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Microrrelatos

Als Microrrelatos bezeichnet man im spanischsprachigen Raum literarische Texte, die sich durch ihre extreme Kürze auszeichnen. Anders als die im deutschen Sprachraum bekannten kürzesten Geschichten ist es selten, dass Microrrelatos die Länge einer Seite überschreiten. Für gewöhnlich werden bei dieser literarischen Gattung Elemente der Erzählung, der Poesie, des Essays und anderer literarischer Formen in nur wenigen Zeilen genutzt, um mittels semantischer Verdichtung eine ausdrucksstarke narrative Minimalform zu schaffen. Typisch für derartige literarische Kurztexte sind deren suggestive und elliptische Erzählweise gepaart mit inter- und metatextuellen Referenzen. Darüber hinaus sind sprachliche Stilmittel wie das Paradoxon und die Ironie bezeichnend für diese Textsorte.

Die Bezeichnung Microrrelatos ist zwar die gängigste für solche literarischen Kurztexte im spanischsprachigen Raum, dennoch herrscht weder in der spanischen noch in der hispanoameri­kanischen Literaturwissenschaft Konsens über eine konkrete und verbindliche Terminologie. Die gängigsten Bezeichnungen, die größtenteils synonym zu Microrrelato verwendet werden sind microcuentos, minicuentos, microficción, minificción oder cuento en miniatura. Diese terminologische Vielfalt verweist darauf, dass zwar einerseits das Bewusstsein und die Akzeptanz für diese literarische Gattung existieren. Andererseits wird dadurch jedoch auch deutlich, dass Microrrelatos immer noch als Randerscheinung der eigentlichen Cuentos betrachtet werden, wenngleich kurze literarische Texte kein neues Phänomen sind und in allen zeitgenössischen Literaturen eine lange Tradition haben. Doch seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert gewinnt die Form der Microrrelato zunehmend an Popularität und hat sich vor allem in Lateinamerika auf eindrucksvolle Weise weiterentwickelt. Sie ist dort inzwischen etablierter Untersuchungsgegenstand literaturwissenschaftlicher Arbeiten.

1959 erschien mit „El dinosaurio“ (Cuando depsertó, el dinosaurio todavía estaba allí.) des guatemaltekischen Schriftstellers Augusto Monterroso die bekannteste und meist untersuchte Microrrelato in spanischer Sprache. Bedeutende Autoren wie Jorge Luis Borges, Julio Cortázar, Cristina Peri Rossi, Mario Benedetti und Juan José Arreola ließen sich von dieser aus nur sieben Wörtern bestehenden Micro-Erzählung inspirieren und trugen ab den 1970er Jahren zu einem ersten Aufschwung dieser Gattung bei, die auch bei der Leserschaft große Aufmerksamkeit erweckte. Inzwischen, vor allem durch die Möglichkeiten des Internets, ist die Textsorte der Microrrelatos in Lateinamerika und Spanien weit verbreitet und besonders bei jungen Leserinnen und Lesern, Autorinnen und Autoren in hohem Maße beliebt.

Im spanischsprachigen Internet werden zahlreiche sogenannte Concursos de microrrelatos ausgeschrieben. Dort werden ihre Werke dem kritischen Auge einer Jury vorgelegt, die sich meist aus Lesern und anderen Autoren zusammensetzt, und damit gleichzeitig einem breiten Publikum zugänglich gemacht. Darüber hinaus werden im Internet zahlreiche Talleres de Microrrelatos angeboten, durch die das Schreiben von Microrrelatos online erlernt werden kann.

Insgesamt lassen sich zwei Grundtypen von Internet-Plattformen unterscheiden, in denen Microrrelatos auftauchen und eine auffallende Präsenz zeigen: soziale Netzwerke und Blogs. Es handelt sich dabei um Plattformen, die sich durch ihre einfache Handhabung, Dynamik und leichte Zugänglichkeit von statischen Portalen und Webseiten unterscheiden. Eine besondere Form von Microrrelatos im Internet hat sich innerhalb des sozialen Netzwerkes Twitter herausgebildet, das von vielen Autorinnen und Autoren zunehmend als Plattform experimenteller Schreibweisen genutzt wird. Im Unterschied zu den Microrrelatos im klassischen Sinne, Unterliegen die literarischen Texte, die bei Twitter veröffentlicht werden und allgemein als Twitterature bezeichnet werden, einer strikten formalen Begrenzung von 140 Zeichen. Die Herausforderung besteht demnach darin, in einer äußerst reduzierten Textform, traditionelle Stilmittel des literarischen Schreibens zu entfalten.

Die Gründe, weshalb die Microrrelatos gerade im Internet florieren, sind evident. Zunächst bietet das gestalterische Element der Kürze innerhalb des dynamischen und schnelllebigen Internets unschlagbare Vorteile, denn das Lesen einer Microrrelato beansprucht nur wenige Sekunden. Auch eine unkomplizierte Interaktion mit der Autorin oder dem Autor bzw. mit anderen Lesern in Form eines Kommentars oder einer Bewertung in Portalen, Blogs und sozialen Netzwerken nimmt nur wenig Zeit in Anspruch. Des Weiteren zeigt sich, dass das Internet und das Genre der Microrrelatos gemeinsame Merkmale aufweisen, die ihrerseits für die Epoche der Postmoderne, in der sich beide Phänomene konsolidieren, bezeichnend sind: sowohl das Internet als auch die Microrrelatos arbeiten der für die Postmoderne typischen Auflösung zentralisierter Strukturen zu. Das Marginale rückt ins Zentrum und der Hierarchie traditioneller Ordnungen werden Vielfalt und ein Informations- bzw. Interpretationspluralismus entgegengestellt. Auch zeichnen sich beide Phänomene durch die für die Postmoderne ebenfalls typischen Merkmale des Fragmentarischen und einer spielerischen Attitüde aus.

Unter jungen Leserinnen und Lesern, Autorinnen und Autoren haben sich in den letzten zehn Jahren daher Blogs als wichtigster Impuls für die Popularität von Microrrelatos erwiesen. Sie stellen nicht nur ein unvergleichbares Medium der Diffusion dar, sondern auch eine interaktive Verbindung zwischen Autor und Rezipienten her. Darüber hinaus führen Blogs die interessierte Leserschaft oftmals auch mittels Hyperlinks durch eine themenrelevante Blogosphäre. Aus der gezielten Aufforderung an den Rezipienten, sein Interesse für einen bestimmten Blog oder einzelne Texte in sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter mit anderen zu teilen, ist inzwischen eine kaum mehr zu überschauende Vielfalt von Microrrelatos hervorgegangen.

Wenngleich das Internet die literarische Produktion von Microrrelatos abseits von editorischen oder akademischen Leitlinien begünstigt und dabei gleichzeitig zu deren Popularisierung beigetragen hat, so hat diese Entwicklung ebenso zu einer Banalisierung dieser Gattung geführt. Denn die gewaltige Menge an Texten, die als Microrrelatos ausgewiesen werden, erfüllt in vielen Fällen kaum oder gar nicht die ästhetischen und literarischen Anforderungen dieser Gattung. Das Bewusstsein für den höchst anspruchsvollen Prozess des Schreibens von Microrrelatos droht somit zu schwinden.Zu untersuchen bleibt daher, welche Zukunft eine literarische Form haben kann, die durch ihre Kürze und insbesondere durch die falsche Annahme, sie sei – aufgrund derselben – leicht zu produzieren, eine kontinuierliche Modifikation ihrer literarischen Wesenzüge durchläuft. So wäre es einerseits möglich, dass die Popularisierung und Banalisierung von Microrrelatos letztendlich zur Auflösung dieser Gattung führt. Andererseits könnten sie sich als förderlich für die Festigung des Genres erweisen, indem ein Kanon etabliert wird, der zum Erhält der literarischen Wesenszüge beiträgt.

Quellen:

  • Andres-Suárez, Irene (2010): El microrrelato español. Una estética de la elipsis. Palencia: Mensocuarto.
  • Bustamante Valbuena, Leticia (2012): Una aproximación al microrrelato hispánico: antologías publicadas en España (1990-2011). Tesis de Doctorado. Universidad de Valladolid. Im WWW unter: http://uvadoc.uva.es/handle/10324/1029
  • Bustamante Valbuena, Leticia (2012): De cómo el microrrelato se ha convertido en un fenómeno cultural. Im WWW unter: http://micropolis.pe/?p=3953
  • Hernández Mirón, Juan Luis (2009): Microrrelato y modernidad digital. Estrategias comunicativas de un género fronterizo. In: Crisis analógica, futuro digital: actas del IV Congreso Online del Observatorio para la Cibersociedad. Im WWW unter: http://www.cibersociedad.net/congres2009/es/coms/microrrelato-y-modernidad-digital-estrategias-comunicativas-de-un-gener...
  • Lagmanovich, David (2005): La otra mirada. Antología del microrrelato hispánico. Barcelona: Menoscuarto.
  • Lagmanovich, David (2006): El microrrelato. Teoría e historia. Palencia: Menoscuarto.
  • Siles, Guillermo (2007): El microrrelato hispanoamericano. La formación de un género en el siglo XX. Buenos Aires: Corregidor.
Autorin Ariana Neves
Zeitraum Januar 2015