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Geschenkt oder bestochen? – Korruption in der Antike, „verdrehte Transfers“ und was wir heute daraus lernen können

Prof. Filippo Carlà-Uhink und Niklas Engel im Interview
Bestechung in der griechischen Mythologie: Polyneikes gibt Eriphyle die Halskette der Harmonia, damit sie ihren Gatten überzeugt, in den Krieg der Sieben gegen Theben zu ziehen.
Foto : Tobias Hopfgarten
Prof. Filippo Carlà-Uhink und Niklas Engel
Bild : Michael Fetzer
Bestechung in der griechischen Mythologie: Polyneikes gibt Eriphyle die Halskette der Harmonia, damit sie ihren Gatten überzeugt, in den Krieg der Sieben gegen Theben zu ziehen.

Als der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff nach Korruptionsvorwürfen 2012 seinen Hut nehmen musste, kochte die Diskussion – wie immer in solchen Fällen – hoch: Dürfen Menschen in politischer Verantwortung Geschenke annehmen? Wenn ja, von wem? Wird eine Gegenleistung erwartet? Wo verläuft die Grenze zur Bestechung? Das deutschbritische Projekt „Twisted Transfers“ versucht, hier etwas mehr Klarheit zu schaffen, und schaut dafür sehr weit zurück: in die griechisch-römische Antike.

„Schwammig“ nennt Filippo Carlà-Uhink den Begriff der Korruption, obwohl der seiner lateinischen Herkunft – „corruptio“ – nach unmissverständlich ausdrückt, was gemeint ist: Verderb, Verwesung, Verfall! Doch nicht alles, was gemeinhin als korrupt wahrgenommen wird, bricht geltendes Recht. Andererseits sind tatsächlich rechtswidrige Handlungen in gewissen Kreisen durchaus gesellschaftsfähig. „Korruption lässt sich politisch, moralisch, rechtlich bewerten. Es gibt keine einheitliche Definition“, konstatiert der Professor für Geschichte des Altertums an der Universität Potsdam, der sich viele Jahre eingehend mit der Deutung von Gaben und Geschenken in der Antike befasste. Ein Problem entstehe zum Beispiel immer dann, wenn Gebende und Empfangende nicht auf derselben Stufe der Macht stehen. Um trennscharf zwischen Geschenk und Korruption unterscheiden zu können, widmet er sich derzeit verstärkt der Analyse solcher als „falsch“ oder „verdreht“ empfundenen Transfers. Nicht allein, sondern in einem gemeinsamen Projekt mit der University of Roehampton.

Das deutsch-britische Team nähert sich den sogenannten „Twisted Transfers“ auf dem Weg der diskursiven Konstruktionen. Das bedeutet, sich vom heutigen wie vom damaligen Rechtsverständnis zu lösen und zu untersuchen, wie man über „korruptes Verhalten“ in den antiken politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Kontexten gesprochen hat. Welche normativen Werte prägten das Zusammenleben? Was galt als Ideal richtigen Verhaltens? Was war gesellschaftlich akzeptiert, was nicht? Von den Gerichtshöfen im klassischen Athen bis zur Ethik der byzantinischen Diplomatie reicht das Forschungsfeld, das sich dank umfangreicher und gut erhaltener Quellen gründlich bearbeiten lässt. Am Ende sollen skizzierte Fallstudien verstehen helfen, warum und wie diese Transfers als „verdreht“ und damit als Akte der Korruption dargestellt werden konnten – und bis heute werden.

Filippo Carlà-Uhink nennt ein Beispiel: den Strafprozess gegen Gaius Verres, von 73 bis 71 v. Chr. Statthalter der Provinz Sizilien. Seine Machtposition ausnutzend, zwang er die Bürger Siziliens, ihm Geschenke zu machen und Kunstgegenstände zu verkaufen, die sie eigentlich nicht veräußern wollten. So jedenfalls steht es in der Anklage, die kein Geringerer als Marcus Tullius Cicero führte. Verres brachte zu seiner Verteidigung hervor, dass er die Kunstwerke ja bezahlt habe. „Ein klassischer ,Twisted Transfer‘“, sagt Carlà-Uhink, der sich im Projekt auf die Analyse von Prozessreden konzentriert. Ihn interessiert, wie sich Diskurse über solche Verdrehungen entwickelten oder vor Gericht bewusst eingesetzt wurden. Die schon damals praktizierte Strategie, die verdrehten Transfers als legitime und normale Formen des Austausches erscheinen zu lassen, ging im Fall des Gaius Verres nicht auf. Unter der erdrückenden Beweislast gab er den Prozess vorzeitig verloren und floh ins Exil. Dort allerdings lebte er nicht in Armut, denn statt der von Cicero geforderten 40 Millionen Sesterzen hatte er nur drei Millionen als Entschädigung zu zahlen.

Nur „kleine“ Geschenke erlaubt

Ebenso wie heute war es schon Politikern im Alten Rom untersagt, Geschenke anzunehmen. Nur kleine Gaben waren erlaubt, „doch hatte niemand festgelegt, was ,klein‘ bedeutet“, sagt Carlà-Uhink und erklärt, dass öffentliche Personen solche „Spielräume“ brauchten, um sich selbst als ehrliche Menschen in Szene zu setzen. „Wenn das Gesetz alles definiert, kann man nicht performen“, meint der Historiker und lacht. „Dass das alles eine Frage der Auslegung war, half auch beim Konstruieren von Feindbildern“, so der Althistoriker. „Korrupt sind immer nur die anderen. Wir geben Geschenke, die anderen bestechen!“

Was wir heute unter Korruption verstehen, wurde damals durchaus ernsthaft diskutiert, sagt Niklas Engel, der im Projekt promoviert. „Man kann es auch als Suche nach dem Ideal bezeichnen: Was ist ein guter, ein richtiger Transfer?“ In seiner Doktorarbeit konzentriert sich der Historiker auf die spätrömische Republik und die frühe Kaiserzeit. Dabei stützt er sich auf die umfangreiche Sammlung der Briefe Ciceros und Plinius’, die tiefe und detailgenaue Einblicke in den gesellschaftlichen und politischen Alltag ihrer Zeit gewähren. Darin enthaltene Beschreibungen von Korruption und Bestechung gleicht Engel mit anderen historischen Quellen ab, um herauszufinden, ob sie einer Norm entsprechen oder nur individuell konstruiert sind. Wenn es tatsächlich diese Normen gab, dann will Engel untersuchen, wie sie sich verändert haben während des krisenhaften Übergangs von der späten Republik in die frühe Kaiserzeit. Ihn interessiert dabei hauptsächlich die Frage, inwiefern die strukturellen Voraussetzungen für die Wahrnehmung von Korruption im Antiken Rom gegeben waren und wie aus dem, was möglicherweise als „korrupt“ beschrieben wurde, Aussagen über die römische Gesellschaft und deren soziale Komplexität getroffen werden können.

„Was nicht heißt, dass die Römer noch kein Verständnis von Korruption hatten“, sagt der Doktorand. Als prominentes Beispiel nennt er den Skandal um Publius Clodius 62 v. Chr. In Frauenkleidern hatte er sich Zutritt zu einer rein weiblichen Kultfeier für die Fruchtbarkeitsgöttin Bona Dea im Hause von Caesars Frau verschafft, angeblich, um sich mit seiner Geliebten zu treffen. Die Sache flog auf und brachte Clodius wegen Unzucht und religiösen Frevels vor Gericht. Als es zum Freispruch kam, warf Cicero ihm vor, den Richter mit Geschenken bestochen und das Urteil mit der Vermittlung von sexuellen Dienstleistungen erkauft zu haben. „Das konnte schon damals als Korruption gelten“, sagt Niklas Engel. „Und blieb auch nicht ohne Folgen“, ergänzt Filippo Carlà-Uhink. Zwei Jahre später wurde ein Gesetz vorgeschlagen, das Richtern untersagen sollte, Geschenke anzunehmen.

Über die Aufklärung zu antiken Quellen

„Wir sind heute viel formaler. Es gibt klare Gesetze, nach denen man verurteilt wird, wenn man Grenzen überschritten hat“, sagt Carlà-Uhink, nicht ohne darauf hinzuweisen, wo diese Entwicklung ihren Anfang nahm: „Viele Begriffe, die wir heute verwenden, beruhen auf der Aufklärung. Deren Vertreter allerdings stellten selbst keine empirischen Untersuchungen an, sondern lasen die Werke der Antike.“ Die Quellenlage sei also dieselbe geblieben – und damit die Bedeutung der Alten Geschichte für ein besseres Verständnis der Gegenwart.

Um dann aber doch noch einmal völlig andere Sichtweisen und damit zusätzliche Inspiration ins Forschungsprojekt zu holen, organisieren Filippo Carlá- Uhink und seine Kollegin in Roehampton, Marta Garcia Morcillo, Kolloquien mit fachfremden Beiträgen: Eine britische Kriminologin referierte über gewählte Politiker, die Gesetze zum eigenen Machterhalt schaffen. Eine Ethnologin aus Basel berichtete von einer Langzeitstudie zur Korruption in Afrika, abhängig vom ökonomischen und politischen Wandel. Und ein Zeithistoriker aus Amsterdam sprach über Korruption und deren Bekämpfung im 20. Jahrhundert. „Wir lesen auch nicht nur antike Quellen und althistorische Arbeiten, sondern immer wieder moderne Berichte und Literatur aus anderen Fächern, um uns in der Gruppe zu befragen, was die Lektüre für die eigene Forschung bringt“, erzählt Niklas Engel. Insgesamt elf Themen werden im Projekt bearbeitet, in denen es auch um Prostitution, Steuerbetrug und Erbschleicherei geht. Abgründig, vielschichtig und hoch brisant – auch nach über 2.000 Jahren. Dass es nach wie vor schwierig bleibt, verdrehte Transfers zu entwirren und voreiligen Urteilen zu entgehen, zeigt nicht zuletzt der Fall Christian Wulffs, der 2014 vom Vorwurf der Vorteilsnahme gerichtlich freigesprochen wurde.

Das Projekt

Twisted Transfers: Discursive Constructions of Corruption in Ancient Greece and Rome
Altertumswissenschaftliches Forschungsprojekt der Universität Potsdam und der University of Roehampton
Laufzeit: 2020–2023
Förderung: Im Rahmen des DFG/AHRC-Programms „UK-German Collaborative Research in the Humanities“

Die Forscher

Prof. Dr. Filippo Carlà-Uhink studierte Altertumswissenschaften in Turin und promovierte im Fach Alte Geschichte in Udine. Nach seiner Habilitation an der TU Dresden wurde er 2018 auf die Professur für Geschichte des Altertums an die Universität Potsdam berufen.
E-Mail: filippo.carla-uhinkuni-potsdamde

Niklas Engel studierte Geschichte und Latein an der Universität Potsdam und Alte Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Erforscht derzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für die Geschichte des Altertums der Universität Potsdam.
E-Mail: niklas.engeluni-potsdamde

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Zwei 2022 „Mensch“ (PDF).