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„Einen Beinbruch sieht man sofort, eine schwere Depression nicht“ – An der Uni Potsdam studieren rund 2.900 Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen

Studierende sitzen in einer Bankreihe im Seminarraum. Das Foto ist von AdobeStock/Gorodenkoff.
Foto : AdobeStock/Gorodenkoff
An der Uni Potsdam studieren rund 2.900 Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen.

Schlechte Tage beginnen bei Mirjam Labrenz schon mit nächtlichen Albträumen. An solchen Tagen weiß die Studentin: Heute muss sie besonders auf sich achten, viel Ruhe und Pausen einhalten. Vielleicht kann sie nur 30 Minuten lernen oder arbeiten, dann ist schon Schluss. „Das ist natürlich äußerst unbefriedigend, aber ich muss meinem Körper nachgeben“, erklärt sie. Tut sie das nicht, ist sie danach oft tagelang nicht arbeitsfähig. Im Jahr 2014, kurz nach einem Studienpraktikum als Softwareentwicklerin am CERN in der Schweiz, wurde die Studentin überfallen und überlebte nur knapp. Eine psychische Erkrankung, die sie zuvor gut im Griff hatte, kehrte daraufhin mit Macht zurück und diktiert seitdem ihren Arbeits- und Studienalltag.

Mirjam Labrenz ist eine von rund 2.900 Studierenden der Uni Potsdam – rund 13 Prozent –, die ihr Studium mit einer Beeinträchtigung meistern und länger als sechs Monate körperlich oder seelisch beeinträchtigt sind. Bundesweit sind es elf Prozent. Die meisten haben psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen, ein kleinerer Teil ist körperlich beeinträchtigt. „Wir sind dazu verpflichtet, diesen Personen Teilhabe zu ermöglichen“, erklärt Studienberater Robert Meile. Welche Hürden und Hemmschwellen es auf diesem Weg gibt, weiß er genau. Denn seit 2019 ist er ehrenamtlich Berater für Studierende mit Behinderung und damit erste Anlaufstelle für deren Anliegen, Sorgen und Nöte.

Häufig geht es in seinen Beratungen darum, wie das Studium und die Prüfungen mit einer Beeinträchtigung gut organisiert werden können und welche Hilfen es dafür gibt. „Menschen mit Behinderungen studieren oft langsamer. Etwa, weil sie Klinikaufenthalte oder längere Krankschreibungen haben. Auch die Organisation von Hilfen ist zeitaufwendig“, erklärt Meile. Das hat finanzielle Folgen: Wer länger studiert, verliert den Anspruch auf Bafög oder einen Wohnheimplatz. Nachteilsausgleich und Eingliederungshilfen sollen die Nachteile und Mehrbedarfe ausgleichen. Darunter fallen etwa Fahrdienste oder Dolmetscher für Gebärdensprache. Der Nachteilsausgleich erleichtert vor allem Prüfungssituationen. Die Hilfen müssen beantragt werden – auch dabei unterstützt Robert Meile.

Mit dem Nachteilsausgleich hat Mirjam Labrenz mehr Zeit bei Klausuren und kann die Tests abseits von den anderen Studierenden in einem Extraraum schreiben. Das nimmt ihr die Ängste, die sie hat, wenn viele Menschen um sie herum sind. Außerdem sind die Abgabefristen für Studienarbeiten flexibler. „Das ist eine Riesenhilfe und nimmt viel Druck weg“, erklärt sie. Mit ihren Dozentinnen und Dozenten redet sie offen über ihre Einschränkung. „Damit habe ich bisher nur gute Erfahrungen gemacht. Die meisten wissen es zu schätzen, wenn man offen ist und auch den Nachteilsausgleich erklärt.“ Dabei gehe es nicht um Vor- oder Nachteile, sondern um Chancengleichheit, betont sie.

Vor allem Studierende mit nicht sichtbaren Einschränkungen scheuen sich jedoch häufig davor, Hilfen in Anspruch zu nehmen, weil Scham und Unsicherheit groß sind. „Bei einem Beinbruch sieht man sofort, was los ist, bei einer schweren Depression heißt es manchmal: ,Stell dich nicht so an!‘“, erzählt Mirjam Labrenz. „Einige Menschen reagieren verständnislos oder unsicher auf psychische Erkrankungen.“

Wegen langer Krankheitspausen und der geringen Belastbarkeit kommt sie selbst viel langsamer vorwärts, als sie es sich wünscht. Finanzielle Unterstützung bekommt sie nicht. Deshalb muss sie die Doppelbelastung in Kauf nehmen und finanziert sich das Studium mit einem Nebenjob an der Uni: Im Team „Studieren mit Beeinträchtigung“ des Dezernats für Studienangelegenheiten kümmert sie sich als Wissenschaftliche Hilfskraft darum, dass Studierende mit Beeinträchtigung sichtbarer werden als bisher, unterstützt bei Veranstaltungen und vernetzt Akteure miteinander. „Es ist mir wichtig aufzuklären, was überhaupt Einschränkungen sind und wer alles Anspruch auf Unterstützung hat“, erklärt sie. „Wer beispielsweise eine starke Migräne hat, kann natürlich auch einen Nachteilsausgleich beantragen. Aber das wissen viele nicht.“

Was notwendig ist, um das Recht auf Teilhabe umzusetzen, hat Robert Meile 2020 gemeinsam mit anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Inklusionskonzept der Universität Potsdam erarbeitet. Umfassende Beratungs- und Informationsangebote sind dabei ebenso essenziell wie räumliche, strukturelle und digitale Barrierefreiheit. Videos müssen etwa Untertitel und hörbare Bildbeschreibungen enthalten, PDF-Dokumente so aufbereitet werden, dass sie mit einem Screenreader lesbar sind, und Informationen in Gebärden- und in leichter Sprache verfügbar sein. „Auf den zentralen Hochschulwebseiten sind wir schon gut, aber gerade bei Lehrveranstaltungen oder Formularen im Geschäftsverkehr gibt es noch viel zu tun“, sagt Robert Meile. Damit sich das ändert, entwickelt er mit seinem Team Video-Tutorials für Beschäftigte, Lehrende und Studierende, die zeigen, worauf man bei Barrierefreiheit achten muss und wie sie umgesetzt werden kann.

Aus eigener Erfahrung weiß Mirjam Labrenz, dass es etwa für Hörgeschädigte schwierig ist, den Vorlesungen zu folgen. Sogenannte Hörschleifen, die für eine bessere Akustik sorgen, gibt es in den wenigsten Hörsälen. „Es kostet nicht viel, das nachzurüsten, würde aber vielen helfen“, sagt sie. Vorlesungen sollten außerdem auch weiterhin online angeboten werden, schlägt sie vor. Viele Studierende mit Einschränkung würden davon profitieren und ihr Studium leichter abschließen.

Mirjam Labrenz kämpft sich durch die schlechten Tage, aber zum Glück gibt es auch die guten – dann ist alles etwas leichter. Sie rät Studierenden, denen es ähnlich geht, geduldig mit sich selbst zu sein. „Sucht euch Hilfe, bei Beratungsstellen, Freunden und der Familie. Nutzt Dinge, die euch Kraft geben.“ Für sie selbst ist das Tanzen eine solche Kraftquelle. Bei Salsa und Disco-Fox treten Ängste und Sorgen in den Hintergrund. „Ich freue mich schon sehr darauf, nach der Pandemie wieder unbeschwert unter Leuten tanzen zu können.“

Informationen für Studierende mit Beeinträchtigung gibt es hier: www.uni-potsdam.de/studium/beratung/behinderung

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Eins 2022 „Diversity“ (PDF).