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Online oder Präsenz – „Gute Lehre ist immer zeitaufwendig“ sagt Chemieprofessor Bernd Schmidt

Krisenbewältigung und Innovation – Die digitale Universität in Zeiten der Pandemie

Prof. Dr. Bernd Schmidt | Foto: Sandra Scholz
Photo : Sandra Scholz
Prof. Dr. Bernd Schmidt
Als Leiter der Arbeitsgruppe organische Synthesechemie lehrt Prof. Dr. Bernd Schmidt am Institut für Chemie der Universität Potsdam in Golm. Neben Vorlesungen sind Laborpraktika in organischer Chemie ein wesentlicher Bestandteil seiner Lehrveranstaltungen. In unserer Interviewreihe zur digitalen Lehre berichtet er von reduzierten Laborplätzen, hocheffizienten Abluftanlagen, einem tatkräftigen Team und warum es unübertroffen ist, mit der Hand zu schreiben.

Wie lehren Sie jetzt im zweiten digitalen Semester?

Synchron online mit einem Grafik-Tablet und via Zoom. Die Mitschriften stelle ich nach jedem Termin als pdf auf die Moodle-Plattform.

Welche Lösungen aus dem ersten digitalen Semester haben sich etabliert, was musste für das zweite digitale Semester noch einmal überdacht werden?

Ich habe aus dem ersten und zweiten digitalen Semester für das dritte gelernt – das auf uns zukommen wird, ob uns das gefällt oder nicht: ich werde meine asynchrone Online-Lösung aus dem Sommer 2020 für den Sommer 2021 beibehalten, aber um synchrone Online-Elemente ergänzen. Ich hoffe, dass der regelmäßige Kontakt mehrmals pro Woche den Studierenden, die das brauchen, bei der Strukturierung des Studiums und der Bewältigung des Lernstoffs hilft.

Warum ist die digitale Lehre zeitaufwendiger als die Präsenzlehre?

Im Sommer mussten wir relativ kurzfristig alles neu aus dem Boden stampfen – ein Skriptum, das es noch nicht gab, kurze Videopodcasts, die nicht nur aufgenommen, sondern vorher ja auch geplant werden mussten, und viele weitere kleine und große Details. Das hat – trotz der hervorragenden didaktischen Unterstützung – viel mehr Zeit gekostet als meine normale Präsenzlehre. Grundsätzlich gilt aber: GUTE Lehre ist immer zeitaufwendig, egal ob sie in Präsenz oder online durchgeführt wird.

Konnten Laborpraktika für alle angemeldeten Studierenden wie geplant stattfinden?

Im Frühjahrszwischensemester 2020 konnten wir vor dem ersten Lockdown noch die Laborpraktika für zwei Studiengänge normal durchführen. Der dritten Gruppe habe ich einen Ausweichtermin im August angeboten. Schwierig wurde das Herbstzwischensemester: während uns normalerweise 50 Laborplätze zur Verfügung stehen, waren es – aufgrund der Abstands- und Hygieneregeln – auf einmal nur noch 19, verteilt auf zwei Praktikumslabore. Wir hatten 132 Anmeldungen. Das schaffen wir normalerweise locker in vier Wochen mit einem Labor, jetzt brauchten wir acht Wochen und mussten zwei Praktikumslabore öffnen – das verdoppelt den personellen Aufwand, weil aus Sicherheitsgründen jederzeit zwei qualifizierte Personen anwesend sein müssen.

Wie werden die Praktika unter Corona-Bedingungen durchgeführt?

Wir haben das große Glück, dass Chemielabore über hocheffiziente Abluftanlagen verfügen. Dadurch verringert sich die Gefahr einer Coronainfektion über Aerosolbildung drastisch. Vor dem Hintergrund ändert sich eigentlich für die Studierenden nicht so viel, außer dass – durch die sehr geringe Belegungsdichte – alles viel entspannter ist: die Studierenden haben mehr Platz und mehr Aufmerksamkeit der Betreuer. Auch die Wartezeiten für die Benutzung von Laborgeräten verringern sich. Die Kehrseite: Den Studierenden werden wesentliche Kompetenzen nicht mehr im gleichen Maße abverlangt wie unter Normalbedingungen: sorgfältiges Planen des Labortages, Zeit- und Stress-Management.

Anders sieht es für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, meistens Promovierende, aus: Sie mussten wesentlich mehr Zeit für die Lehre aufwenden, die ihnen für ihre Forschung fehlte. Das haben wir dank der sehr großzügigen finanziellen Unterstützung der Fakultät durch studentische Hilfskräfte und temporäre Aufstockungen abfangen können. Dafür ein herzliches Dankeschön – sowohl an die Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät als auch an unsere Mitarbeitenden, die das ohne Murren mitgemacht haben.

Welche Schwierigkeiten gibt es dabei?

Wir mussten Studierende von der über Puls zu Beginn des Sommersemesters belegten Praktikumswoche in eine andere umbuchen. Ich habe zunächst im Sommer einen Aufruf an die Studierenden gestartet: Wenn Sie jetzt schon wissen, dass sie am Laborpraktikum im Herbst nicht teilnehmen werden, melden Sie sich bitte in Puls ab und machen Sie den Platz frei! Wenn es für Sie irgendwie möglich ist, einen der Ersatztermine wahrzunehmen, melden Sie sich bitte! Teilen Sie mir bitte mit, wenn Sie auf gar keinen Fall in eine andere Gruppe wechseln können!
Abgemeldet haben sich kaum Studierende, aber die Resonanz auf die Ersatztermine war sehr groß – häufig ausdrücklich verbunden mit dem Hinweis, dass man sich solidarisch mit den Kommilitoninnen und Kommilitonen zeigen möchte, die zeitlich nicht flexibel sind. Darüber habe ich mich sehr gefreut.  
Der organisatorische Aufwand war enorm, ich habe selten so viele E-Mails von Studierenden bekommen und an Studierende geschrieben wie in dieser Zeit. Daher habe ich mich darüber geärgert, dass von 132 angemeldeten Studierenden 37 nicht erschienen sind, entweder ganz ohne sich abzumelden oder mit einer sehr kurzfristigen Abmeldung, wodurch der frei gewordene Platz nicht mehr besetzt werden konnte. Eine so hohe „No-Show“-Quote hatten wir noch nie. Ein weiteres Novum: Nichtbestehen des Laborpraktikums war immer eine absolute Ausnahme, mit weniger als fünf Fällen in über zehn Jahren. Allein im Corona-Semester haben acht Studierende das Praktikum abgebrochen.

Wo wünschen Sie sich noch mehr Unterstützung seitens der Universitätsleitung und -verwaltung?

Solange wir unter diesen Umständen die Laborpraktika durchführen müssen, benötigen wir natürlich Geld für Hilfskräfte oder Aufstockung des Personals. Ein Aufwand wie oben beschrieben ist mit den normalen Lehrkapazitäts-Bordmitteln unseres schon im Normalbetrieb zu 120 Prozent ausgelasteten Instituts nicht zu machen. Aber in dieser Hinsicht bin ich aus meinen Erfahrungen mit unserer Universitätsleitung und der Fakultät sehr zuversichtlich.
Was wir dringend benötigen, ist eine Eindämmungsverordnung, die spezifisch die Anforderungen der Hochschulen berücksichtigt – zur Zeit firmieren wir unter „weitere Bildungseinrichtungen“ und sind Regeln unterworfen, die die Durchführung von Laborpraktika in den meisten Fällen unmöglich machen. Sowohl der Personal- als auch der Raumbedarf können mit den aktuellen Einschränkungen nicht realisiert werden.

Welche Alternativen bieten Sie Studierenden, die aufgrund der Corona-Schutzmaßnahmen nicht ins Labor kommen können oder wollen?

Ersatzleistungen für Laborpraktika sind in aller Regel schwierig bis unmöglich. Naturwissenschaftliche Studiengänge haben nun mal auch eine starke handwerkliche Komponente. Sicher und nach den Regeln guter wissenschaftlicher Praxis zu experimentieren, lernt man nur, wenn man es selbst und mit eigenen Händen macht. Daran führt – von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen – kein Weg vorbei. Was wir den Studierenden anbieten können, sind großzügige Ersatzterminregelungen.

Wie führen Sie Prüfungen durch?

Als schriftliche Prüfungen in Präsenz – auch wenn ich Verständnis für die Sorgen der Studierenden habe. Diesen Sorgen begegnen wir dadurch, dass wir die Belegungsdichten der Hörsäle noch deutlich unter das nach Eindämmungsverordnung erlaubte Maß senken, strikt auf die Einhaltung der Hygiene- und Abstandsregeln achten und Prüfungen bei dramatisch ansteigenden Inzidenzzahlen ggf. auch nach hinten verschieben. Schriftliche Online-Prüfungen kann ich mir für mein Fach nicht vorstellen: Chemie lebt von der Formelsprache, für die es zwar Zeichenprogramme gibt – aber diese erfordern viel Übung und Zeit, und ihre Verwendung klappt nicht auf Anhieb. Das würde für die Studierenden noch einen zusätzlichen Stressfaktor in die Prüfung bringen. Mit der Hand zu schreiben ist unübertroffen. Ausdrucken der Prüfungsunterlagen und Einscannen ist auch keine Lösung – da sehe ich große Probleme bei der technischen Ausstattung der Studierenden.

Wie ist das Feedback der Studierenden?

Zur Lehre überwiegend positiv bis sehr positiv. Auch die Präsenzprüfungen im Herbst wurden nicht kritisiert. Ich habe auch jetzt keine Kritik an der Durchführung von Präsenzprüfungen gehört, im Gegenteil: Mein Eindruck ist, dass sehr viele Studierende ihre Prüfungssituation nicht zusätzlich durch ein Online-Element belasten wollen.

Die Uni hat lange versucht, so viele Veranstaltungen in Präsenz wie möglich durchzuführen – unter den größtmöglichen Sicherheitsvorkehrungen. Was halten Sie davon?

Ich verstehe die Motivation der Unileitung. Natürlich besteht die Sorge, gerade Studienanfängerinnen und Studienanfänger abzuhängen, wenn es keinen persönlichen Austausch gibt. Aber wir müssen auch akzeptieren, dass die Infektionslage Präsenzlehre in dem Umfang, wie wir alle sie gerne hätten, einfach nicht zulässt. Wann immer eine Lehrveranstaltung ohne signifikanten Qualitätsverlust online durchgeführt werden kann, sollten wir das tun – das minimiert die Risiken für Studierende und Mitarbeitende und eröffnet uns Spielraum, möglichst lange Präsenzveranstaltungen und -prüfungen anzubieten, die nicht durch Online-Formate ersetzbar sind.

Wie heißt das Semester bei Ihnen: Corona- oder Digitalsemester oder anders?

Eher „Corona-Semester“. Die Einschränkungen nerven schon unglaublich, das möchte ich lieber mit „Corona“ als mit „Digital“ assoziieren. „Corona“ verschwindet hoffentlich bald, „Digital“ bleibt.

Erleben Sie die Corona-Semester als Zeit der Krise oder der Innovation?

Sowohl als auch. Aber in der Krise liegt vielleicht auch Innovationspotenzial – uns werden im Moment viele Defizite in allen Bereichen brutal vor Augen geführt. Jetzt kommt es darauf an, wie wir darauf reagieren: Augen zumachen oder Defizite beheben.
 

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