Die große Kanzlei in einem repräsentativen Altbau am Kurfürstendamm wirkt hell und aufgeräumt. Kunst und Bücher an den Wänden. Im Regal hinter dem Schreibtisch steht eine Erstausgabe von Heinrich Bölls „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ – so als wäre der Kern der Erzählung sein immerwährender Auftrag: „Es geht um eine Frau, die von einer Boulevard-Zeitung an den Pranger gestellt wurde.“ Der Autor beschreibt die Methoden der BILD-Zeitung in den 1970er Jahren, obwohl sie in dem Roman anders heißt. „Das hat mich früh geprägt“, sagt Christian Schertz. „Und solche Fälle gibt es noch heute.“ Der gebürtige Berliner stammt aus einer Juristenfamilie. Sein Vater Georg Schertz war Richter und Polizeipräsident von Berlin, sein Bruder Matthias ist Vorsitzender Richter am Landgericht Berlin.
„Generation TikTok“ verstehen
„Ich vertrete häufig auch junge Menschen, die durch einen Schicksalsschlag oder ein anderes Ereignis plötzlich in die Öffentlichkeit gezerrt werden“, beschreibt Christian Schertz seinen Alltag als Rechtsanwalt. „Da muss ich wissen, wie die Generation tickt. Warum posten sie private Fotos, Stories auf Instagram oder TikTok? Die Mediennutzung hat sich komplett verändert“, weiß der Jurist. Die unter 30-Jährigen gucken kein lineares Fernsehen mehr, sie lesen auch keine gedruckte Zeitung. „Ich habe zwar nach wie vor klassische Fälle mit großen Verlagshäusern wie Springer oder Bauer. Auch mit Fernsehsendern habe ich weiterhin zu tun. Doch Plattformen und das Internet nehmen immer mehr Raum ein.“ Dieser Trend kompliziere den Kampf für den Persönlichkeitsschutz. „Verantwortlichkeiten sind schwer zu greifen“, erläutert Schertz. „Verletzungen von Persönlichkeitsrechten lassen sich kaum nachvollziehen, wenn Webseiten im Ausland liegen oder die Haftung der Plattformen nicht klar geregelt ist“, argumentiert der Anwalt, der die Plattformbetreiber stärker in die Pflicht nehmen will. „Früher hatte ich eine Zeitung mit Impressum oder ich hatte einen Fernsehsender mit einem Programmverantwortlichen, den ich dann auch verklagen konnte. Das ist heute nicht mehr so!“
Wenn er nicht als Anwalt unterwegs ist, unterrichtet Prof. Dr. Christian Schertz Studierende. „Es gibt kein Semester, in dem ich nicht im Hörsaal stehe“ – zunächst als Lehrbeauftragter an der Humboldt-Universität zu Berlin, dann als Honorarprofessor an der TU Dresden und seit einigen Jahren an der Juristischen Fakultät in Potsdam. Auch veröffentlicht er Aufsätze in Fachzeitschriften und ist Mitherausgeber eines juristischen Standardwerks zum Persönlichkeitsrecht. „Die Idee dahinter hat mich schon immer interessiert“, sagt er. „Warum gibt es ein allgemeines Persönlichkeitsrecht? Wie ist es entstanden und rechtsphilosophisch einzuordnen?“ Im Ergebnis geht es um Selbstbestimmung und die Menschenwürde. Diese Fragen treiben Christian Schertz bis heute um. „Es war sehr hilfreich, wissenschaftlich durchdrungen zu haben, was jeden Tag im Gericht verhandelt wird“, resümiert er. Doch auch anders herum passt der Transfer: „Jura ist das pralle Leben, das lässt sich den Studierenden aus der Praxis heraus gut vermitteln – natürlich mit wissenschaftlicher Aufhängung. Beide Arbeitswelten – die Tätigkeit als Anwalt und die Lehre an der Universität – ergänzen sich hervorragend“, so der in Moabit und Nikolassee aufgewachsene Berliner.
Seit jeher mit Potsdam verbunden
Christian Schertz wollte an den „Geist von Babelsberg anknüpfen“ und hat gemeinsam mit den Kollegen Prof. Dr. Marcus Schladebach und Prof. Dr. Christoph Wagner das Medienrecht an der Universität Potsdam zum „größten Schwerpunkt dieser Art in Deutschland“ ausgebaut. „Erstens lebe ich in Potsdam, zweitens liebe ich die Stadt und drittens gehören Film, Fernsehen, Unterhaltung einfach zu Babelsberg dazu“, fasst der Honorarprofessor seine Motivation zusammen. 2005 hat er zusammen mit Simon Bergmann die Kanzlei am Ku’damm gegründet. Inzwischen gibt es kaum eine mediale Krisenlage in Deutschland, in der ihre Expertise nicht gefragt ist. „Aufgrund unserer Spezialisierung sind wir sicherlich führend auf dem Gebiet. Auch das Thema der sogenannten Verdachtsberichterstattung geht durch die Decke“, berichtet der Jurist. Gemeint ist die Frage, wann über einen Verdacht, einen Vorwurf gegenüber Menschen berichtet werden darf. „Die Folgen für die Betroffenen, die öffentlich an den Pranger gestellt werden, sind nicht selten eine endgültige Stigmatisierung“, hat der Anwalt erfahren und stellt fest: „Die Unschuldsvermutung wird durch die Medien faktisch außer Kraft gesetzt.“
Schertz beklagt die Empörung in der medialen Berichterstattung. „Galt früher noch das Wort von Hans Joachim Friedrichs, sich als Journalist mit keiner Sache gemein zu machen – auch nicht mit einer guten –, will der Journalismus heute oftmals die Welt besser machen. „Das Missionieren tut der öffentlichen Debatte nicht gut“, meint Schertz. „Haltungsjournalismus führt zu Aggressionen und überhitzten Debatten. Das hat sich in den vergangenen 40 Jahren verändert.“ Der Rechtsanwalt Christian Schertz hat sich dem angepasst. Medien oder große Verlagshäuser vertritt er nicht mehr. „Ich habe Jura nicht nur für die Schönen und Reichen studiert, sondern möchte vor allem ganz normalen Menschen helfen, die zufällig in die Schlagzeilen geraten. Wenn Eltern das eigene Kind, das sie auf tragische Weise verloren haben, auf der Titelseite einer Boulevardzeitung sehen, sind die psychischen Folgen verheerend“, erklärt Schertz. In der Forschung ist vom „Medienopfer-Syndrom“ die Rede. „Hier liegt mein Antrieb, es ist eine humanistische Grundgesinnung. Der Mensch ist das Maß aller Dinge“, bringt er es auf den Punkt. „Für alles gibt es eine Lobby – Autos, Versicherungen – nur der Mensch hat keine.“
Für Selbstbeweihräucherung bleibt keine Zeit
Mit Etiketten wie „Star- oder Promi-Anwalt“ kann Christian Schertz nichts anfangen. „Doch natürlich guckt man auch mit einem gewissen Stolz auf das, was man geschaffen hat. So finde ich auch in rechtspolitischen Debatten immer wieder mal Gehör“, sagt er. „Doch das habe ich mir als Anwalt erarbeitet. Es gibt sicherlich auch Leute, die sagen, ich sei arrogant, wenn sie mich im Gericht erleben. Dabei geht es mir offen gesagt im Ergebnis nur um die effektive und nachhaltige Interessenvertretung für den Mandanten. Das mag anders wahrgenommen werden. Mein Terminkalender ist darüber hinaus so voll, dass für Selbstbeweihräucherung keine Zeit bleibt.“ Interviews zu gesellschaftlich relevanten Themen haben den Berliner in den vergangenen Jahren im öffentlichen Diskurs sichtbarer gemacht, er wird auf der Straße oder im Flugzeug erkannt. Sein Ziel ist es, genauso weiterzumachen, die Symbiose aus Anwaltstätigkeit und akademischer Lehre fortzuführen. „Wir Freiberufler können ja selbst entscheiden, wann wir in Rente gehen. Und ich finde nach wie vor nichts spannender, als mich jeden Tag mit einem Fall auseinanderzusetzen“, so Christian Schertz. „Da werden die Synapsen weiter trainiert.“
An der Universität Potsdam möchte der Honorarprofessor die Studierenden motivieren durchzuhalten. „Übt die freie Rede, übt das Gespräch“, regt er in Seminaren immer wieder an. Denn später im Beruf – egal ob Anwalt oder Richter – kommt es zu 90 Prozent auf das gesprochene Wort an.“ Sein Vorbild damals als junger Student war Professorin Jutta Limbach – von 1994 bis 2002 Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts. „Ihr Satz, dass der Volkszorn keine Maßgabe im Recht sein könne, begleitet mich bis heute. Und deswegen sehe ich mich auch in der Pflicht, Wissen und Erfahrungen an die nächsten Generationen weiterzugeben.“