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Gut für Körper und Seele – Wie Sporttherapie bei Depression hilft

Eine Sportgruppe praktiziert gemeinsam Yoga-Übungen
Dr. Andreas Heißel während des Interviews
Foto : AdobeStock/luckybusiness
Gut für die psychische Gesundheit: Sport in der Gruppe
Foto : Thomas Roese
Dr. Andreas Heißel, Sozial- und Präventivmedizin

Volkskrankheit Depression: Schätzungen zufolge sind allein in Deutschland mehr als fünf Millionen Menschen betroffen. Und im Zuge von Corona-Pandemie, Klimakrise und Ukraine-Krieg sind diese Zahlen weiter gestiegen. Doch bei der Versorgung psychischer Erkrankungen knirscht es schon lange: Auf eine Psychotherapie muss man in der Regel monatelang warten, außerdem bietet sie nicht für jeden die geeignete Behandlung. Um das zu ändern, hat Dr. Andreas Heißel gemeinsam mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern eines Konsortiums aus Krankenkassen und Forschungseinrichtungen untersucht, inwieweit diese Versorgungslücke mithilfe von Sporttherapie geschlossen werden kann. Der Vorteil: Sporttherapie und Gesundheitssport sind schnell und niedrigschwellig verfügbar. Es gibt deutschlandweit ein sehr gut ausgebautes Netz von Gesundheitssportvereinen, Physiotherapiepraxen und Reha-Zentren, in denen auch kurzfristige Termine zu bekommen sind. „Mit einer Sporttherapie könnten wir insbesondere unbehandelte Menschen erreichen, die für eine Psychotherapie nicht offen sind oder lange warten müssen.“

Was bislang fehlte, war der Nachweis eines in der Versorgung erprobten Sporttherapie-Programms. Deshalb haben Heißel und Co. eine Untersuchung zu „Sport-/Bewegungstherapie bei Depression“, kurz STEP.De, auf den Weg gebracht: Fast 400 Patienten haben dabei zur Behandlung einer leichten bis mittleren Depression entweder Sport- oder Psychotherapie erhalten. Wichtig war: Auch die Sporttherapiegruppe wurde von Psychotherapeuten begleitet. Diese sicherten zum Anfang die Diagnose, meldeten sich alle vier Wochen und legten in einem Abschlussgespräch mit den Patienten fest, wie es weitergehen sollte, ob eine anschließende Psychotherapie nötig war oder nicht. Dazwischen lag die gruppenbasierte Sporttherapie, 32 Einheiten in vier Monaten, gerahmt von einer individuellen Sporteingangstestung und einem Abschlussgespräch beim psychologisch geschulten Sporttherapeuten. Die Forschenden befragten in dieser Zeit die Teilnehmenden regelmäßig – mit Blick auf die Symptomatik der Depression, aber auch die Arbeitsfähigkeit und die gesundheitsbezogene Lebensqualität.

Das Ergebnis war sehr deutlich, wie Andreas Heißel zusammenfasst: „Beide Therapien haben sich als hochwirksam erwiesen – und als durchaus ebenbürtig, auch sechs Monate später. Überrascht hat uns, dass von denen, die eine Sporttherapie absolvierten, anschließend nur noch etwa 20 Prozent eine Psychotherapie begannen.“ Im Umkehrschluss mussten 80 Prozent der Patientinnen und Patienten nach den vier Monaten Sporttherapie nicht weiter behandelt werden, während die Psychotherapie in den meisten Fällen weiterlief. Gerade dieser Befund sei für Krankenkassen besonders interessant: Immerhin bedeute dies etwa tausend Euro geringere Behandlungskosten für STEP pro Person in einem Zeitraum von zehn Monaten.

„Unsere Studie belegt: Sporttherapie ist eine wirksame Behandlungsmethode für leichte bis mittelschwere Depression“, so der Forscher. Dabei solle sie die Psychotherapie nicht ersetzen, sondern ergänzen, betont er: „Die Sporttherapie erweitert das Behandlungsportfolio – und kann ein Türöffner sein. Die 20 Prozent der Patienten, die nach der Sport- noch eine Psychotherapie brauchen, sind dann auch bereit dazu.“

Das Geheimnis erfolgreicher Sporttherapie sei schon länger bekannt, erklärt Andreas Heißel: „Bewegung besitzt eine große Heilkraft. Neben der positiven Wirkung auf Herz-Kreislauf, Muskeln und Gehirn eben auch auf die psychische Gesundheit.“ In den vergangenen Jahren sei dies für viele Bereiche auch wissenschaftlich belegt worden. Andreas Heißel hat diese Erkenntnisse zusammengeführt, um ihrer Aussagekraft mehr Gewicht zu verleihen. Für eine Metastudie, die Anfang 2023 im „British Journal of Sports Medicine“ erschienen ist, hat Andreas Heißel mit anderen Forschenden systematisch 41 Studien mit insgesamt 2.264 erwachsenen Teilnehmenden zum Einfluss von Sportinterventionen auf depressive Symptome untersucht. Die Auswertung zeigt: Sowohl Kraft- als auch Ausdauersport sind sehr wirksam. Ebenso zeigte eine umfangreiche Studie in derselben Fachzeitschrift, dass auch Achtsamkeitssport wie Yoga sich positiv auf depressive Symptome auswirkt. Wichtig ist vor allem das Wie: Die größten Effekte haben Sportinterventionen, die in Gruppen durchgeführt und von Fachpersonal betreut werden. „Das Verhältnis der Patienten zum Therapeuten und den anderen in der Gruppe ist enorm wichtig. Sich aufgenommen und unterstützt zu fühlen und gemeinsam mit Menschen, denen es ähnlich geht, Sport zu treiben, kann für die Heilung sehr förderlich sein.“

Genau da setzte schon die STEP.De-Studie an: Die Sportwissenschaftler*innen und Physiotherapeut*innen wurden gezielt auf ihre neue Rolle und die Bedürfnisse der Teilnehmenden vorbereitet. Dafür absolvierten sie eine spezielle psychologische Schulung, die Andreas Heißel entwickelt hat: Zwei Wochenenden lang wurden die Sporttherapeut*innen fundiert im Umgang mit Menschen mit Depression ausgebildet. In einem ersten Block erfuhren sie das Wichtigste über Krankheitsbild, Behandlung, Medikation sowie Krisen- und Notfallmanagement. Außerdem erhielten sie das kommunikative Rüstzeug für den Umgang mit Patient*innen: aktives Zuhören, Transaktionsanalyse oder Vier-Ohren-Modell, sämtlich darauf angepasst, in der Sporttherapie bei psychischen Erkrankungen angewendet zu werden. Am zweiten Schulungswochenende schlossen sich weitere Übungen, vor allem zu den psychologischen Grundbedürfnissen und zur Gruppensupervision, an. „Das bereitet die Therapeuten optimal auf die Betreuung der Patienten vor. Zum Beispiel mit ihnen darüber zu sprechen, was sie sich von der Therapie versprechen – und wie sie dieses Ziel erreichen.“ Aber auch die Therapeut*innen profitieren erkennbar von der Schulung, so Heißel. „Es ist wichtig, dass sie ihre eigenen Verhaltensmuster erkennen und reflektieren. Das macht sie nicht nur besser, sondern auch zufriedener. Wir waren überrascht, wie sehr die Therapeuten das Angebot annahmen, sich öffneten und einbrachten.“

Mit dem Ende der STEP.De-Studie im Frühling 2022 war für Andreas Heißel klar, dass die Ergebnisse auf den Weg in die Regelversorgung der Krankenkassen gebracht werden müssen, um den Betroffenen wirklich helfen zu können. Inzwischen wird in der überarbeiteten Version der sogenannten S3-Leitlinie, einer Handlungsempfehlung für Ärzte, zur Behandlung von unipolarer Depression, von Ende 2022 Sport und Bewegung ausdrücklich empfohlen. Patientinnen und Patienten sollen zur „Teilnahme an einem strukturierten und supervidierten körperlichen Training motiviert und bei der Umsetzung unterstützt werden“, so der Wortlaut der Leitlinie. Und im September 2023 hat der Innovationsausschuss beim Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) als Alternative zu einer alleinigen Psychotherapie eine Sporttherapie mit Begleitung durch Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten empfohlen. Er ging sogar so weit erstmals festzustellen, dass der G-BA selbst für die Überführung der Ergebnisse in die Regelversorgung der gesetzlichen Krankenversicherung zuständig ist. Aufgrund der gesetzlichen Vorgaben ist der G-BA nunmehr verpflichtet, die erfolgreich erprobte neue Versorgungsform innerhalb von zwölf Monaten durch die Anpassung der einschlägigen Richtlinien in die Regelversorgung aufzunehmen – und damit allen gesetzlich Versicherten zu ermöglichen, STEP.De als neue Versorgungsform beanspruchen zu können.

Nun brauchte es „nur“ noch jemanden, der das in der Studie entwickelte STEP-Programm in die Praxis bringt. Aber wie? „Alle haben abgewinkt – nicht ihre Aufgabe“, so der Forscher. „Also haben wir am Ende, aus der Not heraus, selbst angepackt.“ Mit Unterstützung von Potsdam Transfer, der zentralen wissenschaftlichen Einrichtung für Gründung, Innovation und Wissens- und Technologietransfer der Universität Potsdam, gründete Andreas Heißel im Juni 2022 das Zentrum für emotionale Gesundheit Deutschland (ZEGD). Die Firma verknüpft die Akteure der Gesundheitsversorgung miteinander, die für die Sporttherapie nötig sind. „Eigentlich profitieren alle davon: Die Krankenkassen sparen Geld, die Sportzentren verdienen mit den Therapiekursen mehr und die Therapeuten gewinnen neue Expertise im Umgang mit Depressionspatienten. Die Ärzte und Psychotherapeuten wiederum können Patienten, denen sie bislang keine Therapieplätze zu verschaffen vermochten, etwas anbieten und ggf. die Wartezeit bis zur Psychotherapie sinnvoll überbrücken. Vor allem aber finden die Betroffenen kurzfristig Hilfe.“

Das achtköpfige ZEGD-Team arbeitet nun daran, das Netzwerk zu vergrößern und die Sporttherapie in die Breite zu bringen. Schon jetzt haben drei Krankenkassen die STEP-Therapie dank des sogenannten Selektivvertrags ins Portfolio aufgenommen und übernehmen die Kosten. Auf der anderen Seite kooperiert das Zentrum mit sieben Sportzentren in Berlin, in denen geschulte Therapeutinnen und Therapeuten STEP-Kurse anbieten. Vor allem aber haben Andreas Heißel und sein Team von Beginn an „groß gedacht“, um das Versorgungsmodell schnell zu skalieren. Dafür haben sie die STEP-Sporttherapie inzwischen digitalisiert. Das bedeutet, nicht nur Therapeuten können jetzt von überall die Schulung durchlaufen und die Zertifizierung erwerben. Auch die Patientinnen und Patienten können die Therapie nutzen, selbst wenn es in ihrer Nähe noch kein Sportzentrum gibt, das sie anbietet. „Vom Erstgespräch bis zum Nachgespräch läuft alles auch online ab“, so der Forscher. „Und natürlich gibt es auch die Sporttherapiegruppe per Videomeeting.“ So kann, wenn andere Krankenkassen nachziehen, die STEP-Therapie sehr schnell überall im Land eingesetzt werden. Und das Programm erreicht schon jetzt Menschen und Regionen, die von der Regelversorgung oft nicht profitieren können. „Unser Ziel ist, dass wir niemanden ‚zurücklassen‘.  Ich gehe davon aus, dass langfristig flächendeckend 80 Prozent der Betroffenen vor Ort, 20 Prozent online betreut werden.“

Der Bedarf ist riesig, der Zuspruch groß, wo immer Andreas Heißel das STEP-Programm vorstellt. Und doch könnte es schneller gehen, findet er. Die bürokratischen Hürden der Gesundheitsversorgung seien hoch. „Die Gremien arbeiten langsam und gründlich. Das verzögert alles. Aber ich bin zuversichtlich – denn letztlich hat die Sache keinen Haken.“ Das zeigen auch die vielen Anfragen, das Programm auszuweiten: Krankenkassen drängen darauf, die Behandlung auch für andere Krankheitsbilder zuzulassen: Burnout, Angsterkrankungen, Posttraumatische Belastungsstörungen und auch Schlafstörungen könnten mithilfe von Sporttherapie behandelt werden, die wissenschaftliche Evidenz dafür liegt bereits vor. Die STEP-Schulungen werden aktuell für diese Diagnosen erweitert, um noch mehr Menschen die Therapie zugänglich zu machen.

Und auch für die ZEGD haben sich bereits weitere Tätigkeitsfelder ergeben, wie Andreas Heißel erklärt: „Wir erhalten Anfragen von Unternehmen, die die Förderung emotionaler Gesundheit stärker ausbauen wollen.“ So können Firmen in Kooperation mit dem Zentrum STEP-Kurse oder Gesundheitssport für ihre Beschäftigten anbieten, aber auch Schulungen für Beschäftigte und Führungskräfte buchen, die dabei lernen, das seelische Wohlbefinden ihrer Teams zu fördern. „Wir sind die Experten für den Bereich emotionale Gesundheit – das wollen wir in die Arbeitswelt bringen.“ Neben Unternehmen können aber auch Privatpersonen an den Schulungen und Kursen teilnehmen. Die ZEGD hat es sich zur Aufgabe gemacht, für alle das passende Angebot zu schaffen, sei es für Menschen mit psychischen Erkrankungen oder Belastungen, für Unternehmen, zur Prävention oder zur Therapie.

Trotz des Rückenwindes geht der Forscher davon aus, dass aufgrund der bürokratischen Hürden viele Jahre vergehen, ehe die STEP-Sporttherapie wirklich in der Regelversorgung angekommen ist. Denn anders als in anderen Branchen fehle der Sporttherapie die Lobby, die es braucht, damit wissenschaftliche Erfolge wie die STEP-Studie keine Papiertiger bleiben. Sowohl die klaren wissenschaftlichen Belege als auch die hohe Nachfrage nach dem Programm und das positive Feedback der bisherigen Teilnehmenden sprechen aber bereits jetzt deutlich für den Erfolg und das weitere Potenzial des STEP-Programms.

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Zwei 2023 „Mentale Gesundheit“ (PDF).