Wer in den 1980er Jahren in der DDR zur Schule ging, durfte im Fach Kunsterziehung eine Betrachtung zu diesem Bild schreiben. Konnte nachdenken über die Rolle der berufstätigen Frau, über Doppelt- und Dreifachlast, auch über Vereinsamung. Einmal mehr regte ein Kunstwerk eine gesellschaftliche Debatte über Themen an, die in den staatlich kontrollierten DDR-Medien entweder ignoriert oder bewusst verschwiegen wurden.
Nachdem Mattheuers Gemälde „Die Ausgezeichnete“ infolge der Wiedervereinigung wie ein Großteil von Kunst aus der DDR in Depots und Archiven verschwand, ist das Bild nun erstmals in der Neuen Nationalgalerie in Berlin wieder öffentlich zu sehen. Die Ausstellung „Zerreißprobe. Kunst zwischen Politik und Gesellschaft – Sammlung der Nationalgalerie 1945-2000“ bezieht etliche in der DDR entstandene Werke ein, darunter Arbeiten von Uwe Pfeiffer, Harald Metzkes, Angela Hampel und Strawalde.
Experimentell und mutig nennt Melanie Franke das kontrastreiche Nebeneinander von Kunst aus Ost und West. Die Potsdamer Professorin für Kunstwissenschaften in schulischen Lehr- und Lernkontexten hat sich ausführlich mit „Selbsterzählungen und Umbruchspuren im Oeuvre von Künstlerinnen und Künstlern aus der DDR“ befasst und kunsthistorische Beiträge zur Thematik in einem Sammelband veröffentlicht. Darin findet sich auch ein Gespräch Frankes mit dem Vizedirektor der Neuen Nationalgalerie Joachim Jäger, der die Aufnahme der Werke aus der DDR als Gewinn wertet, vor allem, „weil wir die Kunstentwicklung heute nicht mehr ausschließlich im Zeichen bestimmter ,Ismen‘ betrachten, sondern variantenreicher, komplexer, vielschichtiger wahrnehmen“. In der DDR seien in der Kunst, im Theater, in der Literatur sehr ernste Fragen über das Leben diskutiert worden, es habe sich immer um die existenzielle Frage der conditio humana gedreht – „vielleicht, weil die Kulturschaffenden eben nicht in einer freien Gesellschaft, sondern in einer Zwangslage lebten“, so Jäger.
Selbstermächtigung in Zeiten der Überwachung
Zeige die Ausstellung die Unterschiede im Denken und Handeln in zwei politischen Systemen und das Gegeneinander der Medien, Stile und Themen, insbesondere den Richtungsstreit zwischen „figurativ“ und „abstrakt“, so habe es in den 1980er Jahren Annäherungen gegeben, meint Jäger und nennt beispielhaft die performativen Arbeiten von Cornelia Schleime. Ihr zusammengekauerter, von Stacheldraht umwickelter nackter Körper, das mit groben Stricken verschnürte Gesicht oder die über den Kopf gezogene Plastiktüte – es sind diese Selbstinszenierungen, fotografisch festgehalten, die die bedrohliche Enge spüren lassen und beim Betrachten den Atem nehmen.
Schleime, deren Arbeit von offizieller Seite der DDR als „Müllkunst“ diffamiert worden war, habe ihre Lebensgeschichte als die eines Widerstandes erzählt und die Rolle der Rebellin konsequent ihrer künstlerischen Biografie eingeschrieben, resümiert die Frankfurter Kunsthistorikern Viola Hildebrand-Schat, die sich mit den Performances und Fotoübermalungen der ostdeutschen Künstlerin näher befasst und dazu einen Text zum Sammelband beigetragen hat.
Der Großteil des von Melanie Franke herausgegebenen Buches resultiert aus einer Konferenz, zu der sie 2024 an die Universität Potsdam eingeladen hatte. Diskutiert wurde hier vor allem, „welche Rolle biografische Selbstreflexionen bei der Formung künstlerischer Entwicklungen und Wendepunkte einnehmen“, so die Kunsthistorikerin, die ein vom Schweizerischen Nationalfonds Bern gefördertes Forschungsprojekt zu „Geschichtsbildern in der Gegenwartskunst“ leitet. Allen Texten in ihrem Buch scheint eines gemein: das Forschen nach den Bedingtheiten von Individuellem und Gesellschaftlichen, von persönlichen Prägungen und geschichtlichen Ereignissen, von Privatem und Politischem, die in der Kunst ihren Ausdruck finden. Etwa im Werk der Spanierin Núria Quevedo, die als 14-Jährige mit ihrer Mutter vor der Franco-Diktatur in die DDR floh, wo ihr Vater bereits lebte. Ausgehend von Quevedos Gemälde „Dreißig Jahre Exil“ (1971) sucht die amerikanische Kunsthistorikerin April Eismann in den warm und dunkel, fast monochrom gehaltenen Bildern nach den biografischen Spuren der Künstlerin. Es ist die Geschichte von Flucht und Migration, vom Ankommen und Fremdbleiben – ob im „Bildnis meiner Mutter“ (1973), in „Die Ahnen“ (1970) oder in „Erinnerung“ (1981). Quevedo malte darauf das Esszimmer ihrer Kindheit in Barcelona, den Tisch, an dem sie ihre Hausaufgaben erledigte oder mit ihrer Schwester spielte. Das Kalenderblatt an der Wand zeigt den Tag, an dem das Mädchen Spanien verlassen musste. Auch wenn man Stillleben male oder Landschaften, meint Quevedo selbst, sei es „die eigene Biografie, die man immer wieder aufzeichnet“.
„Radikale Intimität“ hat Luise Thieme ihren Beitrag überschrieben, in dem sie sich mit den Formen der Selbstermächtigung bei Gabriele Stötzer und Tina Bara befasst, zwei Künstlerinnen, die extremer Überwachung und Bespitzelung durch die Staatssicherheit ausgesetzt waren. Thieme, die an der Universität Jena zu künstlerisch-feministischer Praxis in der DDR forscht, zeigt, wie die beiden Frauen alternative Kunsträume nutzten, um sich zu widersetzen und der ihnen zugeschriebenen Fremdbewertung das eigene, starke Selbst entgegenzustellen. Bara tat dies in über vierhundert schwarz-weiß-Fotografien aus den 1980er Jahren, die im Fotobuch „Lange Weile“ erschienen, Stötzer mit dem Super-8-Film „… hab ich euch nicht blendend amüsiert“. Er dokumentiert die Verwandlungen während einer Selbstbemalung, deren Assoziationen, so Thieme, auch auf die Repressionen und die körperliche Fremdbestimmung verweise, die Gabriele Stötzer im Gefängnis erfahren habe.
Überraschende Ein- und Tiefblicke gewährt die Berliner Kunsthistorikerin Angela Lammert in ihrem Beitrag über die „schwarzen Bilder“ im ehemaligen Kohlenkeller der Berliner Akademie der Künste am Pariser Platz. „Zeugnisse eines jugendlichen Nachkriegsaufbruchs in der Berliner Malerei“, nennt Lammert die Bilder, die dort noch vor dem Mauerbau anlässlich zweier Faschingsfeste in und an die Wände geritzt, gemalt und gezeichnet wurden. Protagonisten waren die damals jungen Meisterschüler Manfred Böttcher, Harald Metzkes, Ernst Schroeder, Werner Stötzer und Horst Zickelbein, deren Wandmalereien „unbekümmert und voller Ironie“ an Pablo Picasso und Bernard Buffet denken lassen, so Angela Lammert, die in ihrem Text dazu einlädt, die „schwarzen Bilder“, und nicht nur sie, mit und aus einer internationalen Perspektive zu betrachten. „Denn Selbstäußerung als Wissensform ist keine Eigenart von Kunst in der DDR.“
Entwertung des revolutionären Begehrens
Einen eindeutigen Orts- und Zeitbezug weist hingegen „Spurlos“, die letzte Mail-Art-Aktion aus der DDR auf, die die Künstlerin Ruth Wolf-Rehfeldt 1990 mit dem dringenden Aufruf verband, sich „für die Erhaltung der sozialen Rechte und der positiven Eigenwerte der DDR auszusprechen und gegen die übereilte Abschaffung der Eigenständigkeit der DDR und deren Vereinnahmung – welcher Art auch immer – durch die BRD zu votieren“. Die Doktorandin Marie Eggert, die zum Verhältnis von Kunst und Politik forscht, untersuchte diese besondere Protestform, bei der kleinformatige Grafiken mit politischen Botschaften international verschickt wurden mit der Bitte, diese an einen öffentlichen Adressaten zurückzuschicken, in diesem Fall an den Deutschen Bundestag und die Volkskammer. Womöglich, schreibt Eggert, war Wolf-Rehfeldts letzte Mail-Art-Aktion wegen der rasanten politischen Entwicklungen von vornherein darauf angelegt, in ihrer eigenen Spurlosigkeit zu münden.
Genau in dieser Spur- und Sprachlosigkeit, in der Entwertung des revolutionären Begehrens und der von unten organisierten, ganz eigenen demokratischen Formen sieht die Künstlerin und Autorin Elske Rosenfeld eine Ursache ostdeutscher Unmutsäußerungen, die Jahrzehnte als „politisch irrelevant“ und „pures Gejammer“ abgetan wurden und erst ernst genommen werden, seitdem sie vermehrt unter rechtem Vorzeichen stattfinden. Rosenfeld äußert das im Sammelband in einem Gespräch mit Burak Üzümkesici, der an der Freien Universität Berlin zu politischen Aktionsformen und künstlerischer Praxis forscht. Mit je unterschiedlicher historischer Perspektive und Sozialisation reden Rosenfeld und Üzümkesici über künstlerische Zugänge zur „revolutionären Gesten“ und „militanten Bildern“, über politische Bühnen, über die körperliche Erfahrung gesellschaftlicher Umbrüche und deren Scheitern.
Wenn Elske Rosenfeld mit Menschen spricht, die sich in der Wendezeit 1989/90 engagierten, spürt sie die „Aufregung über das, was damals möglich schien, die Trauer und Wut über den Verlust dieser damals kurzzeitig durchaus greifbar gewordenen neuen politischen Möglichkeiten“. Dieselbe Gestik erkannte sie wieder bei Aktiven im Arabischen Frühling, bei den Protesten im Gezi-Park in Istanbul, den Aufständen in der Ukraine und in Belarus. Aus den „überraschenden Resonanzen“ zwischen dem, was sie in verschiedenen Kontexten über Zeiten und Orte hinweg erlebt hat, versucht sie ein gemeinsames gestisches Vokabular zu entwickeln. Dokumentarisches Material bildet den Ausgangspunkt für ihre Arbeit an einem „Archive of Gestures“.
Der von Melanie Franke herausgegebene Sammelband verdeutlicht aus vielfältigen Perspektiven, wie ein solches Archiv – ebenso wie Kunst und die darin erzählten Ereignisse – dazu beitragen können, Geschichte besser zu verstehen.
Melanie Franke ist seit 2021 Professorin für Kunstwissenschaft in schulischen Lehr- und Lernkontexten an der Universität Potsdam.
Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Eins 2025 „Kinder“.