Seit einiger Zeit warnen Forschende nicht mehr nur vor dem Klimawandel und seinen Folgen, sondern auch vor einer Biodiversitätskrise. Was ist damit gemeint?
Die Biodiversitätskrise beschreibt den dramatischen Rückgang von Arten, Lebensräumen und genetischer Vielfalt weltweit. Derzeit sind etwa 25% der beschriebenen Arten vom Aussterben bedroht; das sind etwa eine Million Arten. Dabei ist das Tempo, mit dem wir Arten verlieren, um das Zehn- bis Hundertfache höher als erdgeschichtliche Aussterberaten. Zu einem großen Anteil ist dieser Rückgang der Biodiversität menschgemacht, verursacht durch Lebensraumverlust, Übernutzung, Verschmutzung und invasive Arten, zunehmend aber auch durch den Klimawandel. Der Verlust betrifft nicht nur exotische und weit entfernte Ökosysteme, sondern auch die Vielfalt vor unserer Haustür. Wenn wir Biodiversität verlieren, verlieren wir auch die damit verbundenen Ökosystemleistungen, also die Funktionen der Natur, von denen wir direkt oder indirekt abhängen, wie fruchtbare Böden, sauberes Wasser, Bestäubung und Klimaregulation.
Sind Klima- und Biodiversitätskrise miteinander verbunden?
Ja, absolut. Die beiden Krisen sind eng verflochten und auch mit weiteren globalen Herausforderungen verknüpft. Dies zeigt eindrucksvoll der neue Nexus-Bericht des Weltbiodiversitätsrats (IPBES), der die Zusammenhänge zwischen Biodiversität, Klima, Wasser, Ernährung, Gesundheit und Energie beleuchtet. Der Klimawandel verändert Lebensräume, verschiebt Verbreitungsgebiete und macht viele Arten anfälliger für Krankheiten. Gleichzeitig verschärft der Verlust von Biodiversität den Klimawandel, etwa wenn Wälder, Moore oder Seegraswiesen zerstört werden, die große Mengen Kohlenstoff speichern können. Diese Umweltkrisen verstärken sich gegenseitig. Die gute Nachricht ist jedoch, dass viele Maßnahmen existieren, die mehreren dieser Krisen gleichzeitig entgegenwirken, zum Beispiel die Wiederherstellung von Ökosystemen, nachhaltige Landnutzung oder der Schutz natürlicher Kohlenstoffspeicher.
Gibt es Bereiche der Tier- und Pflanzenwelt, die besonders betroffen sind?
Wichtig ist zu bedenken, dass es in jeder Krise Gewinner und Verlierer gibt – das gilt auch für Tiere und Pflanzen. Einige Arten können sich gut an neue Bedingungen anpassen oder sogar profitieren, etwa opportunistische oder invasive Arten. Doch die überwiegende Mehrheit der Ökosysteme ist derzeit negativ betroffen, wie zahlreiche Forschungsergebnisse zeigen. Besonders stark leiden tropische Regenwälder, Korallenriffe und Feuchtgebiete – Lebensräume, die zu den artenreichsten, aber zugleich empfindlichsten der Erde gehören. Auch in Europa beobachten wir deutliche Rückgänge, etwa bei Insekten, Amphibien oder Wiesenvögeln, vor allem durch intensive Landnutzung, Flächenversiegelung und Schadstoffeinträge. Selbst weit entfernte und scheinbar unberührte Ökosysteme bleiben nicht verschont. So sind die Arktis oder Hochgebirge bereits stark vom Klimawandel betroffen, aber auch von weniger offensichtlichen Faktoren wie atmosphärischen Stickstoffeinträgen aus Landwirtschaft, Verkehr und Industrie, die sich über die Luft ausbreiten und empfindliche Lebensräume verändern, obwohl dort gar nicht gedüngt wird.
Wie erforschen Sie selbst diese Entwicklung?
In meiner Arbeitsgruppe an der Universität Potsdam untersuchen wir, wie sich Arten und Ökosysteme unter globalem Wandel verändern – mit besonderem Schwerpunkt darauf, wie sich diese Veränderungen besser vorhersagen lassen. Dazu entwickeln wir computergestützte Modelle, die nicht nur die Umweltpräferenzen von Arten, sondern auch ökologische Prozesse wie Ausbreitung, Fortpflanzung oder Konkurrenz abbilden. Solche Modelle helfen uns zu verstehen, warum sich Arten unterschiedlich auf der Erde verteilen und wie sie auf Veränderungen von Klima, Landnutzung oder anderen Umweltfaktoren reagieren. Ein zentrales Anliegen unserer Forschung ist es, diese Modelle realistischer und praxisnäher für den Naturschutz zu gestalten, etwa indem wir biologische Daten, Monitoring-Informationen und sozioökonomische Aspekte besser miteinander verknüpfen. Außerdem engagieren wir uns in internationalen Netzwerken wie GEOBON und der IUCN, um Modellierungsansätze zu standardisieren und globales Wissen zu bündeln. Auf diese Weise wollen wir dazu beitragen, dass wissenschaftliche Erkenntnisse schneller in konkrete Schutzmaßnahmen einfließen.
Sie haben gerade gemeinsam mit anderen Forschenden einen Aufruf veröffentlicht. Darin schlagen Sie ein „globales Forschungsprogramm zur Biodiversität“ vor. Warum braucht es sowas?
Wir stehen an einem ähnlichen Punkt wie die Klimaforschung vor rund 40 Jahren. Damals hat das World Climate Research Programme wesentlich dabei geholfen, Klimamodelle zu entwickeln, zu verbessern und international zu koordinieren. Die Erkenntnisse daraus haben entscheidend zum besseren Verständnis des menschgemachten Klimawandels beigetragen und liefern Informationen für effektive Klimapolitik. In der Biodiversitätsforschung fehlt eine solche koordinierende Struktur für Vorhersagewerkzeuge bislang. Dabei wäre sie dringend nötig: Um die Ziele des Globalen Biodiversitätsrahmenplans zu erreichen, müssen wir nicht nur beobachten, was verloren geht, sondern auch vorhersagen können, welche Schutzmaßnahmen tatsächlich wirken. Da die Reaktionen auf Schutzmaßnahmen oft zeitverzögert eintreten und außerdem verschiedene Faktoren die Biodiversität beeinflussen, ist vorausschauendes Handeln entscheidend. Hier kommen ökologische Vorhersagemodelle ins Spiel, die die langfristige Wirkung einzelner Schutzmaßnahmen abschätzen und Zielkonflikte sichtbar machen können, etwa zwischen Flächenschutz und landwirtschaftlicher Nutzung. So lassen sich Lösungen finden, die ökologisch wirksam und gesellschaftlich tragfähig sind. Genau das betonen wir auch in unserem neuen Beitrag in PNAS: Biodiversitätspolitik muss stärker auf Prognosen und internationale Koordination setzen – sonst laufen wir Gefahr, zu spät oder sogar falsch zu reagieren. Ein „World Biodiversity Research Programme“ könnte all dies leisten und als wissenschaftliches Rückgrat wirken, das Modellentwicklung vorantreibt und koordiniert, und sicherstellt, dass alle Regionen der Welt gleichberechtigt von neuen Erkenntnissen und Modellwerkzeugen profitieren. Nur so können wir Biodiversitätspolitik vorausschauend und gerecht gestalten.
Was könnte es bringen?
Ein solches Programm wäre ein echter Wendepunkt. Es könnte uns ermöglichen, Biodiversitätspolitik auf solide wissenschaftliche Grundlagen zu stellen, vergleichbar mit dem, was Klimamodelle für den Klimaschutz geleistet haben. Wenn wir Forschung, Daten und Kapazitäten weltweit bündeln, können wir endlich vom bloßen Reagieren in proaktives Handeln kommen und den Globalen Biodiversitätsrahmenplan zu einem echten Fahrplan für die Erholung der Natur machen.
Zum Beitrag in den Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America (PNAS):Zurell D, Bocedi G, Velazco SJE, Gonzalez A, Purvis A, Wintle B, Merow C, Lundquist C, Guillera-Arroita G, Settele J, Serra-Diaz JM, Sarmento Cabral J, Travis JMJ, Schifferle K, Buckley L, Briscoe NJ, Isaac NJB, Peres-Neto PR, Keuth R, Gascoigne SJL, Ferrier S, Urban MC (2025) Predicting the way forward for the Global Biodiversity Framework. PNAS 122: e2501695122. https://doi.org/10.1073/pnas.2501695122
Mehr über die Forschung der Arbeitsgruppe „Makroökologie“ von Prof. Dr. Damaris Zurell: https://www.uni-potsdam.de/de/ibb-macroecology/index