Die folgenden Überlegungen zu einem prozessorientierten Kulturkonzept gehen zunächst aus von der Grundoperation aller kognitiven und kommunikativen Systeme: von Beobachten qua Unterscheiden und Benennen. Wahrnehmen und Erkennen operieren mit Unterscheidungen, die sowohl evolutionär als auch sozialisatorisch basiert sind, und die mit Hilfe von Sprachen als differentiellen Systemen von Benennungen kommunikativ verfestigt werden; denn um gemeinsames Handeln zu ermöglichen, muss das Unterscheidungsmanagement für alle Gesellschaftsmitglieder systematisiert und verstetigt werden.
Um uns in unserer Umwelt, mit Handlungspartnern und im Hinblick auf soziale Institutionen erfolgreich orientieren zu können, brauchen wir Sinnorientierungen, von denen wir (mehr oder weniger stillschweigend) annehmen, dass sie von allen anderen geteilt werden. Sinnorientierungen können theoretisch konzipiert werden als ein geordneter semantischer Raum, bestehend aus einem (prinzipiell auf Dauer gestellten) Netzwerk von semantischen Kategorien, die gewissermaßen die Knoten dieses Netzwerkes bilden. Kategorien markieren gesellschaftlich relevante Sinndimensionen wie z.B. Alter und Geschlecht, Nahrung und Kleidung, Macht und Güter, Werte und Emotionen usw.
Diese Sinndimensionen werden semantisch implementiert durch eine mehr oder weniger große Zahl von semantischen Differenzierungen, die zweistellig (gut/böse, alt/jung, krank/gesund, feindlich/freundlich), aber auch mehrstellig sein können (eiskalt/kalt/lauwarm/heiß). Der Terminus ‚Differenzierungen‘ verweist darauf, dass es sich hier um Prozesse handelt, in deren Verlauf exakt nach der Logik von Setzung und Voraussetzung eine semantische Dimension im semantischen Raum ausdifferenziert wird. Mit anderen Worten: die „theoriebautechnische“ Konstruktion dieses Ansatzes ist „freitragend“, soll heißen, ich beginne nicht mit der Behauptung der Existenz ontologischer Größen wie Kategorien und Differenzierungen; sondern der Prozess der Orientierung im semantischen Raum schafft sich gewissermaßen seine eigene Ontologie qua kollektiv akzeptierter Voraussetzung seiner Setzungen und Setzung seiner Voraussetzungen.
Werden Differenzierungen verwendet, um Beobachtungen oder Beschreibungen durchzuführen, müssen sie in seitenspezifische Unterscheidungen verwandelt werden – ein Mann (und nicht eine Frau) ist jung (und nicht alt) und krank (und nicht gesund). Mit anderen Worten, Differenzierungen werden im Gebrauch zu asymmetrischen Unterscheidungen bzw. zu spezifischen semantischen Optionen. Kategorien lassen sich daher beschreiben als Einheit der Differenz von semantischen Differenzierungen und Unterscheidungen.
In diesem „Spiel der Prozesse“ lassen sich zwei Beobachtungsrichtungen voneinander unterscheiden: Sinnorientierung und Handlungsorientierung. Sinnorientierung betrifft die Zeit- und Aktanten-neutrale Richtungsmarkierung von Handlungen, Handlungsorientierung die zeit- und aktanten-gebundene Prozessierung von Sinnorientierungsmöglichkeiten in Gestalt konkret vollzogener Unterscheidungshandlungen in Kommunikations- bzw. Handlungssituationen. Die semantischen Kategorien lassen sich kaum isoliert und unverbunden denken, sondern weisen sich – wie Wörter in einem Wortfeld – gegenseitig ihre Funktionsmöglichkeiten zu. Die systematische Ordnung dieser Funktionsbereiche konzipiere ich theoretisch als Wirklichkeitsmodell einer Gesellschaft, wobei hier die Lesart „Modell für“ maßgeblich ist und nicht die Lesart „Modell von“, weil in diesem Fall schon bekannt sein müsste, was „die Wirklichkeit“ ist. Wirklichkeitsmodelle können theoretisch bestimmt werden als konzeptionelle Arrangements, mit deren Hilfe individuelle Erfahrungen gesellschaftlich einsehbar und handhabbar gemacht werden können. Dieses Modell, das in der Sozialisation in den kognitiven Systemen der Aktanten (jeweils nur) partiell aufgebaut und erprobt wird, muss bei Aktanten weder bewusstseinsfähig noch bewusstseinspflichtig sein.
Wirklichkeitsmodelle lassen sich bestimmen als systematisiertes kollektives Wissen der Mitglieder einer Gemeinschaft, das über reflexive Mechanismen (=Erwartungserwartungen im Bereich Wissen, Unterstellungsunterstellungen im Bereich Intentionen und Motivationen) deren Interaktionen ko-orientiert und damit kommunalisiert. Wirklichkeitsmodelle entstehen auf dem Wege der Konstruktion und Systematisierung für essentiell gehaltener Unterscheidungen. Solche essentiellen Unterscheidungen betreffen fünf basale Dimensionen:
Dass gerade diese Dimensionen besonders relevant sind, hat vermutlich etwas zu tun mit der Struktur und Funktionsweise unseres Gehirns, in dem alle kognitiven Operationen unlösbar verbunden sind mit deren emotionalen, normativen und lebenspraktischen Einschätzungen und Bewertungen. Daher sind auch Unterscheidungen in Wirklichkeitsmodellen ebenso wie ihre Verknüpfungen ausnahmslos affektiv, normativ und empraktisch besetzt. Die für eine Gemeinschaft oder Gesellschaft relevanten Unterscheidungen sind hinsichtlich ihrer Bedeutsamkeit gewichtet. Diese Gewichtung drückt sich einmal darin aus, dass Unterscheidungen Bereichen zugeordnet sind, die wiederum der Unterscheidung zentral/peripher wichtig unterliegen; dass sie unterschiedliche Bindungskräfte entfalten, also mit unterschiedlich vielen anderen Unterscheidungen in Beziehung stehen bzw. gebracht werden können, und dass sie unterschiedlichen Veränderungsbedingungen unterliegen, also mehr oder weniger leicht verschwinden bzw. ersetzt werden können.
Differenzierungen werden erst dann handlungsleitend wirksam, wenn sie in Unterscheidungen asymmetrisiert werden. Damit werden sie zwar einerseits der Kontingenz unterworfen, andererseits erfordert jede Handlung Entscheidungen für die eine oder die andere Seite einer Differenz. Ein Wirklichkeitsmodell als Kategorien- und Differenzierungssystem konnte/kann darum erst dann handlungs- und kommunikationsorientierend wirken, wenn sich zugleich mit seiner Entstehung ein Asymmetrisierungsprogramm herausbildet, das symmetrische Differenzen in handlungsermöglichende Unterscheidungen zu transformieren erlaubt.
Asymmetrisierung kann auch als Form des Partei-Ergreifens gesehen werden, wodurch intuitiv plausibel wird, dass solche Asymmetrisierungen hochgradig affektiv, moralisch und empraktisch „besetzt“ sind. Sobald sich eine Gesellschaft für die eine und gegen die andere Seite der Differenz „entschieden“ hat, muss diese Entscheidung auf Dauer gestellt werden, um die soziale Integration der Aktanten zu gewährleisten. Das gelingt am ehesten, wenn es sich dabei nicht nur um eine kognitive Entscheidung handelt, sondern um eine kognitiv-affektiv-moralische Entscheidung, die identitätsbildende Funktionen übernehmen kann, weil sie sozusagen den ganzen Menschen betrifft.
Dieses Asymmetrisierungsprogramm für den Umgang mit Wirklichkeitsmodellen bezeichne ich als Kultur. Als Programm ist es in jedem Akt der Anwendung lernunwillig, langfristig gesehen aber durchaus lernfähig, was sich dadurch erklären lässt, dass das Programm sich über die Beobachtung und Bewertung seiner Anwendungsresultate selbst beobachten und reflexiv nachjustieren bzw. verändern kann. Der hier verwendete Programmbegriff bezieht sich auf interaktive lernfähige Programme mit ausdifferenzierbaren Subprogrammen, die einerseits keine starre Ablaufplanung vorgeben, andererseits aber auch aus Identitätsgründen bestimmte Anwendungen ausschließen, also kreativ selektiv operieren.
Emergenz von Gesellschaft setzt nach dieser Überlegung die Co-Genese von Wirklichkeitsmodell und Kulturprogramm voraus, wobei sich beide in der Folgezeit ausdifferenzieren können. Wirklichkeitsmodelle und Kulturprogramme entstehen nicht nur gleichzeitig, sondern sie bilden ein sich gegenseitig konstituierendes Prozess-System bzw. einen Wirkungszusammenhang W&K, auf den alle Sinnoperationen (in) einer Gesellschaft ausgerichtet sind. Sozialintegration konstituiert sich durch den Bezug aller Handlungen und Kommunikationen auf einen für alle Aktanten verbindlichen W&K-Wirkungszusammenhang – wie kontrafaktisch dieser auch hinsichtlich seiner kollektiven Akzeptanz unterstellt sein mag.
Die Spezifik eines W&K liegt darin, wie das Distinktionssystem asymmetrisiert und damit in soziale Praxis überführt wird. Nach allen Kenntnissen über Kulturen, über die wir bis heute verfügen, beruht die (identitätsstiftende) Spezifik eines W&K nicht in erster Linie auf der Komponente Wirklichkeitsmodell – hier gibt es offenbar eine große Gemeinsamkeit unter den Menschen –, sondern auf der Komponente Kulturprogramm. Eben deshalb sind unterschiedliche „Kulturen“ auf der einen Seite so verblüffend vergleichbar und zugleich so verblüffend inkompatibel und unzugänglich, wie inter- und multikulturelle Erfahrungen lehren.
Es dürfte ohne große Begründung einleuchten, dass das Feld semantischer Differenzierungen und ihrer möglichen Beziehungen zueinander äußerst komplex und kontingent ist. Daher müssen Gesellschaften in ihrer Lebens- bzw. Handlungspraxis Kontingenzbegrenzer bzw. Kontrollinstanzen entwickeln, die dauerhaft die Beziehungsmöglichkeiten in übersubjektiv verbindlicher Weise regeln. Diese Regelung erfolgt in Form gesellschaftlich normierten und durch Sozialisation reproduzierten kollektiven Wissens, das von den Mitgliedern einer Gesellschaft in unterschiedlichem Maße geteilt wird. Die Mitglieder einer Gesellschaft erwarten voneinander, dass sie im Großen und Ganzen über dasselbe Wissen verfügen und auf seiner Grundlage handeln. Mit anderen Worten, das kollektive Wissen ist eine operative Fiktion, die durch Reflexivität das Handeln der Individuen trotz deren kognitiver Autonomie hinreichend koordiniert bzw. ko-orientiert.
Da Aktanten nur insofern und nur solange Mitglieder einer Gemeinschaft oder Gesellschaft „sind“, als sie bezogen auf deren Wirklichkeitsmodell agieren, kommt der Thematisierung, Plausibilisierung und Legitimierung des jeweiligen Wirklichkeitsmodells eine entscheidende Rolle zu. Mit anderen Worten, das System von Unterscheidungen, das den kategorialen Rahmen des Wirklichkeitsmodells bildet, muss dauerhaft mit einer inhaltlich elaborierten gesellschaftlichen Semantik und mit gesellschaftlich sanktionierten Affekten und Normen verbunden werden. Das Programm für diese sozial verbindliche kommunikative Gesamtinterpretation des Wirklichkeitsmodells einer Gesellschaft stellt die Kultur zur Verfügung. Daraus folgt: Es gibt keine Gesellschaft ohne Kultur und keine Kultur ohne Gesellschaft, und beide werden faktisch realisiert von kognitiv und kommunikativ aktiven Individuen. Die Entstehung von Kultur kann deshalb als eine nicht hintergehbare evolutionäre Errungenschaft (im Sinne von N. Luhmann) bezeichnet werden, die Kognition, Kommunikation und Interaktion kognitiv autonomer Aktanten koordiniert.
Die Entscheidung für das Konzept 'Programm' bei der Bestimmung von ‚Kultur‘ eröffnet meines Erachtens folgende Argumentationsmöglichkeiten:
Die vorgeschlagene Konzeptualisierung von ‚Kultur‘ fasst Wirklichkeitsmodelle und Kulturprogramme als unterschiedliche Aspekte eines notwendigerweise integralen Gesamtzusammenhangs „Gesellschaft“, wobei ‚Wirklichkeitsmodelle‘ eher den strukturellen (oder kategorialen), 'Kulturprogramme' eher den dynamischen (oder prozessualen) Aspekt betonen. Ein Programm enthält nicht nur eine Menge von Prinzipien, Regeln und festen Items, die aus bisher erfolgreichen Problemlösungen stammen und nicht ohne weiteres geändert werden können, sondern es braucht immer wieder neue Programmanwender. Dieser Doppelaspekt erlaubt die Beobachtung, dass der Mensch Schöpfer aller Kultur ist und zugleich die Menschen Geschöpfe einer je spezifischen Kultur sind.
Auch ein flexibles Programm erlaubt nicht alle möglichen Anwendungen: Die ausgeschlossenen Möglichkeiten bestimmen seine Spezifika ebenso wie die realisierbaren. Je nach Ausführungsinstanz (Programmanwendern), Situation, Anwendungsbereich und Verknüpfung von Programmbereichen liefert das Programm ganz unterschiedliche Ergebnisse (kulturelle Manifestationen). Charakteristisch für das Programm Kultur ist, dass es nicht nur die Herstellung von kulturellen (sprich: von Beobachtern für kulturell gehaltenen) Manifestationen, sondern auch deren Beobachtung und Bewertung steuert.
Kultur als Programm kann nach unseren kulturellen Erwartungen durch unterschiedliche Merkmale gekennzeichnet werden, unter anderem durch die:
Je nach Ausprägung und Verbindung dieser Merkmale kann man Kulturen typologisieren, ohne dabei mit Wertkriterien operieren zu müssen.
Da – abgesehen von instinktgesteuerten Körperfunktionen – alle menschlichen Handlungen und Kommunikationen so und auch anders ablaufen und auch alle überlebensrelevanten Funktionen in unterschiedlichen Formen erfüllt werden können (vgl. etwa das Gruß- oder Höflichkeitsverhalten), muss jede Gesellschaft die ständig anstehende Komplexität reduzieren. Kultur ist der Mechanismus, der diese kontingenten Selektionsleistungen in einer intersubjektiv zugänglichen Weise für Aktanten wie für soziale Systeme zu vollziehen erlaubt. Kulturprogramme steuern, welche Selektionen realisiert werden, sie relationiert die Selektionstypen, zeichnet gesellschaftlich akzeptable aus und sanktioniert andere. Damit stiftet Kultur individuelle wie soziale Identität und kompensiert die doppelte Kontingenz, die Kommunikation bestimmt. Mit anderen Worten: Mit Hilfe ihres Kulturprogramms invisibilisieren Gesellschaften die Kontingenz ihrer Praxen.
Neben den meist genannten Aufgaben Reproduktion und Kontrolle können der Anwendung von Kulturprogrammen vier damit zusammenhängende Aufgaben zugewiesen werden:
Entscheidet man sich für die Hypothese von Kultur als Programm der Thematisierung des Wirklichkeitsmodells einer Gesellschaft, dann lassen sich einige hartnäckige Probleme der kulturwissenschaftlichen Diskussion anders als bisher üblich behandeln. Dazu einige wenige Erläuterungen.
Autor | Siegfried J. Schmidt |
Zeitraum | Juni 2013 |