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„Aus den kritischen Debatten um Kants Theorien lässt sich viel lernen“ – Iwan-Michelangelo D’Aprile liest Kant im Spiegel seiner Zeitgenossen

Immanuel Kant in einem Gemälde von Johann Gottlieb Becker (1720-1782).
Prof. Dr. Iwan-Michelangelo D’Aprile
Universität Tartu
Foto : Wikimedia
Immanuel Kant in einem Gemälde von Johann Gottlieb Becker (1720-1782).
Foto : privat
Prof. Dr. Iwan-Michelangelo D’Aprile
Foto : AdobeStock/olezzo
Universität Tartu

Ist Immanuel Kant eine Geistesgröße ohne Haltbarkeitsdatum oder sind seine Schriften nur noch mit Vorbehalt genießbar? Wie lassen sich die Schriften des oft als größten deutschsprachigen Philosophen betrachteten Denkers heute lesen? Und was hat Kant eigentlich mit dem Baltikum zu tun? Matthias Zimmermann sprach mit dem Aufklärungsexperten Prof. Dr. Iwan-Michelangelo D’Aprile, der gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus Tartu zwei Veranstaltungen organisiert, die sich Kant im Jahr seines 300. Geburtstages nähern. Sie sind Teil des deutsch-estnischen Veranstaltungsprogramms „Deutscher Frühling in Estland 2024“, das am 6. März mit einer Auftaktveranstaltung in der Estnischen Botschaft in Berlin startet.

2024 jährt sich Kants Geburtstag zum 300. Mal. Wie wird der vielleicht größte deutschsprachige Philosoph heute gesehen?

Nun, es gibt auch im Jubiläumsjahr wieder Bücher, die sich – vor allem aus philosophischer Perspektive – erkennbar darum bemühen, Kants ungebrochene Aktualität zu retten, zu belegen, zu begründen. Das betrifft vor allem die aktuellen Debatten über Rassismus, Kolonialismus und Frauenfeindlichkeit bei Kant.

Was kann er uns – jenseits des gern zitierten kategorischen Imperativs – heute noch geben?

Ich finde Kant wahnsinnig interessant. Aber weniger im Sinn vermeintlich „zeitlos“ gültiger Theoreme, sondern vor allem im Kontext seiner Zeit. So finde ich es bemerkenswert, dass Kants Schriften schon – von Zeitgenossen wie dem Berliner Aufklärer Saul Ascher und anderen – bei aller Anerkennung eben auch als problematisch mit Blick auf Antisemitismus und Rassismus kritisierbar waren. Das Gleiche gilt für Kants Frauenbild. Theodor Gottlieb von Hippel und Johann Georg Hamann haben als Zeitgenossen Kants gesehen und benannt, dass er sozusagen ein Frauenproblem hatte. Diese Einordnungen aus bzw. in den historischen Kontext finde ich wichtig, da sie eine komplexere Bewertung ermöglichen, als ihn entweder zum Säulenheiligen zu erklären oder mit dem Wissen von heute den Stab über ihn zu brechen.

Das hindert uns nicht daran, bestimmte Gedanken von Kant als weiterdenkenswert zu erkennen. Seine Schriften sind durchaus weiterhin wertvoll. Deshalb gehen Philosoph*innen ja der Frage nach: wie Kants Argumentation so reformuliert werden können, damit sie weiter gültig sind. Aber ich denke, das sollte nicht vorschnell versöhnlich geschehen. Aus den kritischen Debatten um Kants Theorien und den Kontexten, in denen sie entstanden sind, lässt sich viel lernen.

Kant und Baltikum – was verbindet die zwei?

Heute meint man mit dem Baltikum die drei baltischen Staaten, historisch ist damit aber ein viel größeres Gebiet im östlichen Ostseeraum gemeint. Immerhin stammt der Begriff vom lateinischen „mare balticum“, dem Baltischen Meer, der mittellateinischen Bezeichnung für die Ostsee. Immanuel Kant ist ganz klar ein Philosoph des Ostseeraums, immerhin hat er ihn nie verlassen. Wenn man ihn also historisch kontextualisieren will, gehört der Raum, in dem er tätig war, dazu. Kant hat in und um Königsberg besonders intensiv gewirkt, aber auch darüber hinaus. Als Universitätsphilosoph, der viele Jahrzehnte gelehrt hat, zeigen das die Zeugnisse seiner vielen Zuhörer, darunter übrigens überdurchschnittliche viele Preußen, Polen und Russen jüdischen Glaubens. Sein Verleger Johann Friedrich Hartknoch saß in Riga. Heute zeigt sich, dass ein Großteil des Quellenmaterials zu Kant in Archiven im Baltikum liegt.

Wie wird Kant im Baltikum rezipiert?

Gerade in den drei baltischen Staaten, Estland, Lettland und Litauen wird er als Teil des kulturellen Erbes betrachtet. Man muss dazusagen, dass in Estland und Lettland bis 1800 alles Quellenmaterial ohnehin deutschsprachig war. Erst danach finden sich estnische und lettischsprachige Quellen. Entsprechend gehört das deutschsprachige 18. Jahrhundert ganz selbstverständlich zum kulturellen Erbe dieser Staaten und mit ihm auch Immanuel Kant. Gleichzeitig gab es von Anfang an auch eine breite Kantrezeption auf Estnisch und Lettisch, die mit den deutschsprachigen Quellen zusammen erschlossen wird.

Zum Auftakt des Jubiläumsjahres gibt es eine Veranstaltung – „Deutscher Frühling in Estland“: Kant im Baltikum – in der Botschaft der Republik Estland. Sie haben sie mitorganisiert. Wie kam es dazu?

Die Veranstaltung „Kant im Baltikum“ ist Teil der Reihe „Deutscher Frühling in Estland“, die in jährlichem Wechsel von einem anderen deutschen Bundesland organisiert wird. 2024 ist Brandenburg an der Reihe und wir wurden gebeten, unsere Expertise einzubringen. Da ich seit 20 Jahren mit baltischen Universitäten zusammenarbeite und wir seit fünf Jahren eine sehr intensive Institutspartnerschaft mit dem Germanistischen Institut der Universität Tartu pflegen, haben wir das gern gemacht – und sowohl die Eröffnungs- als auch eine der größten Veranstaltungen des Programms organisiert. Der Schwerpunkt Kant war für uns fast schon zwingend: Im Jahr seines 300. Geburtstages ist ein Denker, der sich selbst als preußischer Philosoph betrachtete und erkennbar ein baltischer war, unbedingt einen Blick wert. Zumal, wenn Brandenburg die Reihe organisiert, das sich ja doch in gewissem Sinn als mitzuständig für die Geschichte Preußens versteht.

Was findet am 6. März konkret statt?

Zum Auftakt am wird das Gesamtprogramm vorgestellt – und es gibt einen kleinen Einblick in das Kommende: mit Musik und einem spannenden Vortrag. Die renommierte estnische Kant-Forscherin Dr. Eva Piirimäe wird über Kants späte Schrift „Zum ewigen Frieden“ sprechen. Angesichts der weltpolitischen Lage ein hochaktuelles Thema. Kant hat sich mit diesem Text, den er im Alter von über 70 Jahren veröffentlichte, erst sehr spät überhaupt politisch geäußert. In der Schrift, die in Form eines Friedensvertrages verfasst ist, wendet er seine Moralphilosophie auf die Politik an – um die These zu vertreten, dass Kriege trotz ihrer unbestreitbaren empirischen Realität ein absolutes Übel sind und die Frage zu beantworten, ob und wie dauerhafter Frieden oder zumindest friedlichere Konfliktlösungsmodelle zwischen Staaten möglich wären. Anschließend gibt es einen musikalischen Ausklang der Lotte Lehmann Akademie der Rolandstadt Perleberg, deren Bürgermeister der estnischen Botschafterin den Druck eines alten Kant-Porträts überreichen wird.

Das ist aber nur der Anfang. Was kommt noch?

Im April und Mai folgen etliche Veranstaltungen in Tartu. Dort befindet sich nicht nur unsere Partneruniversität, die Stadt ist auch europäische Kulturhauptstadt 2024, sodass sich das gut einfügt. Wir organisieren mit der Universität Tartu gemeinsam eine dreitägige Konferenz – „Archive der Autonomie. Immanuel Kant im Baltikum“. Dabei geht es um Zweierlei: Auf der einen Seite diskutieren Forschende Kants Philosophie der Selbstbestimmung und ihre aktuellen Lesarten. Auf der anderen Seite werden baltische Archive und Bibliotheken ihre Kant-Bestände und deren Erschließung vorstellen, darunter die Universitätsbibliothek Tartu, das Archiv in Olsztyn mit seinen Beständen der Königsberger Albertina Universität, die Lettische Nationalbibliothek Riga und weitere Institutionen. Zum Ausklang geht es um die Kantrezeption im Baltikum. Später, im Frühsommer, werden wir das Verhältnis von Aufklärung, Kant und Baltikum dann noch einmal bei einer Veranstaltung in Brüssel für die europäische Politikbühne aufbereiten.

Basis der Veranstaltungen ist die DAAD-Partnerschaft mit der Universität Tartu. Was findet in deren Rahmen noch statt?

Wir veranstalten regelmäßig gemeinsame Sommerschulen für Studierende. Außerdem gibt es einen regen Austausch von Lehrenden und Studierenden. Unsere Studierenden haben immer wieder auch die Möglichkeit, Praktika in Tartu zu absolvieren. Gerade für mein Fachgebiet eine tolle Gelegenheit, denn zahlreiche Autoren der Aufklärung kamen aus dem Baltikum und es gibt vor Ort umfangreiche Bestände zu ihnen.

 

Mehr zur Institutspartnerschaft der Germanistischen Institute der Universitäten Potsdam und Tartu: https://www.uni-potsdam.de/de/gip-tartu/

Mehr zur Auftaktveranstaltung „Saksa Kevad 2024 / Deutscher Frühling in Estland 2024“: https://www.uni-potsdam.de/de/gip-tartu/programm/auftaktveranstaltung-deutscher-fruehling-in-estland-berlin-632024#c686752