. Einige fanden z.B. das Kursprojekt zu anspruchsvoll. Das werde ich bei der Planung für die nächste Runde im Wintersemester berücksichtigen. Campus.UP hat sich in der Zwischenzeit auch stark weiterentwickelt und es gibt einige neue Funktionen, die ich einbauen möchte. Insbesondere möchte ich die Online-Interaktion weiter ausbauen, so dass sich die Studierenden auch stärker untereinander helfen können.
UP2date:Was würden Sie Kolleginnen und Kollegen, die bisherige Veranstaltungskonzepte (digital oder analog) verändern oder erweitern wollen, mit auf den Weg geben?
S. Stober: Flipped Classrooms sind ein sehr spannender Ansatz, um die kostbare (begrenzte) Zeit in der Vorlesung effektiver zu nutzen. Ich kann das nur weiterempfehlen. Zu vielen Themen gibt es schon sehr gute Online-Ressourcen, die man dazu nutzen kann. Die Zeit in der Vorlesung muss trotzdem gut geplant werden. Denn sie sollte die Studierenden dazu motivieren, sich auch daheim tatsächlich mit dem Stoff zu beschäftigen. Die Online-Komponenten sind ein wichtiges Mittel, um die Studierenden zum Dranbleiben zu bewegen. Zeitnah beantwortete Fragen helfen den Studierenden in Selbstlernphasen. Die Fragen selbst helfen mir als Rückmeldung, um mich gezielt auf die nächste Vorlesung vorzubereiten. Die Gruppenaktivitäten kann ich zusätzlich als “Druckmittel” benutzen, denn wer hier mitmachen möchte, muss sich vorbereitet haben.
UP2date: Herr Dr. Stober, vielen Dank für das interessante Gespräch und viel Erfolg im neuen Semester!
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* Sebastian Stober wird am 5. Juli im Rahmen der der Ringvorlesung "Lernen - Kognitionswissenschaftliche Perspektiven" einen Vortrag zu "Learning Machines" halten. Interessent*innen sind herzlich eingeladen.
**Campus.UP ist das zukünftige sog. Personal Learning Environment (PLE) der Universität Potsdam und wird zur Zeit in einigen Lehrveranstaltungen getestet.