Was wollen Sie mit Ihrem Buch erreichen?
Sie haben es eingangs gesagt, die Welt scheint teilweise, um es nicht zu übertreiben, aus den Fugen geraten zu sein. Was für uns öffentliche Hochschulen weltweit bedeutet, dass wir uns unserer besonderen Rolle, unserer Verantwortung für das Gemeinwohl, bewusster werden müssen, als es in den letzten Jahrzehnten der Fall war. Vieles, das bisher unverrückbar schien – wie die Demokratie, der Frieden in weiten Teilen der Welt – ist heute nicht mehr selbstverständlich. Was mich dazu gebracht hat, über meine Rolle als Universitätspräsident und die Rolle der öffentlichen Hochschulen insgesamt intensiver nachzudenken. Sind wir echte Garanten des Gemeinwohls? Haben wir überhaupt diesen Anspruch und wenn ja, wie kann das gelingen?
Wir sehen, was in den Vereinigten Staaten passiert, seitdem Donald Trump Präsident ist. Die weltbekannten amerikanischen Forschungsuniversitäten geraten massiv unter Druck – vielleicht auch, weil sie sich in den letzten Jahren von der Gesellschaft entfremdet haben. Populisten in den USA, aber auch in Europa, bedienen ein Narrativ, wonach Universitäten sich überwiegend mit sich selbst beschäftigen und nur noch zu Gender, Rassismus und Sexismus forschen. Ein Zerrbild. So weit ist es in Europa noch nicht, doch auch bei uns sind Hochschulautonomie und Wissenschaftsfreiheit keine Selbstläufer. Daher sollten wir noch öfter unsere Blase verlassen und das, was Hochschulen tun, stärker in die Gesellschaft hinein kommunizieren. Dabei müssen wir auch diejenigen Menschen erreichen, die eher wenig mit Wissenschaft zu tun haben. Hier gilt die klare Botschaft: Universitäten leisten wesentliche Beiträge zur Lösung der wirklich brennenden Probleme unserer Zeit.
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass die aufgeworfenen Fragen Sie schon seit den frühen 1980er Jahren beschäftigen.
Schon als Student hat mich die Frage interessiert, warum Gesellschaften in ihre Hochschulen investieren. Was kommt im Gegenzug zurück? Welcher Rahmen ist förderlich, um dem Gemeinwohl zu dienen? Bis vor etwa zehn Jahren war das für mich eher ein privates Hobby, weil viel von dem, was wir mit der Institution öffentliche Universität verbinden, als selbstverständlich anerkannt war. Hochschulen kosten Geld, die Landeshaushalte finanzieren den größten Teil, dazu kommen Mittel des Bundeshaushalts und natürlich die sogenannten Drittmittel – Fördergelder, die zusätzlich für bestimmte Projekte eingeworben werden. Dafür erbringen wir Lehre, Forschung und zunehmend auch Transfer. So war es lange Zeit Konsens in unserer Gesellschaft. Doch seit einigen Jahren wird daran teils aktiv, teils auch unbewusst „gesägt“. Deswegen schien mir jetzt ein guter Zeitpunkt zu sein um aufzuschreiben, wie wir Universitäten in unserem deutschen System aufgestellt sind. Was sollten wir besser machen und wie müssen wir mit den massiven Konflikten, die in den letzten Jahren aufgekommen sind, umgehen?
Die zunehmende Sichtbarkeit und die höheren Wahlanteile der populistischen Parteien jeglicher Couleur markieren einen klaren Trend, den viele von uns bedauern. Doch die Frage ist: Was tun wir dagegen? Wenn wir feststellen, dass Populismus dem Gemeinwohl nicht dient, sondern schadet – das ist jedenfalls meine Überzeugung – dann müssen sich die Universitäten stärker engagieren. Seit mindestens zehn Jahren nehme ich diese Entwicklungen in Deutschland wahr. Dann kamen der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, die Auseinandersetzungen zwischen Israel und Palästina dazu – all das spiegelt sich auch auf dem universitären Campus wider. Insofern sind wir als Hochschulleitung oder in der Gemeinschaft der Universitätsangehörigen gefragt, stärker als bisher die eigene Rolle zu reflektieren, Strategien zu entwerfen und operative Veränderungen einzuleiten.
Wir an der Universität Potsdam erleben Ihre Haltung und Ihr Engagement bei vielen Gelegenheiten. Was war der Auslöser, jetzt dieses Buch zu schreiben?
Der Auslöser war der Angriff der Hamas auf Israel, der in der Folge zu sehr harten Kontroversen in der Gesellschaft geführt und sich eben auch auf den universitären Campi dieser Welt niedergeschlagen hat. Eine der drängendsten Fragen nach diesen dramatischen politischen Entwicklungen war: Wie können wir darüber debattieren – angesichts der emotional aufgeladenen, extremen, vielschichtigen Argumente? Wo finden kontroverse Meinungen Gehör? Wie wirkt sich die gewachsene Rolle, die Deutschland gegenüber Israel eingenommen hat, auf den Diskurs aus? Das war für mich Anlass, grundsätzlich über unsere Diskussionskultur nachzudenken.
Gerade in solch schwierigen Zeiten zeigen sich immer wieder Tendenzen, Redefreiheit, Wissenschaftsfreiheit oder gar Forschungsfreiheit einschränken zu wollen, um unliebsame Meinungen zu unterdrücken. Hier müssen die Universitäten aufstehen, mit einer lauten Stimme sprechen: Das sind Freiheiten, die wir uns in Deutschland hart erkämpft haben. Die geben wir nicht einfach an der Garderobe ab, wenn es ein bisschen unbequem wird. Natürlich müssen wir darauf achten, dass keine Gesetze verletzt werden, dass sich der Diskurs auf dem Boden der freiheitlich demokratischen Grundordnung bewegt. Dieser Balanceakt wird in meinem Buch ausführlich beschrieben.
Damit kommen wir zur Kernfrage: Sind Universitäten Brutstätten von Extremismus oder Garanten des Gemeinwohls?
Der Vorwurf, dass Universitäten Brutstätten von Extremisten sind, ist nicht neu. Den gab es schon im 20. Jahrhundert. Ich erinnere mich daran, wie in der Zeit, in der ich noch zur Schule ging, also in den 1970er Jahren, die Universitäten im Kreuzfeuer standen, damals Brutstätten der Roten Armee Fraktion (RAF) zu sein. Denn viele der Akteure, die sich dem Terrorismus zugewandt hatten, studierten an deutschen Hochschulen, teilweise mit Förderung durch die Studienstiftung des deutschen Volkes. Schon damals wurde also diese Debatte – wenn auch unter anderen Vorzeichen – geführt. Inzwischen haben sie Populisten von der anderen Seite aus wiederbelebt.
Als Universitäten sollten wir uns nicht von den Medien treiben lassen, sondern aktiv mit eigener Agenda in die Öffentlichkeit treten. So können wir faktenbasierte Argumente beisteuern und zu einer differenzierten Meinungsbildung beitragen. Das würde auch die Agenda des öffentlichen Diskurses erweitern und der Komplexität der Welt stärker Rechnung tragen. Manchmal habe ich den Eindruck, wir drehen uns zu sehr um die eigene Achse: Rassismus und Sexismus beispielsweise dominieren die Debatten und überlagern andere wichtige Themen. Keine Frage, diversitätsbasierte Ansätze und Perspektiven haben in Forschung und Lehre wesentlich an Bedeutung gewonnen. Und davon profitieren die Universitäten. Doch vielleicht haben wir gelegentlich zu sehr Themen wie Gendering und Wokeness in den Vordergrund gerückt, mit denen viele Menschen außerhalb der akademischen Welt nichts anfangen können. Zumindest haben wir sie zu wenig erklärt. Dabei haben die öffentlichen Universitäten eine weit größere Expertise, als es dieser verengt wahrgenommene Diskurs widerspiegelt. So ist eine neue Form des Elfenbeinturms entstanden, die Teile der Gesellschaft verschreckt. Das fällt der gesamten Universitätslandschaft jetzt auf die Füße. Daher wiederhole ich den Kern meines Buches an dieser Stelle: Wir sollten klarer machen, dass Wissenschaft die Grundlagen für Stabilität und Wohlstand schafft. Das Lebensglück der kommenden Generationen ist ohne Forschung, Lehre und eben den Transfer in die breite Öffentlichkeit nicht denkbar. Ich würde sogar noch weiter gehen und sagen: Ein Staatswesen kann ohne gut funktionierende offene, demokratisch organisierte Universitäten nicht auf Dauer funktionieren.
Warum ist es derzeit schwer, die Grenzen der Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit auszuloten und sich zu Wort zu melden, wenn „rote Linien“ überschritten werden?
Das ist schwierig, gehört aber zu den Kernaufgaben einer Hochschulleitung. Auch wenn es nicht immer angenehm ist, muss dies als wichtige gesellschaftliche Aufgabe verstanden werden – zumal für uns hier in Potsdam. Schon am Hof Friedrichs II. haben diese Fragen eine Rolle gespielt. Ich erinnere an das Zitat, das Voltaire zugeschrieben wird, der in Sanssouci einige Zeit zu Gast war: „Mein Herr, ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde dafür sterben, dass Sie sie äußern können.“ Sehr dramatisch formuliert, aber in gewisser Weise heute relevanter denn je.
Inwiefern kann Wissenschaft zur Sicherung der Demokratie beitragen?
Wissenschaft stabilisiert die Demokratie auf unterschiedliche Art und Weise, wie ich bereits am Beispiel ihrer faktenbasierten Beiträge zu gesellschaftlichen Diskursen ausgeführt habe. Doch auch inhaltlich gilt Forschung als stabilisierender Faktor. Ich erläutere das am Beispiel der Corona-Krise: Da haben wir gesehen, wie die naturwissenschaftliche, begleitend auch die kultur- und sozialwissenschaftliche Forschung, Fragen der Gesundheit und des Zusammenlebens während einer Pandemie aufgegriffen und nach Antworten gesucht haben. Innerhalb weniger Monate (!) lieferten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Erkenntnisse, die unsere Gesellschaft erheblich vorangebracht haben. Großartig war der Erfolg in Mainz, als der erste Impfstoff gegen das Corona-Virus aus einem Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) heraus entwickelt wurde.
Auch in der akademischen Lehre werden wichtige Grundlagen der Demokratie geschaffen. Neben dem Erwerb von Fachkenntnissen entwickeln sich die jungen Erwachsenen an den Universitäten persönlich weiter, zu Bürgerinnen und Bürgern einer freiheitlichen Demokratie, in vielen Fällen mit dem Ziel, in den kommenden Jahren das Gemeinwohl so zu fördern, dass möglichst viele Menschen auch in Zukunft glücklich und zufrieden leben können. Und zu guter Letzt hat auch der klassische Wissens- und Technologietransfer stabilisierende Effekte – durch seine kommunikative Wirkung in die Gesellschaft hinein, durch die Ausbildung von Lehrkräften, durch Fort- und Weiterbildung aber auch durch vorangetriebene Innovationen: Dass Firmen gegründet werden, Forschung zu Entwicklung wird und das so entstehende Wissen in ganz unterschiedlichen Bereichen unseres Zusammenlebens angewandt wird, all das trägt auch zur Stabilisierung unseres demokratischen Gemeinwesens bei. Die Universitäten leisten unglaublich viel für die freiheitliche Demokratie. Und das müssen wir noch viel besser kommunizieren!