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Kulturprogramm

Der Begriff Kulturprogramm wurde vom Medienkulturwissenschaftler und Philosophen Siegfried J. Schmidt ausgeprägt. Sein Kulturkonzept leitet sich aus der Systemtheorie ab und ist Bestandteil seiner Theorie des soziokulturellen Konstruktivismus. Schmidt beschreibt Kultur aus den komplexen Zusammenhängen gesellschaftlichen und individuellen Handelns und Kommunizierens heraus, die sich am jeweiligen Wirklichkeitsmodell orientieren.

Wirklichkeitsmodelle sind als konzeptionelle Arrangements zu verstehen, mit denen individuelle Erfahrungen gesellschaftlich zu Verfügung gestellt werden. Diese Arragements erleichtern den Individuen wie der Gesellschaft den Umgang mit Welt. Kultur erscheint unter dieser Perspektive als ein „Programm der gesellschaftlich praktizierten bzw. erwarteten Bezugnahmen auf Wirklichkeitsmodelle.“ (Schmidt 2003: 38) Das heißt wir reagieren auf die uns von einer Gesellschaft zur Verfügung gestellten semantischen Kategorien und handlungsanleitenden Orientierungen.

Semantische Kategorien vermitteln nicht nur Unterscheidungen, sondern auch Affekte und Überzeugungen, Akzeptanz und Ablehnung. Die Entscheidung für oder gegen die eine Seite einer Unterscheidung ist immer eine Form des „Partei“-Ergreifens. Es handelt sich dabei um eine kognitive Entscheidung, die jeweils auch anders getroffen werden kann. Wird eine solche Entscheidung von einer Gesellschaft getroffen, dann muss sie verbindlich gemacht werden. Dies geschieht über eine Verknüpfung der kognitiven Entscheidung mit moralischen und affektiven Werten, die bei der Sozialisation der Mitglieder identitätsbildend wirken. So kann mit einem Kulturprogramm die Reproduktion der Gesellschaft gesichert und das Individuum gleichzeitig kontrolliert werden, denn das Programm regelt die Beziehung zwischen sozialen Ordnungen und individuellen Freiräumen. Das Kulturprogramm selbst ist als ein unsichtbares Gerüst zu verstehen. Es blendet die Tatsache aus, dass es sich bei seinen semantischen Kategorien, moralischen Wertsetzungen und den sich daraus ergebenden Handlungsanleitungen nur um eine Auswahl von möglichen (Wert)Setzungen handelt, die prinzipiell auch anders getroffen werden könnten. Denn bei semantischen Unterscheidungen, Wertsetzungen und Handlungsorientierungen handelt es sich nicht um Seins-, sondern nur um Beobachtungsalternativen.

So aufgefasst wird der Stellenwert von Gegenständen, Konzepten, Handlungen und Affekten erkennbar, d.h. ihre programmabhängigen Bedeutungszuordnungen und Wertzuschreibungen. Mit diesen werden sowohl kulturelle als auch subkulturelle Wirklichkeits- und Identitätskonstruktionen innerhalb einer Gesellschaft festgelegt. Kultur ist vor dem Hintergrund dieser Überlegungen keine referenzielle Bezugsgröße. Es handelt sich vielmehr um eine mehr oder weniger verbindliche und vor allem veränderbare Ansammlung von auf jeweils gültige Wirklichkeitsmodelle Bezug nehmenden Vor- und Darstellungen. Schmidts Konzeptualisierung von Kultur als Resultat einer programmspezifischen Bezugnahme auf die jeweiligen Wirklichkeitsmodelle einer Gesellschaft ist wertfrei. Es kann daher die Problematik sichtbar machen, die entsteht, wenn die konstitutiven, d.h. hegemonialen Kulturprogramme – wie in den meisten Gesellschaften – verabsolutiert und zur Aufrechterhaltung von Vorherrschaft und Macht vereinnahmt werden. Die daraus resultierenden Spannungen erscheinen dann als vermeidbare Effekte, die durch Umentscheidungen gelöst werden könnten.

Quellen:

  • Schmidt, Siegfried J. (2006): „Eine Kultur der Kulturen.“ In: Jacke, Christoph, Schmidt, Siegfried J. & Eva Kimminich (Hg.): Kulturschutt. Über das Recycling von Theorien und Kulturen. Bielefeld: transcript-Verlag 2006, 21-33.
  • Schmidt, Siegfried J. (2003): Geschichten und Diskurse. Reinbek: Rowohlt.
  • Schmidt, Siegfried J. (2002): „Kultur als Programm - jenseits der Dichotomie von Realismus und Konstruktivismus.“ In: F. Jaeger & J. Straub (Hrsg.): Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 2, Paradigmen und Disziplinen. Stuttgart/Weimar: Metzler 2002, S. 85-100
  • Schmidt, Siegfried J. (1999): „Kultur als Programm.“ In: P. Janich (Hrsg.): Wechsel-wirkungen. Zum Verhältnis von Kulturalismus, Phänomenologie und Methode. Würzburg: Königshausen & Neumann 1999, S. 227-236.
  • Schmidt, Siegfried J. (1995): „Kulturelle Wirklichkeiten“. In: S. J. Schmidt & B. Spieß (Hrsg.): Werbung, Medien und Kultur. Opladen: Westdeutscher Verlag 1995, S. 11-25.
Autorin Eva Kimminich
Zeitraum Juni 2013