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Ein Problem, viele Perspektiven – Wie Irene Heidt angehende Englischlehrerinnen und -lehrer einen kritischen Blick auf Rassismus lehrt

Innovative Lehrprojekte 2022

Internationale Studierende
Foto : AdobeStock/Prostoc-studio
Eine Gesellschaft ohne Rassismus braucht rassismuskritische Lehrerinnen und Lehrer.

Rassismus ist ein Problem. Vor allem für diejenigen, die ihn Tag für Tag erleben und unter seinen mannigfaltigen Formen und Folgen leiden. Jedoch ist die Überwindung von Rassismus eine große Herausforderung, da er so tief in unserem Alltag und unserer Gesellschaft verwurzelt ist. Grund genug, künftigen Lehrerinnen und Lehrern Theorien und Strategien an die Hand zu geben, wie sie rassismuskritischen Unterricht gestalten können, findet die Englischdidaktikerin Dr. Irene Heidt. Matthias Zimmermann sprach mit ihr über die Notwendigkeit für Rassismuskritik im Lehramtsstudium und den Wert eines virtuellen Austauschs mit US-Studierenden.

Die Universität Potsdam hat Ihr Lehrprojekt „Rassismuskritische Englischlehrer*innenbildung durch autoethnographische Reflexion und virtuellen Austausch“ gefördert. Worum geht es dabei?

Das Lehrprojekt beschäftigt sich einerseits mit der Thematisierung und Konzeptualisierung von Rassismus im Kontext des schulischen Englischunterrichts durch postkoloniale Theorien und Critical Race Theory, aber auch mit der Anbahnung rassismuskritischer Reflexionskompetenz durch autoethnographisches Schreiben und dem virtuellen Austausch mit Studierenden aus den USA. Neben meiner Tätigkeit als Postdoktorandin an der Universität Potsdam bin ich weiterhin als Englischlehrerin an einer Berliner Sekundarschule beschäftigt, wo mir die Bedeutung rassismusrelevanter Themenkomplexe für den Englischunterricht bewusst wurde. Denn der Englischunterricht befasst sich u.a. mit Themen wie Apartheid, British Empire, die Folgen von 9/11, (post-)koloniale Geschichte Indiens und Nigerias. Dennoch bereitet universitäre Fremdsprachenlehrer*innenbildung zukünftige Englischlehrpersonen wenig darauf vor, diese sensiblen Themen aus einer rassismuskritischen und postkolonialen Perspektive zu vermitteln, noch kritisch die eigenen Wissensbestände und implizite handlungsleitende Orientierungen zu reflektieren. Daher verfolgt das von mir konzipierte Lehrprojekt ein dreifaches Ziel: 1) Studierende zu einer rassismuskritischen Analyse von Englisch-Lehrwerken zu befähigen sowie Lehr- und Lernmaterialien zu entwickeln, die einen rassismuskritischen Ansatz verfolgen. Hierzu wurde Dr. Jule Bönkost eingeladen, die im Bereich diskriminierungskritischer Bildung arbeitet; 2) Anbahnung rassismuskritischer Reflexionskompetenz angehender Englischlehrpersonen durch autoethnographisches Schreiben, um eine unhinterfragte (Re-)Produktion institutioneller und epistemologischer Rassismen in der zukünftigen Unterrichtspraxis zu vermeiden; 3) diese rassismuskritischen Professionalisierungsprozesse im Rahmen eines virtuellen Austauschs mit U.S. Studierenden im (inter-)kulturellen Dialog zu vertiefen.

Was macht das Lehrprojekt innovativ?

Der Innovationscharakter des Lehrprojektes zeigt sich insbesondere im virtuellen Austausch mit Studierenden aus den USA. Hier haben meine U.S. Kollegin und ich gemeinsame online Seminarsitzungen konzipiert, die auf der übergreifenden Frage „Was können wir voneinander lernen?“ basierten. Der virtuelle Austausch befasste sich mit dem historischen, kulturellen und diskursiven Verständnis von „race“ und Rassismus in den USA und Deutschland, um beiden Studierendengruppen unterschiedliche Perspektiven auf das Thema aufzuzeigen. In einer der Sitzungen ging es beispielsweise um die koloniale Vergangenheit beider Länder und deren Wirkung bis in die Gegenwart, in der wir aktuelle Debatten über die Umbenennung von Straßennamen wie ‚Mohrenstraße‘ in Berlin sowie die Entfernung von Konföderierten-Denkmälern in den USA aus den jeweils unterschiedlichen Perspektiven diskutierten. Hier gingen wir außerdem der Frage nach, „Wie sollte die koloniale Vergangenheit beider Länder im Englischunterricht vermittelt werden?“. Der virtuelle Austausch ermöglichte es beiden Studierendengruppen, diese Themenkomplexe aus unterschiedlichen Blickrichtungen zu beleuchten und zu diskutieren.

Warum wollten Sie etwas anders machen?

Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Entwicklungen wie dem (Wieder-)Erstarken populistischer Positionen, den Folgen der Coronavirus-Pandemie sowie dem aktuellen Krieg in der Ukraine haben zahlreiche Wissenschaftler*innen aus unterschiedlichen Bezugsdisziplinen die Notwendigkeit einer Bewusstmachung für und Auseinandersetzung mit Rassismus innerhalb der universitären Lehrkräftebildung hervorgehoben. Diese Forderung wird ebenfalls in bildungspolitischen Vorgaben sichtbar (z.B. Lehrerbildung für eine Schule der Vielfalt, 2015, HRK/KMK; Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule, 2013, KMK), wo die Erwartung formuliert wird, dass angehende Lehrer*innen auf den Umgang mit Vielfalt vorbereitet werden sollten, um zur Inklusion und zum sozialen Zusammenhalt beizutragen. Daher war es mir wichtig, in meinen englischdidaktischen Seminaren auf diese Forderungen einzugehen (unter Berücksichtigung bereits geäußerter Kritik vgl. z.B. Fereidooni & Massumi, 2015) und meine Studierenden in ihrem Professionalisierungsprozess durch den Ansatz der kritischen Autoethnographie zu unterstützen: In der Reflexion sowie der Offenlegung impliziter, handlungsleitender Orientierungen sollten Studierende die eigene strukturelle Verwobenheit in der Hervorbringung von Differenz erkennen und bearbeiten.

Wie ist die Idee für das Projekt entstanden?

Durch meine Tätigkeit als Englischlehrerin an einer Sekundarschule, aber auch als Postdoktorandin der Englischdidaktik hatte ich zunehmend den Eindruck, dass rassismuskritischer Englischunterricht ein bislang eher randständig gebliebenes Thema ist. Das wird den obengenannten bildungspolitischen Empfehlungen nicht gerecht. Weiterhin beklagten viele meiner Studierenden, dass sie pandemiebedingt ihr Auslandssemester oder -praktikum absagen mussten und damit keine Möglichkeit hatten, ihre Sprachkenntnisse zu vertiefen oder wichtige (inter-)kulturelle (Unterrichts-)Erfahrungen zu machen. Der virtuelle Austausch sollte hier einen Raum für ebendiese Leerstellen bieten.

Gibt es ein erstes Feedback von den Studierenden? Gibt es Ideen, wie man die Ergebnisse des Seminars auf andere Bereiche übertragen kann?

Es gab einen ersten Durchlauf des Lehrprojekts im Wintersemester 2021/22, in dem Studierende der Universität Potsdam den virtuellen Austausch und das autoethnographische Schreiben als sehr positiv bewertet haben. Da das Erstellen der autoethnographischen Essays recht zeitaufwändig ist, hatte ich eher mit Kritik seitens der Studierenden gerechnet. Tatsächlich haben die Seminarteilnehmer*innen aber betont, dass das autoethnographische Schreiben ihr Bewusstsein für strukturelle Diskriminierungsformen sowie das Verständnis für die eigene Verwobenheit darin geschärft hat. Viele Studierende äußerten ebenfalls den Wunsch, die theoretisch-konzeptionellen Zugänge mit unterrichtspraktischen Seminaranteilen zu ergänzen, weshalb ich eine Kooperation mit einem Berliner Gymnasium initiiert habe. Meine zukünftigen Seminare werden sich daher mit der Planung und Durchführung von rassismuskritischen Schulprojekten befassen, um einerseits die Verzahnung von fachwissenschaftlichem und fachdidaktischem Wissen zu ermöglichen und andererseits Professionalisierungsprozesse angehender Englischlehrpersonen anzubahnen. Das Lehrprojekt wurde insofern ausgehend von den zahlreichen Gesprächen mit meinen Studierenden weiterentwickelt.

 

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