Bildung wird nicht nur stärker digital, sie wird auch globaler. Der „Global Turn in Education“, wie er in der Forschung genannt wird, zeigt sich etwa daran, dass immer mehr Bildungseinrichtungen, -akteure und -politiker auf globaler Ebene zusammenarbeiten. Die Bologna-Reform, mit der die europäischen Staaten versucht haben, einen gemeinsamen Hoch- schulraum zu schaffen, sei nur ein Beispiel dafür, erklärt Bildungsforscherin Nina Kolleck. Andere seien die Entwicklung und Implementierung globaler Lehrpläne, die Förderung von interkulturellem Verständnis oder die Einführung internationaler Bildungsstandards.
NGOs im Einsatz für mehr Bildung
Doch parallel zu dieser Globalisierung beobachtet sie einen zweiten gravierenden Wandel: „Gerade im Bildungsbereich ziehen sich Staaten zunehmend zurück und andere Akteure füllen diese Lücke, beispielsweise internationale Organisationen, multinationale Unternehmen und eben NGOs“, sagt Nina Kolleck. Für die UNESCO oder die OECD etwa ist dieses Wirken mittlerweile schon gut erforscht – ganz im Gegensatz zu den NGOs im Bildungsbereich auf globaler Ebene. „Welche Rolle sie spielen und wie sie Bildung prägen, wissen wir noch kaum“, so Kolleck. Klar sei: Im Zuge des „Global Turn“ knüpften NGOs verstärkt transnationale Netzwerke, um Bildung gemeinsam zu gestalten. So arbeiteten sie auf verschiedenen Ebenen daran, die Bildungsungleichheit zu reduzieren, führen innovative Lehrmethoden ein und stellen Bildungsressourcen bereit.
Ein Beispiel ist „Teach for all“, wobei sich NGOs aus über 50 Ländern mit dem Ziel zusammengeschlossen haben, „die Bildungssysteme weltweit radikal zu verändern, indem sie sich auf die Bereitstellung von Bildungskonzepten in verschiedenen Ländern konzentrieren“, so Kolleck. Deren lokal geführte und finanzierte Partnerorganisationen bilden Hochschulabsolventen und Führungskräfte aus, die in den Klassenzimmern ihrer Länder zwei Jahre lang unterrichten – dort, wo sie am meisten gebraucht werden. Zudem setzen sich die „Teach for all“-Botschafter anschließend in den weiteren Stationen ihres Berufslebens dafür ein, die Bildungschancen von Kindern weltweit zu verbessern.
Wie genau diese Netzwerke Einfluss ausüben, ist bislang aber noch weitgehend unerforscht. Daher will die Bildungs- und Politikwissenschaftlerin Nina Koll- eck diesen Wandel mithilfe des ERC Starting Grants genauer untersuchen. „In einer Zeit zunehmender Ungleichheit hoffe ich, dass das Projekt dazu beitragen wird, das Wirken neuer Akteure im Bildungswesen zu beleuchten und Chancengleichheit weltweit zu stärken. Dies ist auch für stabile Demokratien zentral.“
Im Zentrum des Projekts stehen nicht einzelne NGOs, sondern deren Zusammenschlüsse zu sogenannten transnationalen Netzwerken: neben „Teach for all“ etwa „Education International“ oder „Global Environmental Education Partnership (GEEP)“. „Diese Netzwerke verbindet das Bestreben, Bildung weltweit zu verändern. Sie unterscheiden sich jedoch in ihrer geografischen und inhaltlichen Ausrichtung, ihren Methoden und Schwerpunktbereichen“, so die Forscherin. „Mal steht beispielsweise Klimabildung im Mittelpunkt, mal sind es die Menschenrechte.“
Neue Methoden für neue Netzwerke
Um die in der Bildung entstehenden „globalen nichtstaatlichen Räume“ vermessen zu können, hat Nina Kolleck eigens einen neuen methodischen Ansatz entwickelt: Mithilfe quantitativer Befragungen wollen die Forschenden herausfinden, wie die Netzwerke aufgebaut sind und mit welchen Inhalten sie sich konkret befassen. Daneben erheben sie umfangreiche Textdaten und Daten aus Social-Media-Plattformen. Diese Daten werden anschließend quantitativ und qualitativ analysiert, um Muster, Trends und Auswirkungen zu identifizieren. Dabei greifen die Wissenschaftler*innen vor allem auf Methoden von Natural Language Processing und Sozialen Netzwerkanalysen zurück. „Die Social-Media-Daten ermöglichen uns Einblicke in die öffentlichen Informations-, Kommunikations- und Einflussströme, Interaktionen zwischen unterschiedlichen Akteuren, Vernetzungen, Diskussionen und Reaktionen“, erklärt Nina Kolleck das Vorgehen. Dabei könnten sie sowohl die Strukturen dieser Interaktionen – also der sozialen Netzwerkstrukturen – als auch die Inhalte der Diskurse und Debatten analysieren. „Ich gehe davon aus, dass wir die sich wandelnde Bedeutung von NGOs für den Bildungsbereich erst dann verstehen können, wenn wir beide Ebenen miteinander verbinden“, sagt die Forscherin.
Social-Media-Daten haben dabei einen entscheidenden Vorteil: Als sogenannte natürliche Daten entstehen sie – im Gegensatz zu solchen aus wissenschaftlichen Befragungen – ohne das Zutun der Forschenden. Auch wenn längst nicht alle relevanten Akteur*innen auf diesen Plattformen vertreten sind, schaffen sie gute Ausgangsbedingungen für eine wertvolle komplexe Längsschnittanalyse: Somit werden sehr große Datensätze, die einen längeren Zeitraum abdecken, und natürliche Kommunikationsströme mit Verfahren der Sozialen Netzwerkanalyse analysiert. Für ihre neue interdisziplinäre Methodik sieht Kolleck großes Potenzial: „Ich denke, dass sie künftig auch in anderen Politik- und Forschungsbereichen anwendbar sein wird, etwa der Gesundheitspolitik, der globalen Umweltpolitik oder den Menschenrechten. Deshalb möchte ich mit meinem Projekt direkt zeigen, wie gewinnbringend es ist, gerade in solchen innovativen Themenfeldern interdisziplinär zu arbeiten.“
In einem ersten Schritt hofft Nina Kolleck aber, damit die Arbeit von NGOs wie „Teach for all“ besser erklären zu können – durchaus, damit sie Schule macht und „wir etwas gegen die wachsende globale Bildungsungleichheit tun können“.
Die Forscherin
Prof. Dr. Nina Kolleck ist seit 2023 Professorin für Erziehungs- und Sozialisationstheorie an der der Universität Potsdam.
E-Mail: nina.kolleckuuni-potsdampde
Das Projekt
EmergEd – The Emergence of Global Non-Governmental Spaces in Education: Non-Governmental Organizations and the Global Turn in Education.
Förderung: Europäische Union / ERC Grant Laufzeit: 2023–2027
Der Europäische Forschungsrat (European Research Council, ERC) fördert exzellente Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und ihre Teams mit innovativen und fortschrittlichen Projekt- und Forschungsideen aus verschiedenen Disziplinen. Die Projektförderung kann bis zu fünf Jahre dauern, wobei die Fördersumme 1,5 bis 2,5 Millionen Euro beträgt. Die Förderung des ERC ist themenoffen, es wird allein nach dem Kriterium der Exzellenz evaluiert. Das geförderte Projekt muss dabei an einer selbst gewählten Wissenschaftseinrichtung in Europa durchgeführt werden
Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Eins 2024 „Bildung:digital“ (PDF).