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Versnovellen hoch drei - Mittelalterlich, gereimt und hörenswert

Lüsterne Pfarrer, raffinierte Studenten, aufmüpfige Genitalien – das Personal der mittelalterlichen Versnovellen ist außerordentlich bunt. Doch anders als etwa Fabeln oder Märchen hat diese Textgattung den Sprung in die Bücherregale der Moderne nicht so gut gemeistert. Das wollen die Potsdamer Literaturwissenschaftler*innen Prof. Dr. Katharina Philipowski, Natalie Mlynarski-Jung und Hans Levin gemeinsam mit Prof. Dr. Franziska Wenzel von der Goethe-Universität Frankfurt am Main ändern: Ihr vom Stifterverband preisgekrönter Podcast „Unerhörtes Mittelalter – Vormoderne Erzählungen und warum man sie unbedingt kennen sollte“ will Begeisterung für Versnovellen wecken. Doch was macht die mittelalterlichen Erzählungen eigentlich aus?

Versnovellen … für Novizen

Märchen kennt buchstäblich jedes Kind. Aber was ist mit Mären? Wenn Katharina Philipowski diese definiert, wird der Unterschied zwischen den beiden Gattungen schnell klar: „‚Märe‘ ist ein anderer Begriff für mittelhochdeutsche Versnovellen, also gereimte Erzählungen, etwa um die fünf Seiten lang. Gerade so lang, dass man sie bequem an einem Abend zum Einschlafen vorlesen könnte.“ Ihr Inhalt eignet sich allerdings nicht in jedem Fall für eine Gute-Nacht-Geschichte, denn es wird munter gelogen, betrogen und auch mal jemand lebendig begraben. Ein versöhnlicher Ausgang ist ebenso wenig garantiert: „In der Versnovelle kann es ein Happy End geben, sie kann aber auch offen oder sehr düster ausgehen“, weiß die Professorin für Germanistische Mediävistik. Die Herkunft des Begriffs Novelle vom lateinischen „novus“ für „neu“ ist sicher noch vielen aus dem Deutschunterricht vertraut. Eine Neuigkeit – im Sinne einer erzählenswerten Begebenheit – bildet auch den Kern einer jeden Versnovelle: „Sie kreisen um ein zentrales Ereignis – eine Pointe, eine Krise oder eine spektakuläre Begebenheit.“ Von den Novellen, die ab dem 19. Jahrhundert immer populärer wurden, unterscheidet sie aber etwas Wesentliches: Sie reimen sich.

… für Gesellen

Thematisch wird in den Versnovellen ein breites Spektrum abgedeckt, vom ganz Alltäglichen bis zum Grotesken. Für Doktorandin Natalie Mlynarski-Jung macht dies den besonderen Reiz dieses Genres aus: „Es gibt religiöse Texte, solche über Sexualität und Geschlechterrollen, sehr gewaltvolle Texte aber auch welche, die urkomisch sind. Manche haben regelrecht einen Slapstick-Humor.“ Bei aller Vielfalt von Handlung, Stimmung und Figuren erkennt man Versnovellen doch sofort, wenn man erst einmal einige gelesen hat: „Ein Kind versteht, was ein Märchen ist, weil es viele Märchen kennt. Dann erkennt es Muster, die sich wiederholen. Und das ist bei Versnovellen genauso. Beide sind gewissermaßen serielle Texte“, erklärt Philipowski. Die Autoren waren dabei durchaus experimentierfreudig, sagt Mlynarski-Jung: „Ich stelle mir das wie einen Baukasten vor. Man hat die typischen Figuren, Motive und Handlungen, die immer wieder neu zusammengesetzt werden können. Und manchmal werden Erwartungen gebrochen.“ Dabei sind die Mären auch inhaltlich überraschend aktuell, ergänzt Hans Levin: „Die Konflikte und Handlungsstränge, die wir aus der modernen Literatur kennen, haben wir in diesen mittelalterlichen Texten schon. Man könnte tatsächlich sagen: Es war alles schon einmal da.“

… für Meister

Und wer waren die Leser*innen und Hörer*innen dieser Erzählungen? Auch mit Blick auf ihr Publikum bildeten die Versnovellen ein Novum. Denn anders als ältere Erzählformen – wie Artusroman, höfischer Roman oder Heldenepos – waren die Versnovellen nicht allein dem Adel vorbehalten: „Versnovellistik hatte ein sehr vielfältiges Publikum. Adelige, aber auch Bürger, reiche Handwerker und Geistliche wie Bischöfe oder Äbte haben Handschriften mit Mären besessen“, weiß Philipowski. In der Regel wurden die Mären vorgelesen, nicht nur bei Hofe: „Das klang durch die Versreime dann besonders schön.“ Die Texte waren so weit verbreitet, dass man heute noch Versnovellen entdeckt, die bislang nicht ins Neuhochdeutsche übersetzt wurden. Dies macht die Mären zu einem attraktiven Forschungsobjekt. Zudem sind die Erzählungen äußerst komplex, wie Levin erklärt: „Je mehr man kennt, desto klarer wird einem, dass sie häufig miteinander verbandelt sind und aufeinander anspielen.“ Trotz der oft grotesken Handlung gibt es meist eine Moral, sind manche der Texte gar philosophisch oder theologisch tiefgründig – wenn man sie entsprechend einordnen kann. Und dabei hilft der Podcast „Unerhörtes Mittelalter“, betont Mlynarski-Jung: „Wir wollen die Erzählungen historisch und literaturwissenschaftlich verorten, damit Interessierte sie als so vielschichtig wahrnehmen, wie sie tatsächlich sind.“

 

Hörtipp

Der Podcast „Unerhörtes Mittelalter“ der Potsdamer Germanist*innen Prof. Dr. Katharina Philipowski, Natalie Mlynarski-Jung und Hans Levin wurde mit dem ersten Preis für das „Beste Debüt Audio“ des Stifterverbands ausgezeichnet. Der Fast Forward Science Preis ehrt Newcomer der Wissenschaftskommunikation, die aktuelle Forschung in Audiobeiträgen spannend, verständlich und innovativ vermitteln.

Zum Reinhören: „Unerhörtes Mittelalter – Vormoderne Erzählungen und warum man sie unbedingt kennen sollte“

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Zwei 2025 „Demokratie“.