Ist die Geschichte der afrikanischen Gastarbeiterinnen und -arbeiter in der DDR ein Beispiel für wechselseitige Entwicklungshilfe oder eher Kolonialismus?
Die Geschichte der afrikanischen Vertragsarbeiter*innen in der DDR ist am besten im Kontext des Kalten Krieges zu verstehen. Nach der Unabhängigkeit von Angola und Mosambik im Jahr 1975 begannen diese Länder, Arbeitskräfte in die DDR zu schicken. Im Falle Mosambiks kamen die ersten Arbeitskräfte 1979 und aus Angola 1984. In dieser Zeit war die Welt politisch und wirtschaftlich zwischen den Mächten des Ostens und des Westens aufgeteilt. Das System der Vertragsarbeit wurde in Form von solidarischer Zusammenarbeit zwischen sozialistischen Bruderstaaten präsentiert — ein Konzept, das wir heute vielleicht als Entwicklungshilfe interpretieren würden. Es war durchaus die Absicht der DDR, Länder wie Angola beim Aufbau ihrer Wirtschaft zu unterstützen und zur Industrialisierung beizutragen. Doch die Realität sah anders aus: Die Bürgerkriege in den afrikanischen Staaten sorgten dafür, dass die erhoffte Industrialisierung ausblieb, und durch die eigenen wirtschaftlichen Probleme benötigte die DDR immer weiter ausländische Arbeitskräfte. Anstatt einander helfen zu können, entstanden eher gegenseitige Abhängigkeiten. Mosambik und Angola entsandten weiterhin Arbeitskräfte, da ihr eigener Arbeitsmarkt überlastet war. Außerdem trugen die Arbeiterinnen und Arbeiter teilweise zum Abbau der Schulden bei, die die Länder bei der DDR hatten, da die Verträge vorsahen, dass Teile des Lohns einbehalten wurden. Während sowohl die DDR als auch die beiden afrikanischen Staaten von dieser Regelung profitierten, warten manche der Menschen bis heute auf ihre Löhne. In der Folge gründeten sie verschiedene Protestbewegungen. Sie verlangen nicht nur eine Auszahlung der ausstehenden Anteile, sondern wollen auch als Opfer sozialistischer Politik anerkannt werden.
Wie sind Sie zu diesem Thema gekommen?
Ich war 2011 das erste Mal in Mosambik und kam in der Hauptstadt Maputo eher zufällig mit ehemaligen Vertragsarbeiter*innen ins Gespräch. Ihre Geschichte, die mir bis dahin völlig unbekannt war, faszinierte mich und ich beschloss, mich intensiver damit zu beschäftigen. Ich führte Interviews– und beschloss letztendlich, meine Dissertation über dieses Thema zu scheiben. 2023 erschien die englische Fassung meiner Arbeit, vor Kurzem die deutsche -und jetzt auch eine portugiesische. Dadurch sollen endlich auch die zurückgekehrten Vertragsarbeiter*innen sowie deutsche Arbeitskolleg*innen und Freunde, Zugang zu den Erkenntnissen erhalten.
Sie haben für Ihre Forschung zu dem Thema mit 260 Menschen gesprochen. Wo, wann und wie lief das ab?
Über zwei Jahre hinweg habe ich Interviews mit zahlreichen Beteiligten in Mosambik und Angola geführt. Zunächst in Maputo und später in verschiedenen Provinzstädten, wo die ehemaligen Vertragsarbeiter*innen organisiert sind. Darunter waren ehemalige Arbeiterinnen und Arbeiter, aber auch Studierende, Schülerinnen und Schüler, Regierungsvertreter*innen sowohl in den afrikanischen Ländern als auch der DDR sowie Familienangehörige der Vertragsarbeiter*innen. In Angola gestaltete sich das etwas anders, dort gibt es zwar zwei große Organisationen in der Hauptstadt, aber weniger Strukturen in den ländlichen Regionen. Ursprünglich wollte ich auch Interviews mit ehemaligen Vertragsarbeitern führen, aber im Verlauf meiner Arbeit kristallisierte sich mein Fokus auf den afrikanischen Kontinent heraus.
Welche Erfahrungen schilderten die ehemaligen Gastarbeiterinnen und -arbeiter?
In ihren Berichten schildern die ehemaligen Arbeiter*innen ein Leben voller Gegensätze und Ambivalenzen. In der Literatur ist die Vorstellung vorherrschend, dass sie damals ausgebeutet wurden. Ein zentrales Thema in den Interviews war jedoch die Ausbildung, die einige bis zum Meistertitel brachte und einen wichtigen Lebensaspekt darstellte. Dabei wurde deutlich, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter als Individuen betrachtet werden sollten, nicht nur im Hinblick auf Produktivität. Ebenso wichtig waren private Beziehungen, die sich während ihrer Zeit in der DDR entwickelt hatten. Auf der anderen Seite berichteten viele Arbeiter*innen von Rassismuserfahrungen, insbesondere gegen Ende der 1980er Jahre, die sie zur Rückkehr in ihre Heimat bewegten. In der Zusammenschau erinnern sich viele mosambikanische Arbeiterinnen und Arbeiter mit einer gewissen wohlwollenden Nostalgie an ihre Zeit in der DDR. Diese Erinnerungen beinhalten zugleich oft eine implizite Kritik an ihrer aktuellen Regierung, die ihren sozialen Versprechen nicht gerecht wurde, wie beispielsweise in Bezug auf Pensionsansprüche.
Wie haben Sie die Gespräche ausgewertet und in Ihre Forschung integriert?
Die oft sehr umfassenden und komplexen Interviews auszuwerten, war eine echte Herausforderung. Ich habe die Gespräche zunächst aufgezeichnet und anschließend transkribiert. Mithilfe einer Software zur Codierung von Interviews wurden dann relevante Themen identifiziert, was wiederum dabei geholfen hat, im Buch die Kapitel zu strukturieren. Ich habe mich in den Gesprächen und dann auch meiner Arbeit voll und ganz auf die Vertragsarbeiter*innen fokussiert und habe versucht, eine Art kollektive Biografie nachzuzeichnen: ihr Leben vor der Migration, die Zeit nach der Entscheidung, ins Ausland zu gehen, ihre Zeit in der DDR und ihr Leben nach der Rückkehr in die Heimat. Mein Ziel war, dabei die Stimmen der zurückgekehrten Vertragsarbeiter*innen einzubringen und ihre individuellen Perspektiven zu präsentieren. Deshalb habe ich zahlreiche repräsentative Zitate und Schilderungen herausgefiltert, um die Befragten bei den für sie zentralen Themen selbst zu Wort kommen zu lassen.
Wie verbinden Sie in Ihrem Buch die Weltgeschichte mit individuellen Erinnerungen?
Die verschiedenen Ebenen – Weltgeschichte, Nationalhistorie und individuelles Erleben – miteinander zu verweben, war nicht einfach. Denn die Migrationserfahrungen wären ohne die weltpolitischen Entwicklungen nicht möglich gewesen. Andererseits liegen den Entscheidungen der Vertragsarbeiter*innen, in die DDR zu gehen, selbstbestimmte persönliche Entscheidungen zugrunde – es handelte sich nicht um Zwangsarbeit. In meinem Buch dient die Weltgeschichte als Folie, die das Setting für die Erfahrungen der afrikanischen Vertragsarbeiter*innen in der DDR erklärt. Im ersten Kapitel führe ich ausführlich in die globalen und nationalen Hintergründe ein, die für das Verständnis der individuellen Erlebnisse entscheidend sind. Meine Hauptaufgabe sehe ich aber darin, den betroffenen Vertragsarbeitern eine Stimme zu geben – und dadurch gängige Fehlannahmen in der Forschung zu korrigieren. Dabei geht es um Fragen wie: Wer ist tatsächlich Opfer? Was bedeutet Ausbeutung? Viele der interviewten Personen drückten Stolz auf ihr gelebtes Leben aus. Das wollte ich zeigen und mit meinem Buch eine sozialgeschichtliche Perspektive fördern, die bisher oft von der staatszentrierten und diplomatischen Darstellung überlagert war.
Welchen Mehrwert bieten Einzelgeschichten gegenüber „großen“ Narrativen entlang von offiziellen Dokumenten? Lassen sich diese Ansätze auch auf andere Kontexte übertragen?
Meine Forschung zu den afrikanischen Vertragsarbeiter*innen „erzählt“ eine transnationale Geschichte und betont die globale Verwobenheit der Ereignisse und Erlebnisse durch lebensgeschichtliche Ansätze. Dieser mikrogeschichtliche Ansatz bietet nicht nur für die Geschichte der afrikanischen Gastarbeiter*innen in der DDR, sondern auch für viele andere historiografische Fragestellungen eine wertvolle Methodik. In der Globalgeschichte ist der Diskurs über individuelle Erlebnisse besonders produktiv wird jedoch gerade in Zusammenhang mit Zeitzeugengesprächen eher selten angewandt, obwohl er eine tiefere und umfassendere Perspektive ermöglichen würde. Es gibt zahlreiche Beispiele von Vertragsarbeiter*innen aus verschiedenen Ländern wie Laos, Vietnam, China und Kuba, an denen Kolleg*innen arbeiten. Diese Forschung kann den Fokus auf transnationale Ansätze erweitern und hilft, falsche Annahmen über die DDR aufzuzeigen, die oft als isoliert und homogen beschrieben wird.
Weitere Informationen:
Zu Marcia Schenck: https://www.uni-potsdam.de/de/hi-globalgeschichte/prof-dr-marcia-c-schenck/zur-person
Das Buch „Von Luanda und Maputo nach Ost-Berlin. Erinnerungen afrikanischer Werktätiger an die DDR“:
Auf Deutsch: https://www.aufbau-verlage.de/ch-links-verlag/von-luanda-und-maputo-nach-ost-berlin/978-3-96289-231-9
Auf Englisch: https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-031-06776-1
Auf Portugiesisch: https://www.ics.ulisboa.pt/livros/mobilidades-socialistas