Was verbindet Deutschland mit dem Baltikum?
Historisch gesehen natürlich zu allererst „eine lange Geschichte aus Unglück und Verschuldung, die uns Deutschen zu Buche steht“, wie es in den 1960er Jahren der große Dichter Johannes Bobrowski formuliert hat. Bobrowski bezieht es auf die lange Kolonialgeschichte seit den Tagen des Deutschen Ordens, es gilt aber natürlich besonders für das 20. Jahrhundert. Das sollte man als Deutscher nie vergessen, wenn man sich mit dem Baltikum beschäftigt. Zugleich aber gibt es eben auch eine jahrhundertelange kulturelle Verflechtungsgeschichte. Die ersten gedruckten Bücher in Lettland und Estland, deren 500. Jubiläum gerade gefeiert wird, waren Luther-Bibeln, die im engen Austausch mit Wittenberg entstanden. Die ersten Veröffentlichungen in der litauischen, lettischen oder estnischen Landessprache wurden im 18. Jahrhundert wesentlich von deutschsprachigen Aufklärern betrieben. Ein Beispiel dafür ist das großartige litauische Versepos „Die Jahrszeiten“ von Christjonas Donelaitis. Lessing, Herder, Humboldt und andere Aufklärer entdeckten gerade in der landessprachlichen Dichtung in Litauen oder Livland (also dem heutigen Lettland und Estland) das Modell für eine volkssprachliche Literatur und Kultur, das grundlegend für ihre Aufklärungsprogramme war.
Aktuell sehen nicht wenige politische Akteure der drei baltischen Staaten – Estland, Lettland und Litauen – die Bundesrepublik Deutschland als einen ihrer wichtigsten Partner in Europa. Dies betrifft natürlich zuerst die wirtschaftliche und sicherheitspolitische Zusammenarbeit. Aber diese kann auch nur funktionieren, wenn ein wechselseitiges kulturelles Verständnis und die gegenseitige Anerkennung unterschiedlicher Perspektiven gegeben sind. Zu beachten ist auch hier, dass die Begriffe „Baltische Staaten“ oder „das Baltikum“ sehr allgemeine und auch von der Kolonialgeschichte geprägte Begriffe sind. Ähnlich wie die Kategorie „Skandinavien“ verdeckt, dass sich Dänen, Schweden, Norweger und Finnen dagegen verwehren würden, einfach „in einen Topf“ geworfen zu werfen, gilt dies auch für die baltischen Staaten. Litauen, Lettland und Estland sind unabhängige Staaten, die im Rahmen der Europäischen Union ihren je eigenen Weg gehen. Estland etwa mit sehr engen Beziehungen zu Finnland. Was alle drei baltischen Staaten verbindet, ist, dass sie als ehemalige Sowjetrepubliken vor gewaltigen Transformationsaufgaben standen und sich diesen sehr offen, beweglich und innovativ gestellt haben und stellen. Bei aller Vorsicht mit historischen Vergleichen: So wie das Baltikum für viele Reformideen im Zeitalter der Aufklärung ein Zentrum an der Peripherie war, so gilt dies heute etwa mit Blick auf neue digitale Medien, Technologien und Wissensformen. Im Stadtbild von Riga kann man alle historischen Schichten von den alten deutsch-baltischen Ordenshäusern über das Jugendstilviertel des frühen 20. Jahrhunderts bis hin zu sowjetischen Wohnsiedlungen und dem Mahnmal der Shoa ablesen. Gegenüber aber stehen auf der anderen Seite der Düna das 2004 erbaute Bibliotheksgebäude und der neue Universitätscampus als Symbole der Stadt und des Landes Lettlands als einer modernen demokratischen Wissensgesellschaft.
Gibt es schon länger Verbindungen von Potsdam nach Riga?
Die Kooperation zwischen den Universitäten Potsdam und Riga wurde vor über einem Jahrzehnt ins Leben gerufen – in Form einer strategischen Hochschulpartnerschaft im Erasmus-Programm. 2014/15 haben wir begonnen mit der Erforschung von „Medienpraktiken der Aufklärung“. Dazu zählte etwa die Untersuchung von Periodika des 18. Jahrhunderts, um aus heutiger Sicht die Koexistenz verschiedener Medien zu beleuchten. Im baltischen Raum gab es zahlreiche handschriftliche Publikationen, die trotz ihres alternativen Formats großen Einfluss besaßen, was die Bedeutung von Handschriften belegt. Dieser Befund legt eine differenziertere Sicht auf das Gutenberg-Modell nahe und ist auch für die aktuellen Medienrevolutionen von Bedeutung: das Modell eines bloßen Nacheinanders von der Handschrift über das Buch bis zu digitalen Formaten wird ergänzt durch den Blick auf die komplexe Koexistenz verschiedener Medienformate. Trotz der Digitalisierung werden heute mehr Bücher denn je veröffentlicht.
Ab 2018 konnten wir die Partnerschaft dank einer weiteren Erasmus-Förderung fortsetzen – mit Fokus auf die „Zukunft des kulturellen Erbes in Europa“. Nun, 2025, mündete die Zusammenarbeit in der Gründung des Interdisziplinären Zentrums für Deutschland-Studien, das u.a. durch den Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), die deutsche Botschaft in Lettland und das Goethe-Institut unterstützt wird.
Parallel dazu gab es seit sechs Jahren eine Germanistische DAAD-Institutspartnerschaft mit der Universität Tartu, die seit Januar dieses Jahres auf Riga ausgeweitet wurde.
Woran knüpft das neue „Interdisziplinäre Zentrum für Deutschland-Studien in Riga“ an?
Das Zentrum knüpft an diese Forschungen an und führt darüber hinaus unterschiedliche Initiativen auf den Gebieten der lettisch-deutschen und baltisch-deutschen Zusammenarbeit zusammen, um deren Synergien zu fördern.
Mit Blick auf Struktur und Aufgaben ruht das Zentrum auf drei Säulen: Erstens ermöglicht es eine multiperspektivische Erforschung der gemeinsamen Kulturgeschichte im baltischen Raum, der Geschichte der Aufklärung und der folgenden Jahrhunderte. Diese Forschung wird durch gemeinsame Lehrveranstaltungen ergänzt, die interdisziplinäre und internationale Perspektiven fördern.
Zweitens hilft das Zentrum bei der Ausbildung: Es gibt einen aktuellen Bedarf an hochqualifizierten Deutschlehrkräften in allen drei baltischen Staaten. Durch ein internationales Austauschmodell wird die Lehrerausbildung gefördert, wobei die Universität Potsdam ihre Kompetenz in der Lehrerbildung einbringt. Dies unterstützt nicht nur die Sprachvermittlung, sondern auch kulturelles Verständnis.
Schließlich wollen wir eine Plattform etablieren, die über die Geisteswissenschaften hinausgeht und als Transferhub für Initiativen zur baltisch-deutschen Zusammenarbeit in anderen Fakultäten und auch über den akademischen Bereich hinaus dient.
Wie arbeitet das Zentrum ganz konkret?
Das Zentrum ist Teil der Universität Lettlands in Riga und dort vor allem in der geisteswissenschaftlichen Fakultät verankert. Wir bringen uns im Rahmen der Partnerschaft ein; außerdem bin ich im Kuratorium und im Wissenschaftlichen Beirat vertreten. Grundlage unserer Zusammenarbeit der beteiligten Universitäten im Zentrum sind neben der gemeinsamen Forschung der Lehrendenaustausch und Workshops. Darüber hinaus ermöglichen die Erasmusaustauschprogramme den baltischen Studierenden ein Studium in Deutschland. Lokale Stiftungen könnten zusätzliche Mittel zur Verfügung stellen, um Auslandssemester besser auszustatten.
Forschungsprojekte werben wir bei unterschiedlichen deutschen Stiftungen und bei der Europäischen Union ein. Hier gibt es beispielsweise Programme, die über die Förderung thematischer Projekte auch Strukturförderungsmaßnahmen vor Ort in Riga ermöglichen. Dies ist aus mehreren Gründen ein besonderes Anliegen: es dient dem Ausgleich von sich aus historischen Imperial- und Kolonialverhältnissen ergebender und bis heute in Form ökonomischer Ungleichheiten fortbestehender Asymmetrien. Es ist aber auch eine kluge Investition in innovative Initiativen vor Ort, von denen wir wiederum lernen können. In einer Zeit, in der in den USA, aber auch in Westeuropa germanistische Institute reihenweise geschlossen werden und in der in vielen ost- und südeuropäischen Ländern die Sympathiewerte für unser Land abnehmen, hat die Universität Lettlands mit der Zentrumsgründung einen Kontrapunkt gesetzt, den wir mit allen Kräften unterstützen wollen.
Was haben Sie sich mit den Partnern für die kommende Zeit vorgenommen?
An Herausforderungen, Plänen und laufenden Projekten mangelt es nicht. Gerade hat an der Universität Potsdam unsere regelmäßige Herbstschule mit Studierenden und Lehrenden der Universitäten in Riga und Tartu stattgefunden. Wir verfolgen – immer unter Einbezug der Studierenden – Kooperationsprojekte wie die historisch-kritische Ausgabe der Werke Friedrich Maximilian Klingers. Klinger, neben Goethe und Lenz, der wichtigste „Erfinder“ des Sturm und Drang, hat seine zweite Lebenshälfte als Wissenschaftsorganisator im Baltikum verbracht und den akademischen und kulturellen Raum zwischen St. Petersburg und Mitau (heute Jelgawa) wesentlich mitgestaltet – was Goethe in dieser Hinsicht in Weimar war, war Klinger für das Baltikum. Die Ausgabe wird zusammen mit Kolleginnen der Universität Tartu und der Humboldt Universität herausgegeben und bietet Studierenden im Rahmen von Praktika neben Möglichkeiten der internationalen Zusammenarbeit auch konkrete Praxiserfahrungen im Verlagswesen und in den Editionswissenschaften. Wir bauen die seit dem Kant-Jahr 2024 bestehende Zusammenarbeit auf diesem Gebiet mit einem Projekt „Kant im Baltikum“ aus, in dem wir unter anderem anhand von Kants Rigaer Verleger Hartknoch die Zusammenhänge zwischen Wirtschaftsgeschichte und Aufklärung verfolgen. Und gemeinsam mit der Lettischen Nationalbibliothek beschäftigen wir uns mit unterschiedlichen Aspekten der jüdischen Kulturgeschichte – beispielsweise anhand jiddisch- und hebräisch-sprachiger Bestände der Rigaer Bibliothek. Auch hier kann die Universität Potsdam mit ihrem Schwerpunkt in den Jüdischen Studien und dem Moses Mendelssohn Zentrum sich sinnvoll einbringen. Neben diesem laufenden „Kerngeschäft“ auf dem Gebiet ideen- und kulturgeschichtlicher Projekte sowie der Unterstützung bei der Ausbildung von Deutschlehrkräften arbeiten wir derzeit mit Hochdruck an der weiteren strukturellen und personellen Vernetzung des Zentrums in Richtung aktueller Fragen von Digitalisierung, Herausforderungen der Demokratie und europäischer Integration.
Weitere Informationen:
Zur Kooperation zwischen den Universitäten Potsdam und Riga:
Zur Gründung des Interdisziplinären Zentrums für Deutschland-Studien: https://www.uni-potsdam.de/de/medieninformationen/detail/2025-07-01-deutsch-baltische-partnerschaft-interdisziplinaeres-zentrum-fuer-deutschland-studien
Zur Arbeit von Prof. Dr. Dr. h.c. Iwan-Michelangelo D'Aprile: https://www.uni-potsdam.de/de/kulturen-der-aufklaerung/index


