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Vortrag: Anna Sokolova "Funeral Culture out of Scratch: Body Disposal Practices in the Soviet Union"

Europa-Universität Viadrina, Hauptgebäude 217, 4. November 2019, 18 – 20 Uhr

Dr. Anna Sokolova ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Anthropologie und Ethnologie der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau. Von Oktober bis Dezember 2019 hat Frau Sokolova einen Forschungsaufenthalt an der Europa-Universität Viadrina im Rahmen des Projektes „Kleine Fächer“. 

Anna Sokolova stellte ihr Forschungsprojekt im Rahmen des Osteuropakolloquiums vor. In ihrem Projekt analysiert die Wissenschaftlerin die Bestattungsreform als Bestandteil der bolschewistischen Gesellschaftstransformation. Im Vortrag skizzierte sie die wichtigsten Aspekte ihres Forschungsvorhabens. 

Trotz des Wunsches der Bolschewiki, alle Aspekte des menschlichen Lebens zu kontrollieren und zu verändern, blieben viele Fragen offen: Was macht das menschliche Leben und den Tod aus? Wie sollte das Bestattungsritual aussehen? Welche vielfältigen Bedeutungen sollte es ausdrücken? Während es kein klares Verständnis für den Umgang mit dem „normalen“ Tod gab, gab es eine Reihe von Problemen im vorrevolutionären Bestattungssystem, die für Bolschewiki absolut inakzeptabel waren. Die wichtigsten unter ihnen waren das Prinzip des sozialen Eigentums, das den früheren Bestattungspraktiken zugrunde lag, und die Dominanz der orthodoxen Kirche. Mit dem Dekret über Friedhöfe und Bestattungen des Rats der Volkskommissare vom 7. Dezember 1918 wurden die Grabkategorien abgeschafft und alle Friedhöfe, Krematorien und Leichenhallen sowie die Organisation der Bestattungen unter die Kontrolle der örtlichen Sowjets gestellt. Dieser Erlass hob alle Bestattungskosten auf und führte für alle Bürger gleiche Bestattungen ein. Es wurde jedoch darauf hingewiesen, dass Angehörige religiöse Zeremonien aus eigenem Willen und auf eigene Kosten durchführen könnten.

Die Bestattungsreform im Rahmen der Trennung vom Staat und der Kirche verfolgte drei Hauptziele. Das erste Ziel bestand darin, der Kirche die Kontrolle über die Bestattungsverfahren zu entziehen. Dadurch würde die Kirche eine wesentliche Einnahmequelle verlieren und nichtreligiöse Bestattungen könnten legal eingeführt werden. Zweitens, um die Bestattungsrangliste aufzuheben, müssen die Bestattungen für alle einheitlich sein. Das dritte Ziel war die Einführung einer von der Kirche konsequent abgelehnten Einäscherung. Mit der Beseitigung der religiösen Zugehörigkeit der Friedhöfe könnte jeder, unabhängig von seiner religiösen Überzeugung oder Abwesenheit dieser, auf jedem der Friedhöfe beigesetzt werden.

Die Anthropologin ging in ihrem Vortrag auch auf die Folgen der Bestattungsreform ein, die ihrer Meinung nach symptomatisch für viele andere Reformen der Bolschewiki in den 1920ern waren. Das neu geschaffene Bestattungssystem funktionierte anfangs gar nicht und führte z.B. in Moskau zu einer humanitären Katastrophe, wo infolge des Hungers und der Krankheiten Leichen auf der Straße lagen und später einfach in Massengräber verscharrt wurden.

In der Anschlussdiskussion interessierten sich die ZuhörerInnen vor allem für die Einordnung der Bestattungsreform und die Schaffung der neuen damit verbundenen Rituale im breiteren Kontext der Gesellschaftstransformationen in der Sowjetunion der 1920er. Bei der Schaffung der neuen Rituale fand das Konzept des neuen Menschen und sein Einfluss darauf großes Interesse.

 

Videodokumentation des Vortrags von Entangled History of Ukraine/ PRISMA UKRAЇNA aufrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=f8aFDSjO8nA&feature=share&fbclid=IwAR3isQ8eQPxtLbJW_sM7VUBFK3h4NdqCFVzUPp3rhDSBYZzzWC9Al0OsSTM (hochgeladen am 19.11.19)