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Aus der Vogelperspektive – BIRD schaut auf die Fülle digitaler Lernangebote und verknüpft sie auf einer nationalen Bildungsplattform

Prof. Lucke und Mitarbeiter sitzen am Tisch und arbeiten, Person rechts zeigt auf einen Laptop. Das Foto ist von Thomas Roese.
Arbeitende sitzen in einem Seminarraum im Informatikgebäude und arbeiten. Das Foto ist von Thomas Roese.
Foto : Thomas Roese
BIRD schaut auf die Fülle digitaler Lernangebote und verknüpft sie auf einer nationalen Bildungsplattform
Foto : Thomas Roese
Prof. Dr. Ulrike Lucke arbeitet am Projekt „Bildungsraum digital“, kurz BIRD.

„Es ist das größte und anstrengendste Projekt, das ich je hatte“, sagt Ulrike Lucke, lehnt sich in den Bürostuhl und pustet eine Haarsträhne aus der Stirn. Es ist Abend in Golm und kaum noch Licht im neuen Informatikgebäude. Gerade eingezogen, startete Ulrike Lucke hier im Frühjahr 2021 die Entwicklung eines Prototyps einer neuen, nationalen Bildungsplattform. Einer IT-Struktur, die nichts Geringeres leisten soll, als sämtliche digitalen Dienste und Lernformate zu verknüpfen, sodass sie sich bundesweit und übergreifend nutzen lassen – von der Grund- bis zur Hochschule und weit darüber hinaus. „Wir wollen nichts Zusätzliches erfinden, sondern das Vorhandene integrieren“, beschreibt die Informatikerin den Plan. Unter dem Digitalisierungszwang in der Pandemie haben die Bildungseinrichtungen verschiedene Ansätze entwickelt, so die Professorin. „Das lässt sich nicht vereinheitlichen. Wir wollen auch keine Glocke überstülpen“, versichert sie. „Vielmehr schieben wir eine Art Servierplatte darunter, auf der sich das jeweilige Menü bedarfsgerecht anrichten lässt.“

Natürlich bewerkstelligt Ulrike Lucke solch eine Aufgabe nicht allein, aber sie hält die Fäden in der Hand: Im Projekt „Bildungsraum digital“, kurz BIRD, hat die Universität Potsdam die Koordination übernommen. Mit dabei sind die Technische Universität Berlin, die Gesellschaft für wissenschaftliche Datenverarbeitung Göttingen und die Universität Magdeburg. Aber auch der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) und eine Reihe gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Akteure beteiligen sich an dem Mammutvorhaben, das vom Bundesforschungsministerium über zwei Jahre mit rund 7,3 Millionen Euro gefördert wird.

Eine Plattform – für lebenslanges digitales Lernen

Der Erwartungsdruck der Bundesregierung ist hoch. Die Pandemie hat die digitale Ödnis in deutschen Bildungslanden gnadenlos offengelegt. Die BIRDMacher müssen sich deshalb sehr schnell einen Überblick verschaffen, bestehende Plattformen und digitale Lehrangebote über eine Middleware einbinden und gemeinsame Standards etablieren. So soll ein virtueller Raum entstehen, der in allen Phasen des lebenslangen Lernens den Zugang zu Bildung erleichtert, ob über Institutionen oder auf individuellen Pfaden. „Dass wir das können, haben wir gezeigt“, sagt Ulrike Lucke. Noch bevor das Projekt überhaupt beantragt war, hat ihr Team einen Prototyp gebaut. „Über Weihnachten, weil die Zeit drängte. Und dann ging alles sehr schnell. Im Frühjahr hatten wir den Zuschlag.“

Während die Professorin davon erzählt – schnell und leise –, sitzt sie längst wieder vorn auf der Stuhlkante und erklärt mit den Händen, was die Potsdamer Projektgruppe derzeit leistet. Sie imaginiert Eckpunkte, zeichnet Verbindungslinien, Schnittstellen, Andockpunkte. Plötzlich leuchtet ein, was „Komplexe Multimediale Anwendungsarchitekturen“ bedeuten, die an der gleichlautenden Professur von Ulrike Lucke entworfen werden. Wie am Reißbrett entsteht der Plan jenes digitalen Raums, in dem Wände, Bausteine und Gestaltungselemente ein sinnvolles Ganzes ergeben. Dafür arbeitet das Entwicklerteam mit den E-Learning-Fachleuten und der Mediendidaktik im universitätsweiten Zentrum für Lehrerbildung und Bildungsforschung zusammen. Um den technischen Betrieb kümmern sich die Experten vom ZIM, dem Zentrum für Informations- und Medientechnologie. Auf 20 Personen ist die Projektgruppe inzwischen allein in Potsdam angewachsen.

Das Zusammenspiel von verschiedenen Fächerkulturen und Kompetenzen ist unerlässlich, weiß Ulrike Lucke, etwa wenn eine inhaltliche Idee in einen Programmcode zu übersetzen oder ein digitales Konzept in den Unterricht zu implementieren ist. „Oft beginnt das Problem ja schon bei den Begrifflichkeiten. Transparenz, zum Beispiel, bedeutet gemeinhin, durch eine Sache hindurchsehen zu können. Bei uns heißt das jedoch manchmal, etwas für den Nutzer im Verborgenen zu lassen“, erklärt die Informatikerin, froh darüber, dass BIRD auch vom „Bündnis für Bildung“ vorangetrieben wird. Die deutschlandweite Vereinigung von Verlagen, IT-Unternehmen und öffentlichen Institutionen unterstützt den digitalen Wandel beim Lehren und Lernen und übernimmt im Projekt eine wichtige Mittlerfunktion. Die Akteure wollen die „Bildungslandschaft der geschlossenen Silos“ öffnen und sehen in BIRD die Chance, die Vielzahl bestehender und auch künftiger Lernangebote allgemein zugänglich zu machen.

Austausch ermöglichen

Anschlussfähigkeit scheint im Projekt ein Schlüsselwort zu sein: an andere Systeme, an Programme, die es erst in der Zukunft geben wird, und an Plattformen im Ausland. „Mit dem DAAD im Boot sichern wir, dass der nationale Bildungsraum international anschlussfähig sein wird“, betont auch Ulrike Lucke. Für die von der Universität Potsdam geführte European Digital UniverCity (EDUC) sei das existenziell. Schließlich soll hier über mehrere europäische Grenzen hinweg „barrierefrei“ miteinander geforscht und studiert werden. Nicht ohne Grund ist im Projekt immer wieder von „Bildungsreisen“ die Rede. Reisen durch Wissensgebiete, in die Tiefen einzelner Fächer oder zu benachbarten Disziplinen. Expeditionen in virtuelle Welten, Bildungstrips in fremde Länder mit allem, was dazugehört: Begegnungen, Diskussionen und interkulturellem Austausch, dem Zertifikat eines Sprachkurses oder dem Studienabschluss einer Universität. BIRD will die Wege dahin ebnen und Klüfte überbrücken, sodass die „Bildungsreise“ jedes Einzelnen ohne Brüche, selbstbestimmt und möglichst lebenslang erfolgreich wird.

Wie eine solche Nutzerreise auf dem digitalen „Gelände“ der Bildungsplattform aussehen kann, zeigte das Entwicklerteam unlängst mit einer Livedemonstration im Bundeskanzleramt. „Wir wussten, dass Frau Merkel das Projekt besonders am Herzen liegt, und waren entsprechend hoch motiviert“, berichtet Ulrike Lucke. Auch wenn die ehemalige Kanzlerin nicht dabei sein konnte, brachte die Präsentation viel Rückenwind und die Gewissheit, auf dem richtigen Weg zu sein, so die Koordinatorin. Mit einem eigens geschriebenen Drehbuch und Akteuren aus der Uni hatten sie konkrete Lernszenarien in Schule, Universität und Weiterbildung live im System durchgespielt.

Einen Eindruck davon vermittelt auch ein Video, das die Referendarin Stefanie Schubert auf ihrem Bildungsweg zwischen Seminar, Unterrichtspraxis und Fortbildung begleitet: Über ein eigenes Identity Management erhält sie Zugang zur Plattform, verbindet sich mit der Schulcloud und führt über das Big-BlueButton-Konferenzsystem eine Biologie-Lehrprobe in einer 11. Klasse durch. Während des Unterrichts greift sie auf digitale Materialien zu, die den Stoff veranschaulichen, interagiert mit den Schülerinnen und Schülern und vermittelt ihnen auf dem vernetzten DAAD-Portal gleich noch einen Spracheignungstest, den sie für einen geplanten Auslandsaufenthalt benötigen. Selbstredend haben sich ihre Fachbetreuer zugeschaltet und ihr zur Lehrprobe nicht nur ein Feedback, sondern über den Prüfungsausschuss auch eine Note gegeben, die Stefanie in ihrer persönlich verwalteten „Data Wallet“, einer digitalen Dokumentenmappe, sammelt. Die aufgezeichnete Unterrichtsstunde teilt die Referendarin in einem virtuellen Arbeitsraum mit ihren Kommilitonen und erhält hilfreiche Kommentare. Ihre Lehrprobe scheint gelungen, denn Stefanie hängt sie an eine Bewerbung an, die sie an ihre „Traumschule“ schickt. Und weil ihr die Betreuer empfohlen haben, sich zu digitalen Lehrformaten zu qualifizieren, nimmt sie im Bildungsraum an einem E-Learning-Kurs teil. Nach erfolgreich absolvierter Online-Prüfung füllt ein weiteres verifiziertes Zertifikat ihre „Data Wallet“, die sie auf ihrer lebenslangen Bildungsreise – immer griffbereit – begleiten wird.

Stefanies Beispiel zeigt, was möglich wird, wenn das technische Rückgrat für den digitalen Bildungsraum fertig ist. Ulrike Lucke sieht BIRD auch als Inkubator und Experimentierraum, um technische Möglichkeiten für die Bildung kommender Generationen zu erproben. Weitere Prototypen auf Basis von Open Source Software sollen deshalb folgen. „Peu à peu werden Features drum herum gebaut, kommen neue Räume hinzu“, sagt die „Architektin“ komplexer multimedialer Anwendungen, „bis das ganze Gebäude steht und seinen Zweck erfüllt“.

Das Projekt

Das Vorhaben „Bildungsraum Digital“ (BIRD) hat zum Ziel, die Schaffung einer föderierten Infrastruktur für Digitale Bildung in Deutschland voranzutreiben. Dafür sollen bislang isolierte Bildungsplattformen und einzelne Bildungsangebote in ein Ganzes zusammengeführt werden – unter Wahrung der bestehenden Heterogenität, aber zugleich in breiter Interoperabilität. Es soll ein Ökosystem aus voneinander unabhängigen Bildungsdiensten entstehen, die den darin agierenden Nutzern eine Unterstützung auf ihrem Bildungsweg bieten und die Ausbildung individueller Lernpfade fördern.
Laufzeit: 4/2021–3/2023
Beteiligt: Universität Potsdam (Projektkoordination); weitere Partner: DAAD, TU Berlin, GWDG, Uni Magdeburg, g.a.s.t., edu-sharing, Bündnis für Bildung, MathPlan
Förderung: Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF)

Die Forscherin

Prof. Dr. Ulrike Lucke studierte Informatik an der Universität Rostock. Seit2010 ist sie Professorin für Komplexe Multimediale Anwendungsarchitekturen an der Universität Potsdam.
E-Mail: ulrike.luckeuni-potsdamde

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Eins 2022 „Zusammen“.