Zum Hauptinhalt springen

Cilly und Henri – Wie Thomas Brechenmacher Henri Nannen erforschte und Cilly Windmüller fand

Auch wenn ihn heute nicht mehr jede und jeder kennt, ist Henri Nannen doch eine namhafte Größe der deutschen Nachkriegsgeschichte. Der Verleger und Publizist, Gründer und langjähriger Chef des „Stern“ prägte über Jahrzehnte die Medienlandschaft. Doch es liegt ein Schatten auf Nannens Vergangenheit: Seit Jahren wird sein Lebensweg während der NS-Zeit diskutiert und erforscht. War er ein Täter, ein Mitläufer? Auf Wunsch des Sohnes und der Enkelin, Christian und Stephanie Nannen, hat der Potsdamer Historiker Prof. Dr. Thomas Brechenmacher schon 2023 Nannens Vergangenheit unter die Lupe genommen und seine Erkenntnisse in einem Gutachten zusammengefasst. Gefunden hat er dabei ein komplexes Leben, voller Brüche und Widersprüche. Und eine Beziehung zu seiner ersten Freundin, Cilly Windmüller, die als Jüdin verfolgt und in die Emigration getrieben wurde. Eine Beziehung, die Brechenmacher so faszinierte, dass er über die Geschichte des ungleichen Paares ein Buch geschrieben hat. Matthias Zimmermann sprach mit ihm über den besonderen Wert erhaltener Briefe, die Arbeit an ihrer Interpretation und warum es sich lohnt, auch die weniger prominente Seite einer Geschichte zu erzählen.

Wie ging es nach Ihrem ersten Bericht über Henri Nannens „erstes Leben“ bis 1945 weiter?
Als ich für mein Gutachten über Henri Nannens Verstrickungen in den NS-Kosmos Nachforschungen anstellte, machte mich seine Enkelin Stephanie Nannen auf Cilly Windmüller aufmerksam. Sie war seine erste Freundin und blieb eine wichtige Figur in seinem Leben. Und Henri Nannen bewahrte ihre Briefe auf, die sich bis heute im Familienbesitz befinden. Es handelt sich um insgesamt 67 Briefe, manche von ihnen 10 bis 15 Seiten lang. Die Korrespondenz beginnt im Sommer 1933, als Nannen Emden verließ, und zieht sich bis zu Cilly Windmüllers Emigration nach Palästina im August 1938. Die bewegende Geschichte der beiden, die sich mit den Briefen rekonstruieren lässt, erstreckt sich von der Verfolgung und Trennung über sporadische Kontakte – bis hin zu einem erneut intensivierten Briefwechsel in den 1980er Jahren. Denn 1983 setzten die Briefe wieder ein, als Henri Nannen in seiner Heimatstadt Emden eine Kunsthalle einrichtete. Die Kunsthalle ist stark verbunden mit der Liebe zur Kunst, die Nannen und Windmüller teilten, und steht als ein lebendiges Denkmal für ihre Geschichte. Henri Nannen wünschte sich, dass Cilly zur Eröffnung der Kunsthalle zurückkäme. Ihre Rückkehr als ehemals verfolgte Jüdin blieb jedoch ein unerfüllter Wunsch, der in ihrer Korrespondenz ebenfalls thematisiert wurde.

Die Briefe von Cilly Windmüller sind bemerkenswert reflektiert, bringen sowohl ihre eigene Vergangenheit als auch ihre Beziehung zu Henri Nannen an die Oberfläche. Cilly trägt das Trauma, 1938 ihre Eltern in Deutschland zurückgelassen zu haben, mit sich – eine schwere Last, die vielen Holocaust-Überlebenden gemein ist. Nannen verstand diese Last zwar intellektuell, konnte sie aber emotional nur schwer annehmen.

Was haben Sie mit den Briefen gemacht?
Ich habe sie über Monate hinweg transkribiert. Eine der größten Herausforderungen bestand darin, die Briefe von Cilly in eine chronologische Reihenfolge zu bringen, da sie meist ohne Datum blieben und nur manchmal Umschläge mit Poststempel vorhanden waren. Vor mir entfaltete sich dabei die ergreifende Geschichte einer jungen jüdischen Frau, die jede Lebensperspektive verliert, und einem Mann, der unter den Bedingungen des NS-Staates Karriere zu machen versucht. Auch wenn nur Cillys Briefe vollständig erhalten und Nannens Antworten eher indirekt dokumentiert sind, stellte sich heraus, dass sich die Geschichte von Cilly und Henri Nannen sehr gut aus diesen Quellen entwickeln lässt. Und dann habe ich beschlossen, mich in einem Forschungsfreisemester voll und ganz diesem Projekt zu widmen.

Was zeigen die Briefe, was nicht schon bekannt war?
Die Geschichte von Cilly Windmüller und ihrer Familie, die in Emden eine bedeutende Stellung innehatte, war bisher nur ansatzweise aufgearbeitet. Aber auch für die Biografie von Henri Nannen konnte ich neue Erkenntnisse gewinnen. Während seine Anfänge in München in den 1930er Jahren bereits teilweise bekannt waren, konnte ich mehr über seinen Übergang vom Kunststudium zum Rundfunkjournalisten und Publizisten für Kunstjournale wie auch über  sein Verhältnis zum NS-Regime in dieser Zeit aufdecken. Vor allem aber ist durch das das Ineinandergreifen der beiden Biografien von Cilly Windmüller und Henri Nannen eine ganz eigene und faszinierende Erzählung entstanden.

Hat die Arbeit an dem Buch ihr Urteil zu Henri Nannen noch einmal verändert?
Ein Stück weit, ja. Es ist noch vielschichtiger und greifbarer geworden. Es wäre zu einfach, Nanenn nur als einen Nazi zu betrachten, der während des Weltkriegs in den Dienst der Propaganda trat. Tatsächlich spielte er diese Rolle, doch gleichzeitig war da stets das Korrektiv Cilly Windmüller, die ihn in ihren Briefen herausforderte und fragte: „Was machst du hier? Sind wir noch auf einer Linie?“ Diese Frage beleuchtet die ambivalente Natur seiner Persönlichkeit — einerseits die Entscheidung für Karriere und Anpassung, andererseits eine spürbare Distanz zur NS-Sphäre aufgrund seiner Vergangenheit mit Cilly. Nannen war sicherlich kein Widerstandskämpfer, sondern jemand, der sich arrangiert hat, allerdings nicht bedingungslos.

Lässt sich Nannens späteres Wirken unabhängig von dieser Zeit sehen?
Nein, Nannens Biografie muss im Kontext dieser Episoden gesehen werden. Manche Aspekte bleiben allerdings rätselhaft, etwa seine Tätigkeit in der Propagandaabteilung 1944, die schwer erklärlich ist. Hat er darüber reflektiert? Zwar war er nur ein kleiner Leutnant und folgte Befehlen, doch die Tatsache, dass er antisemitische Feindpropaganda produzierte, während er seiner jüdischen früheren Freundin im Jahr zuvor noch ein Buch gewidmet hatte, wirft doch Fragen auf.

Mein Buch bietet dafür keine einfachen Antworten und auch keine konkreten Lösungen, sondern vielmehr eine Anleitung, wie man die Dinge bewerten kann. Als Historiker haben wir die Aufgabe, die Komplexität freizulegen und zu verstehen. In diesem Sinne sind wir gewissermaßen „Komplexitätsweltmeister“, legen die Vielschichtigkeit der Geschichte und ihrer Protagonisten dar.

Wie war das, daraus dann ein Buch zu machen?
Das Buch konzentriert sich nicht auf Henri Nannen, obwohl er eine bekannte Persönlichkeit ist. Vielmehr erzählt es die Geschichte zweier junger Menschen, Henri und Cilly Windmüller. Cilly hat mich unglaublich bewegt; sie war eine beeindruckende junge Frau mit bemerkenswerter Reflexionsfähigkeit. Ihr Leben wurde in den 1930er Jahren zunehmend eingeschränkt, und die Briefe zeigen, wie verzweifelt sie wurde. Ihre Fähigkeit, das Erlebte in den Briefen zu reflektieren, war außergewöhnlich. Sie konnte sehr eindrucksvoll schreiben. Daher ist das Buch eine Erzählung über beide, Cilly und Henri.

Wie haben die Enkel das Vorhaben begleitet?
Die Familie hat mir die Briefe zur Verfügung gestellt und war offen für Fragen, wobei sie mir ansonsten freie Hand für die Recherche und das Schreiben ließ. Sie haben natürlich ein eigenes Bild von ihrem Vater und Großvater, aber der Ansatz war klar: Der Wahrheit sollte gedient sein. Das Buch führt kein Gerichtsverfahren über Nannen, redet aber auch nichts schön. Meine Aufgabe war es, abwägend und differenziert zu schreiben. Die Familie zeigte Neugier und begleitete das Projekt mit wohlwollender Distanz, was ich als sehr unterstützend empfand.

Wie wird das Buch aufgenommen?
Es gibt einige Termine für Lesungen und Buchvorstellungen, aber bislang keine so große Aufregung, wie sie möglicherweise entstanden wäre, wenn sich das Buch stärker um Henri Nannen gedreht hätte. Die Entscheidung, den Titel weniger an seinen Namen zu knüpfen, wurde bewusst getroffen, um den Fokus nicht nur auf seine Person zu richten. Ziel ist es, dass die Leserinnen und Lesern die vielschichtige Geschichte unvoreingenommen entdecken.

Arbeiten Sie weiter zu Nannen?
Meine Forschungsarbeit zu ihm ist mit dem Buch und dem Gutachten abgeschlossen. Sicher wird es weiterhin Diskussionen über seine Tätigkeit in der Propagandaabteilung geben, doch dazu habe ich in dem Gutachten gesagt, was ich sagen konnte. Zudem wird eine umfassende Studie vom Institut für Zeitgeschichte (IfZ) zum Magazin "Stern" durchgeführt, die in diesem Zusammenhang relevant ist, aber daran bin ich nicht beteiligt.

Was steht für Sie als nächstes an?
Vieles. Ein großes Thema ist die katholische Gemeinde St. Matthias in Berlin, die eine faszinierende Sozialgeschichte besonders von den 1960er bis 1990er Jahren bietet. Ich beschäftige mich mit der Transformation von Kirchengemeinden in Großstädten und wie sich ihre Rolle und Funktion über die Jahrzehnte verändert haben.

 

Weitere Informationen:
Zum Gutachten von Prof. Dr. Thomas Brechenmacher über Henri Nannens frühe Zeit: https://www.uni-potsdam.de/de/nachrichten/detail/2023-07-31-weder-nazi-noch-widerstaendler-potsdamer-historiker-thomas-brechenmacher-henri-nannens

Zum Buch „Cilly und Henri. Eine deutsch-jüdische Geschichte“: https://www.herder.de/geschichte-politik/shop/p4/94953-cilly-und-henri-gebundene-ausgabe/

Zur Arbeit von Prof. Dr. Thomas Brechenmacher: https://www.uni-potsdam.de/de/hi-neuere-deutsch-juedische-geschichte/thomas-brechenmacher/person