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Intellektuelle

Durch neue Möglichkeiten des Marktes und der Mitarbeit bei der Presse gewannen die Schriftsteller ab dem Anfang des 19. Jahrhunderts an Unabhängigkeit und damit auch an gesellschaftlicher Bedeutung. Künstler, Schriftsteller, Wissenschaftler, Lehrer und Journalisten, die vorher als sehr unterschiedlich galten, wurden nun als Gruppe – die Intellektuellen – wahrgenommen. Sie standen gleichzeitig in einem Feld des Kampfes um symbolische und kulturelle Macht, der im Zeichen des Leitwertes der ‚Freiheit‘ ausgefochten wurde. Den neuen Typus des Schriftstellers, der über sein eigenes Feld hinaus wirkte, verkörperte Alfred de Lamartine, aber auch Victor Hugo; sie waren Vorbilder für das doppelte Vorkämpfertum in Literatur und Politik.

Émile Zolas mutiges Eintreten zugunsten des zu Unrecht verurteilten jüdischen Hauptmanns Alfred Dreyfus in seinem offenen Brief ‚J’accuse‘ im Jahre 1898 entsprach der Logik der individuellen Intervention eines einzelnen, berühmten Schriftstellers. Neu war aber die Solidarisierung von Hunderten von Schriftstellern und Wissenschaftlern mit Zola. Gemeinsam setzten sie sich für die Sache der Wahrheit und der Gerechtigkeit ein. Das neue Selbstverständnis der Gruppe, die nun unter dem Begriff ‚les intellectuels‘ subsumiert wurde, kennzeichnete Schriftsteller und Wissenschaftler, die in ihrem Bereich Ansehen erworben hatten und die auf der Basis republikanischer Grundwerte zu wichtigen Fragen der Gesellschaft Stellung bezogen.

Mit der kollektiven Intervention der Intellektuellen im Kontext der Dreyfus-Affäre wurde in Frankreich eine spezifische Tradition begründet, die sich auch in Italien und in Spanien durchsetzte, aber kaum in anderen Ländern. Voraussetzung für die Entstehung dieses Modells politischen Engagements war die demokratische Erfahrung, die Existenz einer öffentlichen Meinung, die mit der Pressefreiheit einherging, die meritokratische Elitenbildung und schließlich auch der Hauptstadteffekt. In Krisensituationen traten in Frankreich immer wieder engagierte Intellektuelle auf den Plan: für den Pazifismus in den 1920er Jahren, im Zeichen des Antifaschismus im folgenden Jahrzehnt oder gegen den Algerienkrieg. Heute engagieren sie sich gegen den wirtschaftlichen Neoliberalismus. Jean-Paul Sartre vertrat das Modell des universellen Intellektuellen, der als Repräsentant einer universellen Wahrheit glaubt, kraft seines Status zu allen politischen Fragen Stellung beziehen zu können. Dieses Modell wurde später abgelöst durch dasjenige des spezifischen Intellektuellen, den Michel Foucault verkörperte;  er intervenierte auf der Basis seiner wissenschaftlichen Kompetenz.  Pierre Bourdieu erweiterte dieses Konzept durch die Vorstellung eines kollektiven spezifischen Intellektuellen. Die Medienintellektuellen wie B.-H. Lévy sind indes eher eine Parodie dieses Modells.

Für Deutschland hatte Heinrich Heine ein analoges Ideal vertreten. Es kombinierte den Respekt vor einer autonomen Literatur mit Engagement, war aber nicht modellbildend. Als Intellektueller bezeichnet zu werden, war in Deutschland oft eine Beschimpfung, selbst wenn Gelehrte immer wieder eine intellektuelle Funktion wahrnahmen. Diese Funktion bestand vor allem in der Reflexion über die Rolle der Wissenschaftler in der Gesellschaft, wie man sie bei Karl Kautsky, Georg Simmel oder Max Weber finden konnte. Wenn sich nach 1945 die Idee des engagierten Intellektuellen in Deutschland Respekt verschaffte, so wurde sie nach 1989 dann oftmals erneut abgelehnt, indem man sie als ‚Gesinnungs-Kitsch‘ belächelte.  Das französische Modell ist daher relativ spät in Deutschland übernommen worden. Nach dem Tod von Michel Foucault, Pierre Bourdieu und Jacques Derrida, wird in Frankreich heute die Szene von den Medienintellektuellen beherrscht, die oftmals Glaubwürdigkeit vermissen lassen.  In Deutschland hingegen intervenieren heute etwa mit Jürgen Habermas oder Ulrich Beck ernsthafte Intellektuelle, die sich Gehör verschaffen.

Quellen:

  • Bering, Dietz (2010): Die Epoche der Intellektuellen 1898-2001. Berlin: Berlin University Press
  • Bourdieu, Pierre (1990): Die Intellektuellen und die Macht. Hamburg: VSA Verlag
  • Charle, Christophe (1997): Vordenker der Moderne, Die Intellektuellen im 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M.:  Fischer
  • Hanuschek, Sven, Hörnigk, Therese, Malende, Christine (Hrsg.) (2000): Schriftsteller als Intellektuelle. Politik und Literatur im Kalten Krieg. Tübingen: Niemeyer
  • Hübinger, Gangolf (2006): Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit. Eine Intellektuellen-Geschichte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
  • Jurt, Joseph (2012): Frankreichs engagierte Intellektuelle. Von Zola bis Bourdieu. Göttingen: Wallstein
  • Suntrup, Jan Christoph (2010): Formenwandel der französischen Intellektuellen. Eine Analyse ihrer gesellschaftlichen Debatten von der Libération bis zur Gegenwart. Berlin: LIT Verlag
  • Winock, Michel (2003): Das Jahrhundert der Intellektuellen. Konstanz: UVK
Autor Joseph Jurt
Zeitraum August 2013