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„Energie geht alle an“ – Der Umweltwissenschaftler Johann Lilliestam ist zuversichtlich: Die vollständige Energiewende wird kommen

Prof. Dr. Johann Lilliestam. | Foto: Tobias Hopfgarten
Foto : Tobias Hopfgarten
Prof. Dr. Johann Lilliestam
Die Welt hat Hunger! In rund 20 Jahren wird sie über ein Drittel mehr Energie verschlingen als noch vor fünf Jahren. Und ein Ende ist nicht in Sicht. Gleichzeitig ist der Klimawandel nicht mehr nur ein düsteres Szenario in wissenschaftlichen Modellen, sondern schmerzhafte Realität. Diese Entwicklung dürfte sich, falls überhaupt, nur stoppen lassen, wenn es gelänge, unsere Abhängigkeit von fossilen Energieträgern zu überwinden. Eine vollständige Wende hin zu erneuerbaren Energien muss her und zwar so schnell wie möglich. Aber wie – mit welchen Technologien und politischen Mitteln? Johan Lilliestam forscht zu energiepolitischen Fragen wie diesen. Er meint: Die Wende ist in vollem Gange. Entscheidend ist nun, sie so zu gestalten, dass sie schneller vorankommt.

Prof. Lilliestam wird am 30. Juni im Rahmen der „Ringvorlesung zur Klimakrise“ über „Politik für ein CO2-neutrales Energiesystem“ sprechen.

 

„Energie ist ein Thema, das alle angeht“, sagt der Umweltwissenschaftler. „Sie ist die Voraussetzung unserer modernen Gesellschaft, greift in sämtliche Bereiche. Daher müssen auch alle gemeinsam an der Lösung unseres Energieproblems mitwirken.“ Allen voran die Politik. Denn als Grundlage jeder Volkswirtschaft ist die Versorgung mit Energie ein echtes Politikum. Zudem ist die Energiewirtschaft längst selbst ein Wirtschaftszweig, der weltweit viele Hundert Milliarden Umsatz pro Jahr macht. Wer die Energieversorgung oder die Ressourcen dafür beherrscht, sitze am langen Hebel – kontrolliere ganze Länder, betont der Forscher. Traditionell sind dies die Erdöl und Erdgas fördernden Länder. Doch mit der Energiewende beginne sich dieses Machtverhältnis zu ändern. „Zugang zu erneuerbaren Energien haben alle – Sonne, Wind, Wasser, wenn auch in unterschiedlichem Umfang. Daher verschiebt sich die Macht hin zu den Ländern, die die notwendigen Technologien entwickeln.“

Als Umweltwissenschaftler einen Beitrag leisten

Eine klimawirksame Energiewende schaffen aber ohnehin nur alle gemeinsam. Johan Lilliestam untersucht, wie sich das machen lässt. Er leitet seit 2019 die Gruppe Dynamik der Energiewende am Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) in Potsdam und ist Professor für Energiepolitik an der Universität Potsdam. Das war nicht immer absehbar. Denn begonnen hat er „auf der anderen Seite“: „Anfangs wollte ich mit Atomkraft arbeiten“, sagt er lachend. „Doch das änderte sich während meines Physikstudiums. 2002 besuchte ich mit einer Seminargruppe ein Atomkraftwerk. Man führte uns herum, stellte alles als sauber und emissionsfrei vor. Auf meine Frage, wozu der Schornstein da sei, hieß es nur: ‚Ach, da entlüften wir die radioaktiven Gase. Aber nur nachts. Kein Problem.‘ Da dachte ich: Diese Technologie ergibt gar keinen Sinn.“

Lilliestam wechselte das Fach und studierte Umweltwissenschaften in Göteborg. „Mein Versuch, einen kleinen Beitrag zu leisten.“ Anschließend ging er nach Deutschland und schloss an der Freien Universität Berlin einen Master in Umweltmanagement an. „Um mit den Lösungen etwas anfangen zu können“, sagt er. Ab 2007 forschte er am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) und promovierte 2013 an der Central European University in Budapest. „Ein toller Ort, wo sich damals Ost und West begegneten.“ Schon in seiner Dissertation widmete er sich der unvermeidbaren Verknüpfung von Politik, Wirtschaft und Forschung im Energiesektor – am Beispiel von Sonnenwärmekraftwerken. Diese konkurrierten damals mit der noch nicht ausgereiften Photovoltaik um den Status der besten Technologie zur Nutzung der Sonnenenergie. Am effizientesten sind diese naturgemäß in sonnenreichen Regionen, weshalb man auch von „Desertec“ spricht. Lilliestam ging der Frage nach, welche Probleme und Risiken sich für den europäischen Strommarkt ergeben würden, wenn dieser große Mengen Strom von Sonnenwärmekraftwerken importiert, die in Nordafrika entstehen könnten. Was passiert, wenn Terroristen ein solches Kraftwerk oder die Stromtrassen zerstören – bricht dann das europäische Netz zusammen? Und wird Europa vielleicht erpressbar, wenn es sich zu sehr von Stromimporten abhängig macht? „Ich konnte zeigen, dass solche Stromimporte wenige Risiken bergen – solange es nicht zu viele sind. Die Versorgung muss so aufgebaut sein, dass immer ein Teil ohne gravierende Folgen wegbrechen kann.“

Doch die Technologieentwicklung nahm einen anderen Weg. Da Solarzellen immer besser und billiger wurden, gerieten Sonnenwärmekraftwerke aufs Abstellgleis. „Die Erkenntnis: Es gibt offenbar keinen Platz für zwei Solartechnologien“, so Lilliestam, „vor allem in den Köpfen der Policymaker.“

Diese Konkurrenz politischer Ziele und Diskurse untersucht er in seinem aktuellen Projekt TRIPOD, das von der Europäischen Union gefördert wird. Konkret geht es um die „Wende zu einem Stromsystem aus erneuerbaren Quellen und ihre Wechselwirkungen mit anderen politischen Zielen“. Der Fokus richtet sich dabei auf die europäischen Staaten. Diese haben meist sehr unterschiedliche Ausgangspunkte, Möglichkeiten und Strategien ihrer Energiepolitik. Zudem bewegt sich Politik in Europa stets zwischen den einzelnen Ländern und der Europäischen Kommission in Brüssel. Letztere hat beschlossen, die Kohlenstoffemissionen im Energiesektor bis 2050 um 93 bis 99 Prozent zu senken. Zugleich hat die EU weitere ehrgeizige Ziele. So sollen die Energieeffizienz gesteigert und die Nachfrage gesenkt werden. Außerdem beabsichtigt sie, den Markt zu liberalisieren – mit einem freien Wettbewerb für erneuerbare Energien – und gleichzeitig die Energiepolitik, die Stromnetze und den Markt zu europäisieren. Gemeinsam mit seinem Team will Lilliestam herausfinden, wie diese verschiedenen politischen Ziele aufeinander wirken, wo es Konflikte gibt, wie diese gelöst werden können – und welche Auswirkungen all dies auf das zentrale Ziel hat: die vollständige Energiewende.

Die Technologie ist bereit für die Energiewende

„Derzeit reden viele über die Energiewende – Physiker, Klimaforscher, Geowissenschaftler – und betonen, wie sehr ihr Ausbleiben den Klimawandel befördert“, so Lilliestam. „Aus technologischer Sicht würde ich sagen: Die Wende läuft ganz gut.“ Fraglos würden die Emissionen global betrachtet nach wie vor steigen. Doch zwei entscheidende Dinge hätten sich geändert: Zum einen seien viele Technologien zur Gewinnung erneuerbarer Energien inzwischen nicht nur besser, sondern auch billiger. Damit einhergehend nehme zum anderen der Anteil an Investitionen in erneuerbare Energien überall stark zu. „In Europa gehen inzwischen 95 Prozent der Investitionen für die Stromerzeugung in erneuerbare Energien. Weltweit sind es immerhin noch 70 Prozent“, so der Forscher. „Erneuerbare Energien sind so günstig, dass sie das System quasi allein ‚sprengen‘. Da es fast keine neuen Investitionen mehr in alte Strukturen gibt, wird das System ökonomisch kippen.“

Die Technologie ist also bereit für die Wende. Doch es gibt auch Hürden. So seien vor allem die Infrastruktur und der Markt noch nicht an die Mechanismen der erneuerbaren Energie angepasst. Solarenergie gibt es nur am Tag bzw. zu sonnenreichen Stunden, während der Bedarf tagesbedingten Stoßzeiten folgt. Windenergie wiederum wird in großen Mengen in windreichen Regionen gewonnen. Aber wie gelangt der Strom anschließend in die energiehungrigen Ballungsräume – also etwa von der Nordsee nach Bayern? Effiziente Zwischenspeicher könnten das erste Problem lösen, ein Netzausbau das zweite. Auch einen Handel mit Strom auf tieferen Ebenen – von der Solaranlage auf dem Einfamilienhaus an das lokale Stromnetz oder auch nur an den Nachbarn – sieht das Netz bislang nicht vor. Ein zweites großes Problem sind die Mechanismen des Strommarktes: Da Strom aus erneuerbaren Energien nur zu bestimmten Zeiten verfügbar ist, dann aber im Überfluss, würde sein Preis auf dem freien Markt unwirtschaftlich stark schwanken. Hier müsste die Politik eingreifen. „Der Wandel, den die Politik hier anschieben muss, ist sehr umfassend. Das wird viel politische Kraft kosten.“

Was fehlt, ist der politische Wille

Aber genau das wird mancherorts zum Problem. „Es mangelt an Verständnis dafür, wie radikal das Ziel des Pariser Klimaabkommens eigentlich ist – und was nötig ist, um es zu erreichen.“ So müssten die Kohlenstoffemissionen um 100 auf null Prozent reduziert werden. „Die EU hat das verstanden, Deutschland nicht – hierzulande meint man noch, 80 bis 90 Prozent seien genug. Dann kann man nämlich noch die Gaskraftwerke behalten.“

Bislang gebe es nur wenige Akteure, die schon jetzt auf 100 Prozent erneuerbare Energien setzten. Seit Juni 2019 sind Johan Lilliestam und sein Team Teil des „Laboratoriums für die nachhaltige Energiewende“ (SENTINEL), dessen Aufgabe es ist, politischen Institutionen und Akteuren die nötigen Informationen und Modelle zur Verfügung zu stellen, damit diese die richtigen Entscheidungen für eine erfolgreiche Energiewende treffen können. Die an SENTINEL beteiligten Forschungsgruppen des IASS und anderer Einrichtungen des Konsortiums entwickeln Modelle, in denen die technologischen, geografischen, gesellschaftlichen und politischen Details, die für die Umgestaltung eines Energiesystems wichtig sein können, verständlich zusammengestellt sind. „Entscheidend ist, dass Energiemodelle speziell für erneuerbare Energiesysteme geschaffen werden, statt sich mit einer Adaption zu begnügen, die für die Integration eines wachsenden Anteils erneuerbarer Energien in fossile Systeme sorgen soll.“ Ihre Modelle sowie alle Daten, die ihnen zugrunde liegen, sollen auf einer Online-Plattform zur Verfügung stehen. Schon jetzt findet man im Netz eine interaktive Europakarte, auf der sich – bis hinunter auf Landkreisgröße – nachschauen lässt, welche Regionen in der Lage wären, ihren Strombedarf ausschließlich mithilfe erneuerbarer Energien zu decken. Ein Blick darauf zeigt: Potsdam könnte sich tatsächlich selbst versorgen. Berlin, wie die meisten europäischen Großstädte, nicht.

In Johan Lilliestams Kopf ist auf jeden Fall Platz für viel Energie. So hat er trotz seines Fokus auf den europäischen Energiemarkt mit seinem Faible für Photovoltaik die CSP-Technologie nicht aus den Augen verloren. In einem weiteren Projekt arbeitet er daran, ganz konkrete Ideen und Vorschläge für die Politik zu entwickeln, damit „Strom aus konzentrierter Solarthermie“ (MUSTEC) doch noch den Weg nach Europa findet. Immerhin wäre diese möglicherweise in der Lage, eine Versorgungslücke zu füllen: Wenn sich die Photovoltaik „zur Nachtruhe legt“, könnte ein CSP-System die tagsüber aufgenommene Energie ins Netz einspeisen.

Der Wissenschaftler

Prof. Dr. Johan Lilliestam studierte Umweltwissenschaften in Göteborg und Umweltmanagement an der Freien Universität Berlin. Seit April 2019 leitet er die Gruppe Dynamik der Energiewende am Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) in Potsdam und ist Professor für Energiepolitik an der Universität Potsdam.
E-Mail: johan.lilliestamiass-potsdamde

Die Projekte

Die Wende zu einem erneuerbaren Stromsystem und ihre Wechselwirkungen mit anderen politischen Zielen (TRIPOD)
Dauer: 08/2017 – 07/2022

Das Laboratorium für die nachhaltige Energiewende (SENTINEL)
Dauer: 06/2019 – 05/2022
Zur interaktiven Karte „Possibility for Electricity Autarky“: https://timtroendle.github.io/possibility-forelectricity-autarky-map/

Marktaufnahme von Strom aus konzentrierter Solarthermie durch Kooperation (MUSTEC)
Dauer: 10/2017 – 09/2020

SONNENWÄRMEKRAFTWERK / CSP-SYSTEME
Sonnenwärmekraftwerke bündeln das Sonnenlicht mithilfe von Spiegeln auf eine kleine Fläche. Im Englischen werden sie auch Concentrated Solar Power Systems, kurz CSP Systems, genannt. Sie sind relativ effizient und wirtschaftlich – aber erst ab einer bestimmten Größe und vor allem nur dort, wo ganzjährig viel Sonne scheint.

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Eins 2020 „Energie“ (PDF).

 

Prof. Lilliestam wird am 30. Juni im Rahmen der „Ringvorlesung zur Klimakrise“ über „Politik für ein CO2-neutrales Energiesystem“ sprechen.