„Archive sammeln und bewahren, weil sie einen gesetzlichen Auftrag dafür haben“, erklärt Ralf Müller. „Anders als Bibliotheken haben sie es nicht so mit Büchern: Im Archiv haben wir Unterlagen, die die schriftliche Überlieferung der Universität dokumentieren. Sie sind nicht verkäuflich und werden auch nicht verliehen.“ Seit 1991, da war er 30 Jahre alt, leitet Müller das Universitätsarchiv. Ein bisschen ist es, als wäre er schon viel länger da und dabei gewesen, als sich der erste Student an der Brandenburgischen Landeshochschule immatrikulierte oder als Joe Biden sich mit einem Professor der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft traf – doch dazu später mehr. Der 64-Jährige ist äußerst bewandert in der deutsch-deutschen Historie, aber mindestens ebenso gut kennt er die Geschichten des Alltags in der Nachkriegszeit, der DDR und in den frühen Jahren der Wiedervereinigung.
Archiv statt Alzheimer
„Archive sind das Langzeitgedächtnis einer Gesellschaft. Und wir sind es für die Universität. Wenn man uns stiefmütterlich behandelt, dann kann es sein, dass die Universität Alzheimer bekommt“, sagt Müller und lacht. In den 1980er Jahren studierte er Geschichte und Archivkunde an der Humboldt-Universität, anschließend arbeitete er als Historiker. In der Wendezeit sorgte er mit Kollegen dafür, dass Dokumente des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR ins Stasi-Unterlagen-Archiv in Berlin gelangten und dort gesichert wurden. „Archivare sollten damals verhindern, dass mit den teils sensiblen Unterlagen Missbrauch geschieht.“ Von den schriftlichen Vermächtnissen der Juristischen Hochschule des MfS, die bis 1990 in Golm ihren Sitz hatte, sind daher keine Schriftstücke im Universitätsarchiv. „Sie fallen unter das Stasiunterlagengesetz.“
Durch die Fensterfront dringt viel Tageslicht in den großen Raum. Eigentlich nicht ideal für Papier, weiß Robert Fröhlich, Mitarbeiter im Archiv. Denn das Sonnenlicht kann unschöne Schattenabdrücke auf den Schriftstücken hinterlassen. Doch die sind zum Glück gut verpackt in ISO-genormten Pappkartons. „Wir brauchen Temperaturen von 16 bis 18 Grad und eine Luftfeuchtigkeit von 30 bis 50 Prozent“, erklärt Fröhlich. „Das Klima darf nicht zu sehr schwanken. So hält sich das Papier hoffentlich für die nächsten Jahrzehnte oder im besten Falle Jahrhunderte.“ Der Golmer Standort ist eigentlich ein Provisorium, sagt Ralf Müller. Wo sich zu DDR-Zeiten eine Gaststätte der Juristischen Hochschule befand, lagern heute über 150.000 Studierendenakten seit 1948, zu denen zum Beispiel auch Zeugnisse und Urkunden zählen. Außerdem bewahrt das Dezernat für Studienangelegenheiten hier die Abschlussarbeiten der vergangenen fünf Jahre auf – das ist gesetzlich vorgegeben. Für Zeugnisse und Urkunden gibt es dagegen keine Fristen, sie bleiben für unbegrenzte Zeit im Archiv.
„Wenn Sie einmal in die Verlegenheit kommen und Ihr Zeugnis verbummeln, dann können wir eine beglaubigte Kopie ausstellen“, so Müller. Gerade nach der Wende habe es eine Vielzahl von Anfragen gegeben, weil die ehemaligen Studierenden der DDR ihren Sozialversicherungsverlauf nachweisen mussten. „Manchmal kamen Studenten hierher, die in der DDR ihren Abschluss gemacht hatten, aber dann in den Westen gegangen waren“, erzählt Müller. „Ihr Zeugnis haben sie natürlich nicht per Post nachgeschickt bekommen.“ Außerdem sind da noch die „sentimentalen Anfragen“, wie Müller sie nennt: Von Zeit zu Zeit suchen ehemalige Studierende nach Kommilitonen aus ihren Seminargruppen an der Pädagogischen Hochschule. „Hier können wir manchmal weiterhelfen – sofern es der Schutz personenbezogener Unterlagen zulässt“, sagt Müller.
Seltene Fundstücke
Die beiden Archivare haben ein Sammelsurium an Dokumenten auf den Tischen im Eingangsbereich aufgebaut. Ein Ort, der trotz der stickigen Luft, dem toten Papier und der Stille voller Leben ist: von Geschichten aus vielen Jahrzehnten, von Menschen, die an der Universität studiert, geforscht oder sie besucht haben. Da ist der 1930 geborene Hans Lampe, der nur vier Jahre zur Schule gegangen ist. Der gelernte Lokomotiv-Schlosser nahm an der Potsdamer Arbeiter- und Bauern-Fakultät ein Studium auf – wegen „fachlicher Schwierigkeiten“ brach er jedoch ab. „Man wollte damals das bürgerliche Bildungsmonopol durchbrechen und auch Kindern aus Arbeiter- und Bauernfamilien die Möglichkeit geben zu studieren“, erläutert der Historiker. Diese Fakultäten gab es bis 1964, doch noch heute erreichen Müller und Fröhlich hin und wieder Anfragen ehemaliger Studierender.
Auf dem Tisch liegt auch ein Personalverzeichnis der Pädagogischen Hochschule aus dem Studienjahr 1949/50, die privaten Adressen aller Lehrenden sind hier verzeichnet. Auffällig: Schon damals wohnten viele von ihnen in Berlin! Manche pendelten gar aus Berlin-Buch nach Potsdam. Auch der damalige, erste Rektor Arthur Baumgarten ist hier zu finden. „Was die Lehrerausbildung anging, war die Pädagogische Hochschule die wichtigste Einrichtung in der DDR“, erklärt Ralf Müller. Sie richtete schon 1966 ein Hochschularchiv ein – den Vorgänger des heutigen Universitätsarchivs.
Ein anderes Fundstück zeigt die Baupläne, die es in den 1970er Jahren für den Campus Am Neuen Palais gegeben hat. Eine richtige Hochschulstadt wäre dort entstanden, mit Wohnheimen und Gebäuden für Forschung und Lehre am Park Sanssouci. Während die Planung von Neubauten in der DDR ziemlich unkompliziert über den Tisch ging, haperte es meist an der Umsetzung – zu oft fehlten Baustoffe oder Maschinen. Heute sei es genau umgekehrt, sagt Müller mit Blick auf so manches Bauprojekt, das wegen langwieriger Verwaltungsprozesse in den Kinderschuhen steckenbleibt.
Ein weiteres Kuriosum ist der „Kör- und Deckerlaubnisschein“ für Bolus, den Zuchteber in Griebnitzsee. „Das sind die kleinen, alltäglichen Geschichten, die wir hier bewahren“, sagt Ralf Müller und schmunzelt. Daneben liegt ein Brief aus dem Jahr 1966: Die Leiterin der Babelsberger Tageskrippe, die zur Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft gehörte, sah ihre Zöglinge durch die Nähe zur Westberliner Grenze gestört: „Die Dame hat sich darüber echauffiert, dass ständig Kinder durch Leuchtkugeln oder Gewehrschüsse verschreckt wurden.“
Eines der Lieblingsstücke von Robert Fröhlich ist ein unauffälliges, im Vergleich zu den anderen Unterlagen strahlend weißes Blatt Papier – ein Dankesschreiben, gezeichnet vom ehemaligen US-Präsidenten Joe Biden. 1985 traf er als „höchstrangiger Politiker“ im Senatsunterausschuss für Europafragen auf Prof. Dr. Gerhard Hahn, den Direktor des Instituts für Internationale Beziehungen der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft. „Nicht viele Universitäten haben so ein Dokument in ihrem Archiv“, vermutet Fröhlich und strahlt.
Auch Ralf Müller hat ein Lieblingsstück: Auf ein halbtransparentes, hauchdünnes Papier, ein Manuskript für die wissenschaftliche Zeitschrift der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft, schrieb der Chefredakteur in den 1980er Jahren: „Stullen-Papier im industriellen Spitzenland DDR.“ Müller findet hier die Stimmung der Zeit wieder. „Natürlich wusste er genau, dass es außer ihm und vielleicht seiner Sekretärin keiner zu sehen bekommt, aber die schlechte Papierqualität muss ihn schon mächtig genervt haben, dass er diese Bemerkung niederschrieb.“
DDR-Kunst im Keller
Auch in Griebnitzsee gäbe es einiges zu entdecken, wenn das dortige Magazin im Keller von Haus 1 nicht gerade renoviert würde. Tausende Prüfungsakten lagern hier, aber auch viel Kunst: Da sind Büsten von Walter Wolf oder Albert Einstein und auch die „legendäre Karl-Liebknecht-Büste, die bis 1990 noch vor dem Audimax der Pädagogischen Hochschule thronte“, wie Robert Fröhlich weiß. Außerdem einige Gemälde, etwa vom besagten Arthur Baumgarten, dem ersten Rektor. Oder ein Bild, das Studierende beim „Selbstlernen“ zeigt, im Hintergrund die Kolonnaden. Gemalt hat es ein Kunsterzieher der Pädagogischen Hochschule. Auf einem anderen sind Studierende beim Ernte-Einsatz zu sehen – ein für die Zeit typisches Bild, weiß Ralf Müller: „Wer in der DDR studieren wollte, hat vorher einen Ernteeinsatz absolvieren müssen. Ich habe noch im vierten Studienjahr im Havelland Äpfel gepflückt.“
Wenn dem Archiv Unterlagen angeboten werden, prüft Ralf Müller sie zunächst auf ihre „Archivreife“ und „Archivwürdigkeit“. Dokumentieren sie die Tätigkeit der Einrichtung, gibt es einen sogenannten Registratur-Zusammenhang? Haben sie einen historischen, kulturellen Wert? Oder sprechen gesetzliche Gründe dafür, sie aufzubewahren? Falls dem so ist, erhalten die Schriftstücke eine Signatur und werden in die Datenbank eingepflegt. Damit es keine Rostflecken gibt, „entmetallisiert“ Ralf Müller sie und entfernt Büro- und Heftklammern. Anschließend werden die Unterlagen in Kartons verpackt und ins Magazin sortiert. „Diese Arbeit kann manchmal unerquicklich sein“, sagt Müller. Doch immer wieder verstecken sich hier berührende Geschichten: wie das Telegramm der Eltern auf der Suche nach ihrer Tochter, die zu Weihnachten nicht nach Hause kam – weil sie offenbar in den Westen geflohen war.
Die Wendezeit, das waren „wilde Umbruchjahre“, auch für das Archiv. Die 1990 in „Hochschule für Recht und Verwaltung“ umbenannte Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft sei relativ schnell abgewickelt worden, erzählt Müller. „Damals hieß es oft: Das Büro ist bis morgen 12 Uhr besenrein zu übergeben, weil ein neuer Professor kommt. Manchmal haben uns die Putzfrauen vorab darüber informiert und meine damalige Kollegin und ich sind dann mit einem Wäschekorb dorthin und haben massenhaft Unterlagen gesichert“, so der Historiker. „Wenn ein Staat plötzlich nicht mehr existiert, fühlen sich die Mitarbeiter einer Einrichtung nicht mehr unbedingt dazu verpflichtet, ihre Unterlagen geordnet dem Archiv zu übergeben.“
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm
Robert Fröhlich ist Fachangestellter für Medien- und Informationsdienste, seine Ausbildung hat er beim Stasi-Unterlagen-Archiv absolviert. Beide sind „genetisch vorbelastet“, erzählen sie schmunzelnd: Schon ihre Eltern waren jeweils in Archiven und als Historiker tätig. Warum Ralf Müller diese Arbeit gefällt? „Sie hat eine nicht zu unterschätzende investigative Note. Ich gehe den Dingen gerne auf den Grund oder schaue hinter die Kulissen, und das kann ich hier auch.“ Manchmal bedeute das geradezu eine Sisyphusarbeit. Davon kann Robert Fröhlich ein Lied singen: In einem großen Digitalisierungsprojekt hat er bereits 40.000 von insgesamt 115.000 Fotos von 1948 bis 2003 eingescannt und verschlagwortet. Herauszufinden, wer auf den historischen Bildern zu sehen ist, war nicht immer einfach. „Für das ‚Who is Who‘ waren die Hochschulnachrichten ein sehr gutes Hilfsmittel“, sagt Fröhlich. Die Vorgänger des Universitätsmagazins reichen schließlich bis in die Zeit der Pädagogischen Hochschule zurück.
Mittlerweile entstehen immer mehr Unterlagen als „Born Digitals“. Seit dem Sommersemester 2022 müssen Studierende ihre Abschlussarbeiten nur noch in digitaler Form einreichen. Der Bereich des Dezernats für Studienangelegenheiten wird sich nach und nach leeren. Ähnlich ist es bei den Studierendenakten, die seit dem Sommersemester 2023 digital sind – auch wenn Zeugnis und Urkunden immer noch in Papierform ins Archiv gehen. Die digitalen Akten wollen Müller und Fröhlich auf einen sogenannten Archivserver übertragen, und zwar in einem speziellen PDF-Archiv-Format, das lange lesbar ist. „Wir sind gerade in einer Umbruchphase. Irgendwann wird sich auch unserem Archiv die Frage stellen, was in welcher Form hier überhaupt noch landet. Das macht unsere Zeit spannend.“
Noch verlassen sich die beiden Archivare jedoch aufs Papier. Die meisten Unterlagen, die sie hier verwahren, sind Einzelstücke ohne digitale Kopie. „So belanglos ein Schriftstück wirken kann: Wenn es nur einmal vorliegt, dann ist es ein Unikat“, erläutert Ralf Müller. Und Papier ist geduldig. Doch spätestens nach 100 Jahren ist auch seine Geduld am Ende – bei hochwertiger Qualität. „Wir haben noch nicht genügend Erfahrung mit bedrucktem Papier: Wir wissen nicht, welche Lebenszeit Dokumente haben, die mit dem Tintenstrahl- oder Laserdrucker erstellt wurden“, sagt Fröhlich. Prinzipiell habe die Sammlung aber Ewigkeitsstatus, erklärt Ralf Müller. Ende 2026 wird er nach 35 Jahren in den Ruhestand gehen – die Geschichten werden jedoch bleiben, gut verwahrt im Universitätsarchiv.
Ralf Müller leitet seit 1991 das Potsdamer Universitätsarchiv.
Das Potsdamer Universitätsarchiv verwahrt Personal- und Prüfungsakten von Studierenden, Personalunterlagen und Sachakten zur Universität Potsdam und zu ihrer Vorgängereinrichtung sowie den Einrichtungen, von denen sie Liegenschaften übernommen hat: Pädagogische Hochschule Potsdam/Brandenburgische Landeshochschule (1948 bis 1990/91), Arbeiter-und-Bauern-Fakultät Potsdam (1949 bis 1964), Institut für Lehrerbildung Rosa Luxemburg Potsdam (1964 bis 1990/91), Institut für Lehrerbildung Clara Zetkin Cottbus (1948 bis 1990/91), Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR (1949 bis 1990) und Universität Potsdam (1991 bis heute).
Jede Studentin und jeder Student hat das Recht die eigene Akte einzusehen. Doch auch Dritte dürfen laut Gesetz mit Einverständnis der Betroffenen Einsicht in die Unterlagen nehmen. Wenn die betroffene Person bereits verstorben ist, gilt eine Frist von zehn Jahren nach dem Todesdatum, ist es nicht festzustellen, sind es 90 Jahre nach deren Geburt. Bei einem besonderen Interesse der Öffentlichkeit oder im Rahmen wissenschaftlicher Projekte können diese Fristen auch im Ermessen des Archivars verkürzt werden.
www.ub.uni-potsdam.de/de/ueber-uns/universitaetsarchiv
Weitere Informationen zur Geschichte der Universität und ihrer Standorte:
https://www.uni-potsdam.de/de/zeitzeichen/standorte/griebnitzsee/die-universitaet-potsdam
Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Eins 2025 „Kinder“.