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„So jemanden wollen wir hier nicht“ – Erste Studie zu Hate Speech an deutschen Schulen

Mobbing an Schulen ist real – auch virtuell. | Foto: AdobeStock/Syda Productions
Foto : AdobeStock/Syda Productions
Mobbing an Schulen ist real – auch virtuell.
Hass und Hetze bedrohen das friedliche Zusammenleben in unserer Gesellschaft. Nicht nur im Netz, sondern auch in der analogen Welt. Sie sind Ausdruck von Intoleranz, Ausgrenzung und Verachtung gegenüber ganzen Gruppen der Bevölkerung. Inwieweit auch Schulen davon betroffen sind, untersuchen jetzt die Potsdamer Bildungsforscher Sebastian Wachs und Wilfried Schubarth gemeinsam mit ihrem Cottbuser Kollegen Ludwig Bilz. In der deutschlandweit ersten Studie zu Hate Speech an Schulen wollen sie Risikofaktoren festmachen und aufzeigen, was Lehrende und Lernende dagegen tun können.

Ein Kind kommt neu in eine Klasse. Vor wenigen Monaten erst musste es mit seinen Eltern aus der Heimat fliehen. Niemand im Raum kennt die Gründe, weiß das Geringste über die Geschichte dieser Familie, die Umstände ihrer Flucht. Und doch tönt es aus einer der Bankreihen: „So jemanden wollen wir hier nicht. Meine Mutter hat gesagt, die wollen alle nur Geld.“ „Das hat Botschaftscharakter“, sagt Wilfried Schubarth. „Es ist eine öffentlich geäußerte Meinung im öffentlichen Raum einer Schule.“ In diesem konkreten Fall ging die Hetze online weiter. In der Klasse formierte sich eine rassistische WhatsApp-Gruppe. Ein Fall von Hate Speech!

Es ist nur eines der vielen Beispiele, von denen Lehrkräfte immer häufiger aus dem Schulalltag berichten. Hier wird jemand wegen seiner homosexuellen Neigung diskriminiert, dort wegen einer körperlichen Beeinträchtigung oder einer religiösen Überzeugung. Das, so könnte man meinen, hat es schon immer gegeben. Und es war und ist Aufgabe auch der Schule, erziehend einzugreifen. Aus ihrer viel beachteten Studie zum „Lehrerhandeln bei Gewalt und Mobbing“ wissen Wilfried Schubarth und Ludwig Bilz jedoch, dass dies viel zu selten geschieht. Teils, weil Lehrkräfte bei der Fülle der von ihnen erwarteten Leistungen keine Kraft mehr haben, teils, weil ihnen das Wissen darüber fehlt oder sie die Folgen des Wegschauens unterschätzen.

Mit dem immer stärker werdenden Phänomen der Hate Speech, die eben auch vor der Schultür keinen Halt macht, sei jetzt allerdings eine neue Qualität erreicht, mahnt Wilfried Schubarth. Dabei grenzt er den Begriff von anderen Erscheinungen wie Cybermobbing und verbaler Gewalt ab. „Hate Speech äußert sich in Worten, Bildern und Videos und animiert dazu, jemanden in seiner Würde zu verletzen. Im Unterschied zu Mobbing bezieht sie sich immer auf marginalisierte Gruppen, zum Beispiel Geflüchtete oder Menschen mit Behinderungen“, erklärt sein Kollege Sebastian Wachs. Eine Person könne attackiert werden, stellvertretend für die Gruppe, der sie angehört. Hate Speech enthalte stets eine Botschaft, eine Aufforderung zur Diskriminierung. „Das bedroht die Demokratie und muss im Unterricht behandelt werden“, fordert Wachs.

Themen mit Konfliktpotenzial werden vermieden

Der auf Gewalt im Netz spezialisierte Wissenschaftler hat jetzt gemeinsam mit dem Potsdamer Sozialisationsforscher Wilfried Schubarth und dem Psychologen Ludwig Bilz von der BTU Cottbus-Senftenberg ein sozioökologisches Modell entwickelt, mit dem sie die bundesweit erste empirische Studie zu Hate Speech an deutschen Schulen durchführen. Das Problem wird darin nicht isoliert als Online-Phänomen betrachtet, sondern in seinen Überschneidungen mit dem Schulalltag. Hier vor allem erleben Kinder und Jugendliche ihre Verschiedenheit und daraus resultierende Konflikte. „Die Schule ist deshalb auch der Ort, an dem sie lernen sollten, wie Demokratie und das Zusammenleben in der Gesellschaft funktionieren“, so Schubarth. Doch im Unterricht werde kaum noch über Politik gesprochen. „Vielerorts gibt es eine starke Verunsicherung im Umgang mit der AfD. Themen mit Konfliktpotenzial werden vermieden. Rechtsextremismus entwickelt sich zu einem Tabuthema, obwohl doch die Lehrkräfte gerade hier Haltung beweisen müssten“, kritisiert Schubarth, der sich in zahlreichen Untersuchungen mit der Werte- und Demokratiebildung an deutschen Schulen befasst hat.

Um sich dem Thema Hate Speech an Schulen aus verschiedenen Perspektiven anzunähern, führen die Wissenschaftler derzeit qualitative Interviews mit Lehrkräften sowie Schülerinnen und Schülern in Berlin und Brandenburg. Sie wollen herausfinden, wie sie auf Hassrede reagieren und welche Faktoren ihr Verhalten beeinflussen: Faktoren, die in der eigenen Persönlichkeit, in der Auseinandersetzung mit anderen, im Schulklima oder der Gesellschaft allgemein begründet liegen können.

Bevor sie allerdings mit den Interviews beginnen konnten, bauten sich Hürden auf, mit denen niemand im Team gerechnet hatte. Die Brisanz des Themas komplizierte die Genehmigungen durch das Bildungsministerium, die Schulämter, die Datenschutzbeauftragten und die Ethikkommission. „Was zum Beispiel geschieht, wenn einer Schülerin während eines Interviews bewusst wird, dass sie ein Opfer ist?“, erklärt Schubarth einen berechtigten Einwand. Eine zweite Hemmschwelle hatten die Schulen selbst zu überwinden. „Wer will schon zugeben, dass Hate Speech an der eigenen Einrichtung ein Problem ist? Das ist nicht gut fürs Image“, so der Bildungsforscher, der mit seinen Fragen den Finger in die Wunde legt: Gibt es Gewalt an der Schule? Werden einzelne Personen oder ganze Gruppen diskriminiert und offen angefeindet? Wie gehen die Lehrkräfte damit um? Hat sich das soziale Klima verändert? Darauf ehrlich zu antworten, erfordert Mut und die Einsicht, dass das Problem nicht verschwindet, wenn man die Augen davor verschließt.

„Trump Effekt“ an amerikanischen Schulen

In den USA haben erste Studien zu Hate Speech an Schulen bereits einen „Trump-Effekt“ ausgemacht und einen unmittelbaren Einfluss auf das Miteinander und die Kommunikation messen können, berichtet Sebastian Wachs. In einer von ihm initiierten und geleiteten Untersuchung in acht Ländern wurden 7.000 Jugendliche zwischen zwölf und 18 Jahren nach ihren Erfahrungen und dem Umgang mit Online-Hass gefragt. Rund um den Globus – in Spanien, Zypern und Griechenland genauso wie in Thailand, Indien, Südkorea, den USA und auch in Deutschland berichteten die Jugendlichen davon, im Internet mit Hate Speech konfrontiert zu werden. „Soziale Netzwerke wirken dabei wie Katalysatoren“, sagt Sebastian Wachs. Was früher am Stammtisch posaunt wurde, breche sich jetzt im Internet Bahn. „Es sind wenige Personen, aber die sind sehr laut und völlig enthemmt, geschützt durch die Anonymität des Netzes.“ Im Ergebnis ihrer internationalen Studie fordern die Autoren Programme, die den Jugendlichen Bewältigungsstrategien aufzeigen, Medienkompetenz vermitteln und ihre Selbstbehauptung stärken. Nur so lasse sich negativen Folgen vorbeugen und dem geäußerten Hass offen entgegentreten.

Letztlich aber ist Schule Teil der Gesellschaft. Und so bezieht die Berlin-brandenburgische Studie eben auch gesellschaftliche Faktoren ein: Wer und was bereiten den Nährboden, auf dem Hass gedeiht? Gibt es eine gesellschaftliche Akzeptanz von Gewalt und Diskriminierung? Reproduziert sich dieser Hass in der Schule? Das Forscherteam geht davon aus, dass gerade Kinder und Jugendliche aufgrund ihres Entwicklungsstandes besonders anfällig sind. „Hater generieren Hass mit hoher Emotionalität und krimineller Energie“, weiß Wilfried Schubarth. „Da besteht Ansteckungsgefahr. Wenn Jugendliche Gleichaltrige erleben, die Hass reden, fällt es ihnen leichter mitzumachen. Es gibt ihnen das Gefühl dazuzugehören, sich zu solidarisieren.“

Von Berlin Neukölln bis in die Lausitz

Aus den qualitativen Interviews werden die Wissenschaftler die Instrumente für eine repräsentative Erhebung entwickeln. In den kommenden zwei Jahren sollen damit 2.000 Mädchen und Jungen von der siebten bis zur neunten Klasse aller staatlichen Schulformen befragt werden, zusätzlich rund 500 Lehrerinnen und Lehrer: von Berlin Neukölln und Prenzlauer Berg über Potsdam bis in die Lausitz. Dank der Kooperation mit der BTU wird ein Vergleich von Schulen in Berlin und dem Flächenland Brandenburg möglich. Neben zwei Doktoranden bezieht das Forschungsteam etliche Studierende ein, die im Projekt ihre Masterarbeit schreiben. So fließen die Ergebnisse unmittelbar in die Lehrerbildung ein. Wie nach der Mobbing-Studie sind zudem eine praxisnahe Publikation und Weiterbildungen geplant, damit Lehrkräfte möglichen Hate Speech-Attacken in der Schule wirksam begegnen und so ihrem Erziehungsauftrag auf diesem schwierigen Feld gerecht werden können.

Die Wissenschaftler

Prof. Dr. Wilfried Schubarth studierte Pädagogik und promovierte in Leipzig. Nach der Habilitation in Dresden und wissenschaftlicher Tätigkeit in Greifswald wurde er 2004 zum Professor für Erziehungs- und Sozialisationstheorie an der Universität Potsdam berufen.
E-Mail: wilschubuni-potsdamde

Dr. Sebastian Wachs studierte Erziehungswissenschaften und promovierte in Bremen. Derzeit vertritt er die Professur für Medienbildung mit dem Schwerpunkt schulische Lehr- Lern-Prozesse an der Universität Potsdam.
E-Mail: wachsuni-potsdamde

Prof. Dr. Ludwig Bilz studierte in Halle Psychologie und promovierte in Dresden. Seit 2016 bekleidet er die Professur für Pädagogische Psychologie an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg.

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Eins 2020 „Energie“ (PDF).