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Der märkische Eulenspiegel – Warum ein brandenburgischer Schalk eine literarische Gattung auf den Kopf stellen könnte

Titelblatt einer Ausgabe der Clauert-Geschichten von 1673. | Foto: Kaya Neutzer
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Titelblatt einer Ausgabe der Clauert-Geschichten von 1673. | Foto: Kaya Neutzer

Schlitzohren, die anderen Streiche spielen, (fast) alle zum Lachen bringen und damit auch noch durchkommen – die kennt wohl jeder. Dass damit aber nicht immer Till Eulenspiegel gemeint ist, auch wenn er den Schwankroman gewissermaßen als Symbolcharakter beherrscht, dürfte schon weniger offensichtlich sein. Die Germanistin Sina Kobbe forscht am Institut für Germanistik zu dem heute eher unbekannten Possenreißer Hans Clauert, der im 16. Jahrhundert mitten in Brandenburg seine Späße getrieben haben soll. Sie ist sich sicher: Ihn aus der Vergessenheit zu holen, könnte das Bild des Schwankromans grundlegend verändern.

Er lügt, verulkt, betrügt, foppt, stiehlt und neckt. Die Rede ist von Hans Clauert. Doch kaum einer weiß es. Denn Clauert steht im Schatten des allgegenwärtigen Till Eulenspiegel, dem er seinen Spitznamen – als „märkischer Eulenspiegel“ – und damit gewissermaßen sogar seinen schmalen heutigen Ruhm verdankt. Den Prototypen des umherziehenden Schalks kennt man fast überall. Seit der Erstveröffentlichung des „Dil Ulenspiegel“ 1510 treibt er in deutschen Landen sein Unwesen. Doch längst nicht mehr nur dort: Die insgesamt 96 Geschichten haben sich im Laufe der Jahrhunderte zum Exportschlager entwickelt und wurden in rund 280 Sprachen übersetzt.

„Besser“ als das Original?

Dabei ist es gut möglich, dass der Till Eulenspiegel, den wir heute kennen – in einer der Dutzenden Zusammenstellungen und Neuerzählungen von modernen Autoren wie Erich Kästner –, viel mehr mit Hans Clauert gemeinsam hat als mit dem ursprünglichen „Ulenspiegel“. Denn der trieb es um einiges ärger als heutige Sammlungen von Eulenspiegel-Geschichten es uns weismachen wollen. „Der originale Ulenspiegel ist oft grundlos böse und es kommen in den Geschichten durchaus Menschen ernsthaft zu Schaden“, sagt Sina Kobbe. Die Germanistin hat den Schwankroman als Forschungsfeld für sich entdeckt. „Hans Clauert spielt, wie Ulenspiegel, seinen Mitmenschen Streiche und er hat wie dieser stets seinen eigenen Vorteil im Blick, vor allem wenn es um sein leibliches Wohl geht. Aber was er tut, ist immer harmlos, mitunter banal – und niemandem wird wirklich geschadet.“

Dementsprechend ist Clauert gesellschaftlich ganz anders verortet als sein prominenteres Gegenüber: Eulenspiegel ist ein Außenseiter, ein Umherziehender ohne Verpflichtungen, den es weiterzieht, der aber auch weiter muss, weil er überall verbrannte Erde hinterlässt. Er gibt sich als ein anderer aus, schlüpft in Rollen und stellt sich bei jemandem in Dienst, wo er so lange Unfug treibt, bis er gezwungen ist das Weite zu suchen. Anders Clauert: Er stammt aus bürgerlichen Verhältnissen, ist verheiratet, hat einen Stiefsohn und einen Beruf, er ist Kleinschmied, später Händler. Und er ist in seiner Heimatregion, dem Trebbiner Land, verwurzelt. Die Mehrzahl der 34 Geschichten des Schwankromans spielt dort. Alle kennen ihn, alle lieben ihn, wird bereits in der Vorrede konstatiert. „Die meisten der Geschichten von Clauerts Streichen enden mit einem gemeinschaftsstiftenden Lachen.“

Wie jene, als Clauert von seiner eigenen Frau vor Gericht gezerrt wird. Das Ehepaar verkracht sich dermaßen, dass sie ihn beim Kurfürsten verklagt. Der notorische Scherzkeks muss also beim Landesvater in der Hauptstadt Berlin vorsprechen und dieser gibt ihm einen Brief mit auf die Heimreise, den er dem städtischen Hauptmann übergeben soll. Was Clauert nicht weiß: Der Brief ist der Haftbefehl, der dafür sorgen soll, dass er im Gefängnis landet. Doch der ahnungslose Bote riecht den Braten. Da er den Brief selbst nicht entziffern kann, lässt er ihn sich vorlesen – und wirft das unheilvolle Dokument kurzerhand in die Spree. Einige Zeit später weilt der Kurfürst in Trebbin und fragt den Hauptmann, wie gut es Clauert im Kerker gefalle. Da dieser von nichts weiß, lässt der Fürst den Schalk rufen und stellt ihn zur Rede. Der antwortet – wahrheitsgemäß –, er habe den Brief noch in Berlin in die Spree geworfen, aber nur, damit dieser ihm nach Trebbin vorauseile und die Botschaft schnellstmöglich überbringe. Die Erklärung gefällt dem Kurfürsten derart gut, dass er herzhaft lacht – und Clauert fortan unter seinen Schutz stellt.

Im Gegensatz zu Eulenspiegel, der die Obrigkeit stets fürchten muss, spielt Clauert „seinem“ Fürsten und dem Trebbiner Hauptmann Streiche, ohne dafür je behelligt zu werden, ja mitunter agiert er sogar in ihrem Auftrag. Obwohl bürgerlich, sitzt Clauert ein Schalk im Nacken, der ihn antreibt. „Er schlüpft in die Rolle des Hofnarren, ohne ein Narr zu sein“, so Sina Kobbe.

Die Geschichten um Clauert erzählen dessen Leben – von der Geburt bis zum Grab. Schon während seiner Ausbildung offenbart sich der Witzbold, spielt seinem Meister einen Streich. Er geht auf Wanderschaft, die ihn bis nach Ungarn an den Hof eines Grafen bringt. Erst die herannahenden Türken vertreiben ihn wieder. Anschließend führt Clauert ein Lotterleben mit Glücksspiel und Alkohol, er verzockt sein Geld. Erst dann kehrt er in die Heimat zurück, wird „ehelich“ und sesshaft. Die Partnerschaft ist keineswegs harmonisch, aber sie hält bis zum Schluss. Seine Frau erfüllt ihm auch den letzten Wunsch und lässt ihn bei den Städtern begraben, nicht bei den Bauern.

Als regionale Kopie wiederentdeckt

Aber hat Clauert eigentlich wirklich gelebt? Auszuschließen sei es nicht, sagt Sina Kobbe, dass es in Trebbin einen wie Clauert gab, der närrisch tat, sich aber bauernschlau durchs Leben scherzte. Es sei zu vermuten, dass in vielen Städten solche lustigen Kumpane zu finden waren. „Doch dass sie ein eigenes literarisches Denkmal erhielten, kommt nicht so oft vor“, sagt die Germanistin. „Von den meisten ist der Name untergegangen – und sie ‚wurden‘ dann zu Eulenspiegel bzw. ihre Geschichten wurden ihm zugeschrieben.“

Anders Hans Clauert, dessen Streiche ihn zur regionalen literarischen Berühmtheit machten – dank Bartholomäus Krüger. Der Stadtschreiber von Trebbin veröffentlichte 1587 die erste Ausgabe von „Hans Clauerts werklichen Historien“, acht weitere sollten bis zum 17. Jahrhundert folgen. Neben den offiziellen Versionen dürfte es zahlreiche informelle gegeben haben, sogenannte Jahrmarktdrucke, die vielfach verkauft, aber nicht überliefert wurden. Durchaus eine Erfolgsgeschichte, sagt Sina Kobbe. „Clauert war zeitgenössisch sehr bekannt. Die Ausgabendichte zeigt, dass seine Geschichten gut ankamen und das Buch kein Ladenhüter war.“ Dennoch geriet er irgendwann in Vergessenheit und wurde erst 1850 wiederentdeckt, neu aufgelegt – und erstmals mit dem Zusatz „märkischer Eulenspiegel“ versehen. Ein Marketingtrick? „Auf jeden Fall eine Ökonomisierung.“ Inzwischen ist der Spitzname kaum mehr wegzudenken. Spätere Adaptionen, etwa von Klabund oder Johannes Bobrowski, nahmen den Vergleich stets auf.

Auch wissenschaftlich wurde das Buch meist im Fahrwasser der Eulenspiegel-Forschung betrachtet. Sina Kobbe will das ändern. Dafür will sie die Clauert- Geschichten genau unter die Lupe nehmen. Zunächst hat sie sich an die Fersen der diversen Buchausgaben geheftet. Die Erstausgabe wurde zum Glück inzwischen digitalisiert und war recht einfach zu beschaffen, bei anderen Drucken ist das schwieriger. Ihre Spuren führen nach Polen und Russland. Vier der neun Ausgaben hat Kobbe schon ausfindig gemacht.

„Ich untersuche die Figurenkonstellation, aber auch die Bezüge zur Regionalhistorie im Text sowie die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte des Romans.“ Am Ende soll nichts weniger als eine umfassende literaturgeschichtliche Einordnung des Werkes stehen. Besonders wichtig ist ihr dabei herauszuarbeiten, wie sehr sich Clauert – als Figur wie als Werk – vom „Ulenspiegel“ abhebt. „Es gibt zwei wesentliche Unterschiede: Zum einen ist Clauert anders als Ulenspiegel vergleichsweise harmlos, seine Streiche nicht böse.“ Zum anderen distanziere sich der Autor von seinem Scherzbold. Bartholomäus Krüger erteilt diesem zwar die Lizenz zum Streichespielen, heißt sie aber nicht gut. Sämtliche Texte schließen mit einer gereimten „Moralisatio“ ab – einer Art Deutung und Beurteilung der Handlung –, die dem Leser deutlich signalisiert: Das ist zwar lustig, aber unmoralisch. Und sollte auf keinen Fall nachgeahmt werden!

Gattungsgeschichte neu schreiben

Mit ihrer Arbeit will Sina Kobbe nicht nur Hans Clauert aus dem großen Schatten von Till Eulenspiegel holen. Sie ist sich sicher, dass ihre Forschung das Bild vom Schwankroman insgesamt verändern könnte. „Eine der berühmtesten Monografien zum Schwank heißt ‚Die Freude am Bösen‘. Für Eulenspiegel mag dieses Urteil zutreffen, für Clauert aber nicht. Insofern hoffe ich, durch meine Analyse des vernachlässigten Clauert eine Neubewertung der Gattung einzuleiten.“

Sina Kobbes eigener Weg in die Forschung war keineswegs gradlinig. Doch als sie für den Abschluss ihres Lehramtsstudiums in Mannheim an ihrer Examensarbeit schrieb, stellte sie fest, dass es ihr liegt, in Bibliotheken und Archiven über Folianten und Akten zu brüten. Als sie dann noch in einer der letzten Vorlesungen erstmals genauere Bekanntschaft von Schwankromanen machte, „funkte“ es. Dabei hat der Schwankroman in der Literaturgeschichte und -wissenschaft selbst nicht unbedingt den besten Ruf. „Die Texte galten lange als unliterarisch. Es sind eben Alltagsgeschichten, meist wenig fein, eher derb, selbst die Illustrationen: Nicht wenige Holzschnitte im ‚Ulenspiegel‘ zeigen Kothaufen.“ Sina Kobbe stört das nicht: „Die Gattung gefällt mir gut. Sie ist volksnah und witzig – und bricht mit dem gängigen Bild vom spießigen Mittelalter.“

Dass auf ihrer Mission, dem „märkischen Eulenspiegel“ Hans Clawert zu angemessener Bekanntheit zu verhelfen, noch einige Arbeit vor ihr liegt, hat die junge Germanistin schon kurz nach ihrem Wechsel nach Potsdam gemerkt: Gleich in ihrem ersten Semester an der Universität Potsdam, wo sie derzeit bei Prof. Dr. Katharina Philipowski und Prof. Dr. Stefanie Stockhorst ihre Doktorarbeit schreibt, bot Sina Kobbe ein Schwankroman- Seminar an. „Ich dachte, hier in Potsdam kennt jeder den märkischen Schwankhelden Hans Clauert. Da habe ich mich geirrt. Doch das werde ich ändern!“

Zumindest in Clauerts Heimatstadt Trebbin ist das gar nicht mehr nötig. Stolz bezeichnet sich der Ort als Clauert-Stadt und verteilt den Namen reichlich: an die Bibliothek, Gaststätten, Wanderwege. Eine Clauert-Figur steht auf dem Marktplatz und der Mann der stellvertretenden Bürgermeisterin streift mehrmals im Jahr das passende Kostüm über, um den vielleicht lustigsten Sohn der Stadt wieder auferstehen zu lassen.

Über den Autor des „Hans Clauert“, Bartholomäus Krüger, ist nur wenig bekannt. Das Meiste davon hat er selbst beigesteuert – in den Vorworten zu den diversen Auflagen seines Bestsellers. An beurkundeten Dokumenten zu ihm findet sich nur eine Immatrikulationsbescheinigung der Universität Wittenberg. Krüger war also ein Intellektueller, was auch sein „Clauert“ belegt: Der Autor bezieht sich auf Rechtsverordnungen, ist historisch bewandert. Und er kannte sich rund um Trebbin aus, was dafür spricht, dass er aus der Gegend stammte, zumindest aber dort lebte. Laut eigener Auskunft war er dort Stadtschreiber und Organist, also kirchlich aktiv. Das merkt man seinen Texten auch an, in denen er Unterhaltung mit der Vermittlung seiner religiös geprägten Gedanken verbindet. Ob Hans Clauert autobiografisch angelegt ist oder nicht, lässt sich heute nicht mehr wirklich bestimmen.

Schwankromane bilden eine kleine literarische Gattung mit langer Tradition, denn sie waren vor allem vom 13. bis 16. Jahrhundert weit verbreitet. Ein Schwank – der sich vom mittelhochdeutschen „swanc“ ableitet, was so viel wie „lustiger Einfall“ bedeutet – ist eine kurze, volksnahe Erzählung. Schwänke sind meist derb-heiter und wurden oft in größerer Zahl zu Schwankbüchern zusammengefasst. Zu den bekanntesten Helden der Gattung zählen der Pfaffe Amis, der Pfaffe vom Kalenberg, Neithart Fuchs und die Schildbürger – und natürlich Till Eulenspiegel.

Die Wissenschaftlerin

Sina Katharina Kobbe studierte an der Universität Mannheim die Fächer Deutsch, Geschichte und Philosophie/Ethik für das Lehramt an Gymnasien. Seit 2017 ist sie Doktorandin bei Prof. Dr. Katharina Philipowski. Als diese 2018 auf die Potsdamer Professur für Germanistische Mediävistik wechselte, kam auch Sina Kobbe mit nach Brandenburg.
E-Mail: kobbeuni-potsdamde

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Zwei 2019 „Daten“.

Veröffentlicht

Online-Redaktion

Sabine Schwarz