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Wechselspiele der Natur – Wie Artenvielfalt und ökologische Dynamik zusammenhängen

Rädertierchen
Foto : AG Ökologie und Ökosystemmodellierung
Rädertierchen

Weltweit geht sowohl an Land als auch im Wasser die Anzahl vorhandener Arten zurück. Allein in Deutschland gelten ein Viertel der Pflanzen und ein Drittel aller Tierarten als gefährdet. Gründe dafür gibt es viele. Dazu gehört die ansteigende Weltbevölkerung, die dazu führt, dass wichtige Lebensräume von Organismen verschwinden, aber auch ein sich wandelndes Klima. Mehr und mehr fällt es Populationen und Lebensgemeinschaften schwer, sich an die sich verändernden Klima- und Umweltverhältnisse anzupassen. Die Wissenschaft, aber auch Politik und Gesellschaft, sind gefordert, Lösungen zu finden, um den Verlust an Biodiversität zu stoppen. Das DFG-geförderte Schwerpunktprogramm (SPP) „DynaTrait“ will dazu beitragen. Es untersucht die Dynamik in aquatischen Ökosystemen und bisher wenig beachtete Rückkoppelungsprozesse. Eine zentrale Rolle spielen die funktionellen Eigenschaften von Tieren und Pflanzen, die bestimmen, wie gut Individuen auf neue Umweltbedingungen reagieren können.

In der Klimakammer herrschen 22 Grad. Es ist warm – und offensichtlich genau die richtige Temperatur für die Chemostaten, die hier stehen. Promovendin Svenja Schälicke erklärt, was in den Behältern aus Glas vor sich geht. Die junge Frau forscht in einem Teilprojekt des SPP. Sie geht dabei der Frage nach, wie sich die Nahrungsqualität auf trophische Interaktionen auswirkt und nimmt insbesondere die Rolle essenzieller biochemischer Nährstoffe in den Blick. „Wir untersuchen in den Chemostatexperimenten, wie sich Populationen verschiedener Algenarten und Rädertierchen über einen bestimmten Zeitraum entwickeln“, erklärt sie. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beobachten sogenannte Räuber-Beute-Zyklen, die durch das Fraßverhalten der Tiere sowie ihr Wachstum und das der Algen entstehen. Fraß und Wachstum der Rädertierchen werden wiederum von zwei Faktoren bestimmt: der Menge und der Qualität der vorhandenen Algen.

Beides können Svenja Schälicke und ihre Kollegen von außen beeinflussen. So verändert sich die Qualität der Nahrung, wenn essenzielle Omega-3 Fettsäuren und Phytosterole hinzukommen. Die Folge: Die normalerweise auftretenden Räuber-Beute-Zyklen zwischen den Algen und den Rädertierchen verlaufen plötzlich anders. Es sind komplexe Prozesse, die in den Chemostaten stattfinden. Um sie besser zu verstehen, gibt es zusätzliche Experimente im Labor. „Mithilfe dieser kontrollierten Populationswachstums- und Fraßexperimente untersuchen wir, wie vor allem Qualitätsmerkmale der als Nahrung dienenden Algen das Wachstum der Tiere fördern oder hemmen und damit für die zeitlichen Schwingungen der Populationsgrößen in den Chemostaten sorgen“, sagt die Nachwuchswissenschaftlerin, die rund um die Chemostatexperimente viel Detailarbeit leisten muss.
Parallel zu diesen bewältigt das Projektteam theoretische Schwerstarbeit: Was innerhalb der Nahrungsnetze passieren könnte, wird zunächst in mathematischen Modellen im Computer simuliert. „Dafür“, so Svenja Schälicke, „benötigen wir allerdings zuerst die Ergebnisse aus den Populationsexperimenten, die im Labor gewonnen werden, also zum Beispiel die Wachstumsraten der Tiere bei verschiedenen Algenmengen und Nährstoffzusammensetzungen.“ 
Die Modelle, die ihr Mitpromovend Michael Raatz genauer analysiert, sagen voraus, wie sich die Populationen über die Zeit entwickeln. Im Moment scheint es sehr wahrscheinlich, dass eine Qualitätsvielfalt der Algen eine Koexistenz mehrerer Algenarten mit den Rädertierchen bewirkt.

Schon jetzt hat sich die Mühe in Theorie und Praxis gelohnt. Erste Ergebnisse der Forschungen zeigen, dass das Populationswachstum der Rädertierchen davon abhängt, welche Algenart diese bekommen. Die individuellen Nährstoffeigenschaften der Algen spielen dabei eine ganz entscheidende Rolle. Zudem fand das Team heraus, dass verschiedene Stämme oder Genotypen derselben Rädertierart unterschiedlich auf die Qualität der Nahrung reagieren. Offensichtlich haben auch diese Kleinstlebewesen verschiedene Ansprüche. 

Das Teilprojekt dauert noch bis Ende 2018 an. Aktuell testen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zwei Algen unterschiedlicher biochemischer Qualität und eine Rädertierchenart in den Chemostaten. Je nachdem, wie sich die Quantität der Beutearten entwickelt und damit ihre Qualität variiert, wird sich die Räuberpopulation entfalten. „Im besten Fall entstehen gleichmäßige Räuber-Beute-Zyklen“, schätzt Svenja Schälicke.
PD Dr. Alexander Wacker sieht das Projekt auf gutem Weg. Er leitet das Team, das neben der Modellierung auch in Laboren und im Freiland forscht. „Ziel des Projekts ist es, nachgewiesene Effekte von Nahrungsmittelqualität zusammenzubringen mit jüngsten Ansätzen von Merkmalsvariationen bei Räubern und Beute“, fasst er zusammen. Das Team will wissen, wie Nahrung Merkmale in beiden Populationen verändern und komplexe Interaktionen zwischen den Gruppen beeinflussen kann. Noch hat die Wissenschaft die Rückkopplungs-Schleifen zwischen den trophischen Ebenen nicht ausreichend verstanden. „Dabei ist das entscheidend, um vorhersagen zu können, wie Populationen und Nahrungsnetze auf sich verändernde Umweltbedingungen reagieren“, betont Alexander Wacker.

Fressen und gefressen werden

Was hinter den einzelnen Teilprojekten des SPP steckt, erklärt Ursula Gaedke im Büro nebenan. Die Professorin für Ökologie und Ökosystemmodellierung leitet das SPP. „Wir versuchen, die Rückkopplung zwischen der Vielfalt funktioneller Eigenschaften und der Dynamik der Biomassen zu verstehen“, sagt sie. Die Natur biete ein Wechselspiel. Im Nahrungsnetz passen sich demnach Organismen unter Druck an. Ändert sich zum Beispiel das Fraßverhalten der Räuber, hat dies Auswirkungen auf die Beutepopulation. „Das ist ein sehr komplexes Gefüge“, so Ursula Gaedke. „Unser Schwerpunktprogramm steht vor der großen Aufgabe, das auseinanderzudividieren.“ Wie kompliziert die einzelnen Prozesse sind, bringt sie in ein Bild: Gibt es in einem Gewässer viele Kleinkrebse oder Wasserflöhe, verringert sich die Zahl der fressbaren Algen. Diese beginnen, sich zu schützen, indem sie sich zu Kolonien oder langen Fäden zusammenschließen oder auch kleine Stacheln bilden. Der Beutegreifer reagiert darauf. Er verändert sein eigenes Verhalten oder Wachstum. „Das hat enorme Auswirkungen auf die Biomasse, sowohl bei den Beutetieren als auch bei den Räubern.“ Und der Prozess ist damit nicht beendet. Hat der Beutegreifer die Beutepopulation verändert, bewegt sich Letztere wieder: Es werden weniger Kolonien gebildet, das Spiel beginnt von vorn.
Das alles gibt es aber nicht umsonst. Stacheln auszubilden etwa, kostet Energie. „Wir haben eine Zwickmühle zwischen Verteidigung und Wachstum. Wird mehr in Verteidigung investiert, wachsen die Algen langsamer – mit Folgen für die Biomasse, die abnimmt, und auch die Ökosystemdienstleistungen“, erklärt die erfahrene Biologin. Im SPP schauen sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Organismen auf beiden Seiten genauer an. Sie untersuchen, wie unterschiedlich Beute und Räuber sind, welche Kosten sie auf sich nehmen, wie schnell sie sich anpassen können – und zwar über viele Generationen. Mikroorganismen eignen sich hierfür besonders gut. An ihnen können die Forschenden dynamische Prozesse in schnellen Zyklen nachvollziehen. Bei Wasserflöhen etwa sind Veränderungen über die Generationen bereits nach acht, bei Rädertierchen sogar schon nach drei bis vier Tagen zu sehen. 

Künftig sind komplexe Managementmodelle nötig

Ursula Gaedke betont, wie wichtig Modelle für solche Forschungsprojekte sind. „Idealerweise erstellen wir zunächst ein Modell, um ein besseres Verständnis des Systems zu bekommen“, erklärt sie das Vorgehen. Erst nachdem dieses für die spezifischen Bedingungen durchgespielt wurde, werden aufwendige Experimente durchgeführt. Oft erfolgt dies durch andere Forschungsgruppen deutschlandweit, die in jahrelanger Arbeit Kulturen und Versuchsaufbauten für jene Experimente etablieren.
Vor Ursula Gaedke und ihrem Team steht eine gewaltige Aufgabe, die sie weder allein noch kurzfristig lösen können. Ziel ist es, Managementmodelle etwa für Ozeane zu entwickeln. „Wir brauchen Modelle, die zeigen, wie die Prozesse ablaufen, auch wenn sich die Umweltbedingungen ändern“, macht Dr. Alice Boit klar. Sie ist Forschungskoordinatorin im SPP. „Hier liegen bislang unsere Grenzen. Wir können noch nicht sagen, wie das Plankton der Ozeane in 100 Jahren aussieht.“ Die Politik aber braucht Entscheidungsgrundlagen. „Dazu werden modulare Modelle benötigt, die man auf ein bestimmtes System anwenden kann und die eine gewisse Übertragbarkeit ermöglichen“, stellt Alice Boit fest. Das Spezifische in eine allgemeine Form zu bringen, sei der Knackpunkt.
Noch liegt viel Arbeit vor den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, bis das geschafft ist. Aber sie wissen, dass die Zeit drängt. „Wir müssen den Politikern mit unseren Mitteln helfen, damit sie Entscheidungen treffen können, die wichtiger denn je für den Erhalt unserer Ökosysteme sind“, unterstreicht Ursula Gaedke. „Denn eine schwindende Biodiversität bedeutet eine sinkende Anpassungsfähigkeit. Das wiederum macht das System anfälliger für Klimaschwankungen. Es sind zwei sich gegenseitig verstärkende Prozesse, die da zusammenkommen.“

Die Wissenschaftler

Prof. Dr. Ursula Gaedke studierte Biologie und Mathematik in Oldenburg, Texel und Oxford. 1988 promovierte sie in Ökologischer Modellierung in Oldenburg. 1995 folgte die Habilitation auf dem Gebiet der Analyse und Modellierung pelagischer Nahrungsnetze an der Universität Konstanz. Seit 1999 ist sie Professorin für Ökologie und Ökosystem-Modellierung an der Universität Potsdam.
gaedkeuni-potsdamde

Dr. Alice Boit studierte Biologie in Berlin und legte in Bremen den Master of Science in Digital Media ab. Sie hat 2012 an der Universität Potsdam auf dem Gebiet Ökosystemmodellierung promoviert. Die Wissenschaftlerin ist Forschungskoordinatorin im DFG-Schwerpunktprogramm DynaTrait und zugleich wissenschaftliche Mitarbeiterin der AG Ökologie und Ökosystemmodellierung.
aboituni-potsdamde

PD Dr. Alexander Wacker studierte und promovierte am Limnologischen Institut der Universität Konstanz. Nach einem PostDoc in Basel erhielt er im Dezember 2004 an der Universität Potsdam eine Juniorprofessur für Theoretische Aquatische Ökologie. Seit Dezember 2014 leitet er die von der DFG geförderte Heisenberggruppe „Theoretische Aquatische Ökologie und Ökophysiologie“.
wackerauni-potsdamde

Svenja Schälicke studierte Biologie an der Freien Universität Berlin und Meeresbiologie an der Universidad de la Laguna (Spanien). Ihren Masterabschluss erwarb sie 2015 an der Universität Potsdam. Seitdem ist die Doktorandin Mitglied in der Heisenberggruppe „Theoretische Aquatische Ökologie und Ökophysiologie“.
svenja.schaelickeuni-potsdamde

Die Arbeitsgruppe von Ursula Gaedke verfügt über fünf begehbare Klimakammern und acht Klimaschränke. Das sind Räume, die ein festgelegtes Klima für bestimmte Versuchsanordnungen konstant aufrechterhalten. Dies ermöglicht, auch langfristige Experimente unter genau definierten Bedingungen durchzuführen.

„DynaTrait“ geht ab Januar 2018 in seine zweite Förderphase. Nachdem in der ersten Förderperiode (2014–2017) zwei Teilprojekte an der Universität Potsdam und 18 an weiteren Universitäten durchgeführt wurden, sollen es nun 13 sein. Die Universität Potsdam ist mit dem Projekt „Zusammenspiel zwischen funktionellen Eigenschaften, Nahrungsnetzdynamik und dem Erhalt von Biodiversität“ beteiligt.

Das Projekt

Flexibility matters: Interplay between trait diversity and ecological dynamics using aquatic communities as model systems (DynaTrait)
Laufzeit: 2014–2021
Finanzierung: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)
www.dynatrait.de