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„Einfach mal machen!“ – Prof. Dr. Norbert Gronau über 20 Jahre Wirtschaftsinformatik an der Uni Potsdam

Wirtschaftsinformatiker Prof. Dr. Norbert Gronau
Die Digitalvilla am Hedy-Lamarr-Platz
Prof. Dr. Norbert Gronau im „Zentrum Industrie 4.0“
Photo : Kevin Ryl
Wirtschaftsinformatiker Prof. Dr. Norbert Gronau
Photo : Kevin Ryl
Die Digitalvilla am Hedy-Lamarr-Platz
Photo : Tobias Hopfgarten
Prof. Dr. Norbert Gronau im „Zentrum Industrie 4.0“

Wo steht Deutschland in Sachen Digitalisierung? Welchen Einfluss kann die Forschung auf ihre Entwicklung nehmen? Und was wurde in den vergangenen 20 Jahren dafür erreicht? Der Wirtschaftsinformatiker Prof. Dr. Norbert Gronau spricht im Interview mit Matthias Zimmermann über Entwicklungen im Allgemeinen, aber auch ganz persönlich über Ziele, Erfolge und Pläne.

Sie sind seit 20 Jahren Professor für Wirtschaftsinformatik Prozesse und Systeme. Ihr Traumberuf?

Ja. Mein absoluter Traumberuf, weil ich neue Dinge erforschen und Sachen herausfinden kann, die wir noch nicht wussten. Ich tue, was ich gern mache, und werde dafür bezahlt. Außerdem arbeite in einem tollen Team. In den vergangenen 20 Jahren konnten wir hier in Potsdam die Wirtschaftsinformatik auf- und ausbauen. Diese Freiheit, die wir als Wissenschaftler haben – inhaltlich und zeitlich –, ist wirklich sensationell und nicht hoch genug einzuschätzen.

Trotzdem die Frage: Wollten Sie jemals etwas Anderes werden?

Bevor ich meine Habilitation begann, hatte ich ein Angebot, Vertriebsingenieur für Schienenfahrzeuge zu werden. Meine Alternative wäre also gewesen, Straßenbahnen und Lokomotiven zu verkaufen. Das hätte ich auch gern gemacht. Wer weiß, wie es da weitergegangen wäre.

Und vorher?

Rückblickend sieht eine akademische Karriere oft sehr gradlinig aus: Professor geworden, habilitiert, promoviert und davor schon an der Uni gearbeitet. Das ist aber totaler Quatsch. Hätte mein damaliger Chef an der TU Berlin mir keine Habilitationsstelle angeboten, wäre ich doch nach der Promotion in die Praxis gegangen. Aber es kam anders und nach der Habilitation hatte ich eine Lehrstuhlvertretung – und wenn man die hat, schnuppert man akademische Luft, echte Höhenluft. Einmal dabei, will man auch nicht nur die Vertretung machen, sondern die Professur haben und dann ist man drin.

Sehen Sie sich eher als Pulsmesser oder Impulsgeber?

Eine sehr gute Frage. Die Wirtschaftsinformatik teilt sich ein Stück weit in zwei Richtungen: die einen, die eher sozialwissenschaftlich beobachten, und die anderen, die eher gestaltend eingreifen. Also wir beobachten auch, weil das Teil unseres wissenschaftlichen Vorgehens ist, aber vor allem greifen wir gestaltend ein. Mit unserem Zentrum Industrie 4.0 entwickeln hier ein Fabrik-Betriebssystem, mit dem wir ganz konkret und vorausschauend neue technische Entwicklungen in Praxisszenarien überführen und erproben – und zwar immer wieder in Zusammenarbeit mit Firmen, die ihre spezifischen Anforderungen mitbringen. Wie sich die mithilfe der Digitalisierung realisieren lassen, wollen wir gestalten. Dafür „brennen“ wir.

Stichwort Digitalisierung: Fluch oder Segen?

Beides. Auf der einen Seite ist sie ein absoluter Segen, weil Digitalisierung ganz viele Sachen möglich macht. Ein Beispiel ist Homeoffice, das für viele Menschen ermöglicht, dass wir alle im Büro zur Verfügung stehenden Informationssysteme auch zuhause nutzen können. Aktuell erleben wir einen riesen Boom beim Einsatz von Künstlicher Intelligenz. Das bringt uns vorwärts, ermöglicht Chancen. Auf der anderen Seite sehen wir manche Entwicklungen durchaus kritisch, etwa bei den Auswirkungen der sozialen Netzwerke. Damit beschäftigt sich etwa meine Kollegin Hanna Krasnova. Beispielsweise verändert sich Balance der Glaubwürdigkeit: Früher war die Tagesschau besonders glaubwürdig, heute gilt bei einigen das, was User in sozialen Medien schreiben, als verlässlich. Eine Entwicklung, die nicht-demokratische Akteure längst zu nutzen wissen. Ein anderes zwiespältiges Thema ist digitale Überwachung, in vielen Lebensbereichen, bis hin zum Lernen, womit wir uns viel beschäftigen. In China etwa werden Schulklassen mit Kameras überwacht und wer einschläft, wird „rausgefischt“ und wieder wachgemacht. Und das kann man ja sehr weit treiben. Die Digitalisierung bringt also nicht nur Chancen, sondern auch Gefahren, etwa der Überforderung – des einzelnen Menschen, aber auch der Gesellschaft als Ganzes. Wenn Sie das Internet „aufmachen“, haben Sie ganz viele Möglichkeiten. Aber sie zu implementieren und zu nutzen, dauert immer einige Jahre. Das ist eine Durststrecke, die man überwinden muss. Also sehr viel Segen und mit dem Fluch muss man umgehen.

Wo hat die Digitalisierung den Menschen am meisten gebracht?

Bezogen auf alles, was bei der Digitalisierung passiert, tatsächlich in Form des Internet und der mobilen Endgeräte. Wobei das Internet sein Potenzial vor allem in Verbindung mit den mobilen Endgeräten vollends entfaltet. Ich bin ja auch Professor in Südafrika, in Stellenbosch. Dort zeigt sich das ganz deutlich. Viele afrikanische Staaten haben die Phase der Digitalisierung über PCs komplett übersprungen und machen das ganze Government auch mobil. In Südafrika können Sie alle staatlichen Leistungen über das Mobiltelefon erreichen.

Und was ist für Sie die größte technologische Revolution der vergangenen 20 Jahre.

Wenn man auf 20 Jahre Forschung zur Digitalisierung zurückblickt, verändert sich die Perspektive. Ich habe gerade für eine Fachzeitschrift, die ich herausgebe, alte Artikel gesichtet und dabei festgestellt: Es gab gar keine vierte industrielle Revolution! Schon in den Beiträgen vor 20 Jahren ging es darum, dass ein Automobilhersteller erste Versuche mit mobilen Geräten in der Fertigung unternahm. Das Thema, physische Prozesse mit digitalen zu verbinden, beschäftigt uns bis heute, auch wenn vieles, was damals Traum war, inzwischen Realität geworden ist. Also handelt es sich dabei weniger um einen weiten Sprung als vielmehr eine Evolution. Natürlich kann diese auch sehr kraftvoll sein.

Aktuell wird vor allem Künstliche Intelligenz enorm gehyped und gefeiert. Sie stimmen da nicht ein?

Nein. Natürlich ist es beeindruckend, was generative KI leisten kann. Vor allem, weil man weiß ja, wie viel Mühe es bisher machte, so ein Schriftstück zu erzeugen, das ordentlich aussieht und qualitativ angemessene Inhalte beinhaltet. Aber wenn exakte Ergebnisse gebraucht werden, dann nützt es nichts, wenn die KI ein Ergebnis generiert, das so aussieht wie ein exaktes, aber leider völlig falsch ist, weil die KI kein Mathe kann. Der aktuelle Hype wird sich wieder legen und generative KI für bestimmte Aufgaben zur selbstverständlichen Arbeitsumgebung gehören. Worauf wir aber schon jetzt hinweisen sollten, sind die unglaublichen Mengen Ressourcen, die KI verbraucht. Das gehört auch zum Fluch der Digitalisierung. Früher waren Fabriken die größten Stromverbraucher, jetzt sind es die Internet-Zentren und Daten-Farmen. Ein Fluch, der bislang viel zu wenig Beachtung findet.

Wo sehen Sie Deutschland in Sachen Digitalisierung?

Bis zum Hals im Beton stehen.

Was müsste passieren?

Wir müssten die vier großen Abwehrhaltungen über Bord werfen: 1. Das lässt der Datenschutz nicht zu. 2. Das lässt der Personalrat nicht zu. 3. Das müssen wir europaweit ausschreiben. 4. Davon habe ich gar keine Ahnung. Wenn wir die überwinden, könnte man viel, viel mehr machen. In Sachen Forschung und Entwicklung haben wir absolute Innovationstreiber, die in ihren Feldern auch führend sind. Aber der Abstand zwischen dem, was der Staat macht und zulässt, und dem, was die Privatwirtschaft tut und tun könnte, klafft immer weiter auseinander. Der Staat muss erkennen, auch angesichts Personalmangel und finanzieller Restriktionen, dass er so nicht weitermachen kann. International machen wir uns quasi lächerlich mit unseren ganzen Vorbehalten. Die Devise muss sein: Einfach mal machen!

Was hat Ihnen denn als Forscher in den vergangenen 20 Jahren am meisten Spaß gemacht?

Tatsächlich experimentelle Forschung. Deswegen bin ich so froh, dass wir unser Zentrum Industrie 4.0 haben, in dem wir auf der Basis unserer Ideen handfeste, publizierbare Forschungsergebnisse generieren können, die auch nachvollziehbar sind. Das andere ist das Kreativ-Konzeptionelle, also die Entwicklung neuer Experimente. Das sind die beiden Sachen, die am meisten Spaß machen.

Worauf hätten Sie gern verzichtet?

Viel Bürokratie. Die Regelungen, was Verträge mit Mitarbeitern anbetrifft, die werden immer enger. Außerdem muss bei Drittmittelprojekten quasi über jede Arbeitsstunde mit Unterschrift Rechenschaft abgelegt werden. Wenn die Forschung zu großen Teilen in Projekten stattfindet, wird es extrem schwer, das alles auszubalancieren. Das ist aktuell nur noch möglich durch sehr fleißige, engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – und den super Service der Uni-Verwaltung.

Was treibt Sie morgens ins Büro?

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Professur. Am schönsten finde ich, wenn Studierenden und Doktoranden im Forschungskolloquium die Ergebnisse ihrer Forschungsarbeit vorstellen. Es ist so toll zu sehen, wie da etwas blüht, wächst und gedeiht. Das treibt mich ins Büro. Und natürlich unsere gute Kaffeemaschine.

Sie haben gesagt, experimentelle Forschung ist Ihnen besonders wichtig. Wenn Sie 1-2 Leuchtturmprojekte hervorheben sollten, welche wären das?

Zum einen alles, was wir zum Thema Industrie 4.0 gemacht haben. Das hat uns natürlich enorm vorangebracht, weil es uns letztendlich ja unsere Experimentierumgebung des Zentrums und das dazugehörige Gebäude eingebracht hat. Das war auf jeden Fall ein absolutes Leuchtturmprojekt – und auch das erste mit einem Förderbescheid über eine Million Euro.

Das zweite, was ich hervorheben möchte, sind die Arbeiten rund um das Thema Wissen, Lernen und Weiterbildung, u.a. im Weizenbaum Institut. Dafür gab es im Übrigen den zweiten Förderbescheid über eine Million Euro. Nicht, dass ich nur an diesen Zahlen hänge, aber sie spiegeln ja auch ein gewisses Vertrauen, dass ein Mittelgeber einer Forschungseinrichtung entgegenbringt. Und ich denke, dass wir diesen Vertrauensvorschuss in beiden Fällen auch zurückgezahlt haben.

Mit beiden Themen beschäftige ich mich schon seit meiner Habilitation bzw. meiner ersten Professur in Oldenburg. Manche Ideen, die wir 2020 im Projekt getestet haben, sind seit 2009 entstanden. Es ist schön zu sehen, wie sich so manches nach und nach fügt. Und es zeigt: Wissenschaft braucht Zeit und Kontinuität.

Gab es denn auch Momente des Scheiterns?

Natürlich stellen wir deutlich mehr Anträge, als bewilligt werden. Und auch nicht jede Publikation geht da durch, wo wir wollen, dass sie durchgeht. Das gehört aber dazu und ist für mich kein Scheitern.

Aber eine Sache fällt mir ein, bei der wir trotz vieler Bemühungen unser Ziel nicht erreicht haben: unser Konzept einer Lernfabrik, das wir hier aufgebaut haben, ins Ausland zu übertragen. Obwohl das weltweit einzigartig ist und es viel Interesse aus etlichen Ländern gibt, war dafür keine Unterstützung beim Bundesforschungsministerium zu bekommen. Das würde ich ein Stück weit als Scheitern ansehen, weil ich die Idee nach wie vor toll finde.

Haben Sie denn gute Wege gefunden, Ihre Expertise dorthin zu bringen, wo Sie am meisten bewirken?

Was sind gute Wege? Ich denke, das Ziel ist dann erreicht, wenn Firmen oder Kontakte auf uns zukommen und fragen: „Sag mal, könnt ihr hier mal was tun?“ Wenn man gar nicht aktiv rausgehen muss, sondern die Firmen selbst zu uns kommen. Insofern ist uns das, glaube ich, gut gelungen, auch wenn das immer noch ein bisschen besser geht. Seit einigen Jahren kommen endlich auch brandenburgische Unternehmen. Das war lange nicht so. Inzwischen haben wir uns, auch dank der Wirtschaftsförderung Brandenburg, ein super Netzwerk aufgebaut.

Sind Sie denn selbst auch unternehmerisch tätig?

Professorinnen und Professoren dürfen ja einen Tag pro Woche unternehmerisch tätig sein und ich zähle meine Beratungstätigkeit durchaus dazu. Durch diese ergeben sich in meinem Gebiet sehr schöne Synergieeffekte, da nicht selten aus Beratungskontakten Partner für Forschungsprojekte werden. Wie ich finde eine gute Symbiose. Trotzdem ist der Lehrstuhl keine verkappte Beratungsagentur. Und zur Transferleistung einer Universität zählt ja auch, Studierende zu entsenden, die hier gut ausgebildet wurden.

20 Jahre Professor an der UP und kein bisschen müde. Wie geht es für Sie weiter? Was haben Sie sich vorgenommen?

Wir haben 333 Themen auf der Agenda. Aber ich sehe ein zentrales Thema, um das ich mich in den nächsten Jahren kümmern möchte, nämlich die Frage: „Wie werden wir in Zukunft arbeiten?“ Menschen brauchen, um sich zu entfalten, eine gewisse Handlungsfreiheit. Software und Systeme, die uns helfen sollen, müssen entsprechend eine gewisse Anpassungsfähigkeit haben. Wenn ich was lernen, mich weiterbilden will, muss das zu mir passen. Software und Lernumgebungen zu individualisieren, wird uns in unserem Forschungsschwerpunkt „Arbeit in Zukunft“ beschäftigen. Außerdem wollen wir unsere Forschung stärker internationalisieren, mit anderen Gruppen, die zu dem Thema forschen, austauschen. Wir sind bislang eher experimentell und gestaltungsorientiert vorgegangen, andere stärker beobachtend sozialwissenschaftlich. Das könnte sich gut ergänzen. Ich denke, da geht uns die Arbeit nicht aus, und wir haben eine gute Perspektive für die nächsten Jahre.

Eine letzte Frage: Wenn Sie jetzt 20 wären, was würden Sie studieren?

Architektur. Aus unserer Forschung zum Wissensmanagement wissen wir, dass die physische Umgebung, in der Menschen Wissen erwerben und austauschen, diesen Wissensaustausch ganz erheblich beeinflusst. Und die Fähigkeit, diese Räume so zu gestalten, dass sie diesen Austausch fördern, finde ich toll. Auf diese Weise ist Architektur ja auch eine gestaltende Wissenschaft. Ich habe während meines Studiums ein paar Vorlesungen in Architekturgeschichte besucht und fand das faszinierend. Und tatsächlich habe ich mich auch in der Wirtschaftsinformatik den Räumen wieder angenähert, denn ohne Building Information Modeling, also einen digitalen Zwilling eines physischen Gebäudes, geht heute nichts mehr. Aber die Kunst der Architektur reizt mich nach wie vor.