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Faszination Gehör und Sprache – Outi Tuomainen erforscht die Komplexität von Sprachentwicklungsstörungen

Outi Tuomainen im Interview | Foto: Kaya Neutzer
Outi Tuomainen erforscht die Komplexität von Sprachentwicklungsstörungen | Foto: Kaya Neutzer
Foto : Kaya Neutzer
Outi Tuomainen im Interview
Foto : Kaya Neutzer
Outi Tuomainen erforscht die Komplexität von Sprachentwicklungsstörungen
Die Sprache eines Menschen entwickelt sich das gesamte Leben lang, beeinflusst von seiner Fähigkeit zu hören. Mit dieser Verknüpfung befasst sich Outi Tuomainen schon viele Jahre. Seit April 2020 ist sie Professorin für Developmental Language Disorders an der Universität Potsdam und erforscht auditive Fähigkeiten und Sprachperzeption bei Kindern mit und ohne Sprachstörungen.

„Sprache ist eine Fähigkeit, die für die meisten von uns selbstverständlich ist“, sagt Outi Tuomainen. „Sie ist ein großer Teil davon, wer wir sind.“ Die gebürtige Finnin wuchs in dem kleinen Ort Ypäjä in der Nähe von Helsinki auf. Zwar lernte sie in der Schule neben Englisch auch Schwedisch und Deutsch, doch ihr berufliches Interesse an Sprachen entwickelte sich erst viel später. „Ich komme aus einem großen sozialen Gefüge mit starkem familiären Zusammenhalt“, erzählt sie. „Jeder war frei, sich zu entfalten. Dass es in Finnland keine Studiengebühren gibt, weiß ich sehr zu schätzen.“ Ihre Eltern, selbst keine Akademiker, ermutigten ihre sechs Kinder, eine gute Bildung anzustreben: „Education opens doors and gives you chances!“ Schließlich machten alle Abitur und einen akademischen Abschluss, heute arbeiten sie als Ärzte und Journalisten, leben von Malta bis Finnland verstreut.

Outi Tuomainen selbst entschied sich für ein Studium der Phonetik an der Universität Turku und begann im Anschluss ans Grundstudium zu erforschen, wie Kommunikation im Gehirn abläuft und dabei Hören und Sprechen zusammenhängen. In ihrer Doktorarbeit konzentrierte sie sich auf die Sprachentwicklungsstörung SES (ehemals Spezifische Sprachentwicklungsstörung, SSES), ein lebenslanger Zustand, bei dem Betroffene Schwierigkeiten haben, gesprochene Sprache zu verstehen und zu verwenden. Die Ursachen für SES sind bis heute nicht hinreichend bekannt, dabei kann es einen enormen Einfluss auf die Entwicklung der Lese- und Schreibfähigkeit sowie die soziale und emotionale Entwicklung haben. SES betrifft etwa fünf bis zehn Prozent der Kinder im Schulalter und kommt meist „unerwartet“ vor, d.h. das Kind entwickelt sich ansonsten normal.

„Neben genetischen Faktoren gibt es viele andere Risikofaktoren, die die Sprachentwicklung beeinflussen und wir kennen längst nicht alle bzw. deren individuelle Konsequenzen“, erklärt die Forscherin ihr Anliegen. Sie erinnert sich noch gut an einen bewegenden Besuch bei einer 20-jährigen Probandin, die bei ihren Eltern wohnte. Die junge Frau sei intelligent und ehrgeizig gewesen, sah jedoch chancenlos dem Arbeitsmarkt entgegen, weil ihre Sprachschwierigkeiten zu spät erkannt worden waren. Kaum minder einprägsam für Outi Tuomainen war, als sie infolge einer Ohrentzündung selbst einmal drei Monate lang ohne Gehörvermögen auskommen musste: „Als ich auf der Straße orientierungslos war und beinahe angefahren wurde, realisierte ich erst, wie sehr unsere Wahrnehmung vom Hören abhängt!“ Seit dieser Zeit fällt es ihr nicht schwer, sich in Menschen hineinzuversetzen, die Probleme beim Hören haben: „It was an eye opening experience for me, because I had hearing loss myself.“

Am University College London begann die Linguistin, sich mit Menschen aller Altersgruppen zu  befassen, um zu verstehen, wie sich die Fähigkeit, Sprache zu verstehen und zu produzieren, im Laufe des Lebens wandelt. Im normalen Alterungsprozess gibt es physiologische Veränderungen, die entscheidend beeinflussen, wie gut wir in unserem Alltag kommunizieren können. Diese komplexen Umstände erschweren die Sprachentwicklungsforschung ebenso wie die begrenzten Zeitspannen der Datenerhebung. Längsschnittstudien sind praktisch unmöglich durchzuführen. Outi Tuomainen arbeitet daher aktuell mit Vergleichsgruppen und greift auf künstliche Kommunikationssituationen zurück, sieht aber Potenzial in neuen Technologien: „Künftig könnte uns die VR (virtuelle Realität) von Nutzen sein. Wir haben in Großbritannien bereits Hilfsmittel wie Apps für Mobiltelefone benutzt, um zu beurteilen, wie Menschen im Alltag ‚natürlich‘ kommunizieren.“

Die Erforschung von Sprachstörungen hat das Verständnis davon, wie Gehirn und Sprache zusammenhängen, bereits stark geprägt. „Doch noch immer verstehen wir die Risikofaktoren bzw. Schutzfunktionen nicht umfassend“, sagt die Wissenschaftlerin. Sie möchte mit ihren Forschungsergebnissen dazu beitragen, den bestmöglichen klinischen Rahmen für die Diagnose und Behandlung von Kindern mit Sprachschwierigkeiten zu finden. „Mein Ziel ist, so genannte ‚Spätsprecher‘, also Kinder, die einen langsameren Spracherwerb haben, ihre Altersgenossen aber später einholen, und solche mit einer SES frühzeitig zu identifizieren und Ihnen eine gezielte Therapie zu ermöglichen.“

Alle neu berufenen Professorinnen und Professoren sind zu finden unter: www.uni-potsdam.de/de/up-entdecken/upaktuell/personalia

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Zwei 2020 „Digitalisierung“ (PDF).