Skip to main content

„Die größte Herausforderung der inklusiven Schule“ – Prof. Ulrike Becker über den Umgang mit auffälligem Verhalten

Gute Schule ist eine Mammutaufgabe. Fachlich auf dem neuesten Stand, pädagogisch fortschrittlich und vor allem inklusiv. Alle „mitnehmen“, niemanden „verlieren“ oder gar ausschließen. Aber was, wenn Schülerinnen und Schüler total „rausfallen“, so sehr, dass sie den Unterricht massiv stören oder gar andere gefährden? Ulrike Becker, Oberschulrätin für Grundsatzfragen der Grundschule in Berlin und Professorin an der Humanwissenschaftlichen Fakultät an der Universität Potsdam, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit sogenanntem auffälligen Verhalten – und wie Schulen damit umgehen können, um Eltern und Kindern gleichermaßen zu helfen. Ihre Erfahrungen und Forschungsergebnisse hat sie in dem Buch Managing Challenging Behaviour in Schools“ zusammengefasst, das 2025 erschienen ist. Matthias Zimmermann sprach mit ihr darüber, was „auffälliges Verhalten“ so herausfordernd macht, wie Lehrkräfte damit umgehen können – und was wirklich hilft.

Sie forschen zum „Umgang mit auffälligem Verhalten in Schulen“. Was genau verstehen Sie unter „auffälligem Verhalten“?
Wenn das Verhalten von Kindern oder Jugendlichen in der Schule den Erwartungen der dort professionell tätigen Erwachsenen nicht entspricht, wird es von Lehrkräften oder pädagogischen Fachkräften als auffällig bezeichnet. Die Formen auffälligen Verhaltens sind vielfältig und reichen von introvertiertem über hyperaktives, depressives oder selbstgefährdendes bis zu aggressivem oder fremdgefährdendem Verhalten. Lehrkräfte fühlen sich von aggressivem Verhalten gegenüber Mitschülerinnen sowie Mitschülern oder ihnen selbst besonders herausgefordert. Beides erzeugt bei ihnen Gefühle der Ohnmacht und Hilflosigkeit oder Wut. Sie werden mitten im Unterricht in eine schwierige soziale Situation verwickelt, in der sie oftmals handlungsunfähig sind.

In meinem Verständnis ist Verhalten von Schülerinnen oder Schülern als auffällig zu bezeichnen, wenn sie ihre eigenen Lern- oder Entwicklungsmöglichkeiten so einschränken oder sich bzw. andere Menschen so gefährden, dass ihre soziale Teilhabe gefährdet ist. Dann bedarf es zum Schutz der betroffenen Schülerinnen oder Schülern und zur Sicherung des Wohls aller Beteiligten einer Intervention. 

Sie haben 18 Jahre als Sonderpädagogin in Schulen gearbeitet, danach zwölf Jahre als Schulleiterin – was ist Ihre praktische Erfahrung mit „auffälligem Verhalten“?
Es stellt für Lehrkräfte die größte Herausforderung der inklusiven Schule dar. Für Kinder und Jugendliche gibt es immer einen subjektiven Sinn für auffälliges Verhalten. Es resultiert aus der unbewussten subjektiven Verarbeitung von Erfahrungen. Eine inklusive Schule, in der die betroffenen Kinder Halt gebende pädagogische Beziehungen erfahren, kann es gelingen, dass betroffene Schülerinnen oder Schüler ihre Symptome im Bereich des Verhaltens überwinden und sie tatsächliche soziale Teilhabe erleben.

Sie stehen mit Ihrer Biografie für eine Verbindung von Theorie und Praxis: Sie waren in der Schule und sind an der Universität Potsdam tätig. Im Hauptberuf arbeiten Sie seit fünf Jahren in der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie in Berlin. Wenn Sie Ihre Erkenntnisse zu auffälligem Verhalten in Kürze zusammenfassen sollten …
Auffälliges Verhalten ist multifaktoriell bedingt. Ist das Verhalten so auffällig, dass die soziale Teilhabe gefährdet ist, braucht es Strukturen in der Schule, die Raum und Zeit für Beziehungsarbeit geben. Es ist wichtig, dass alle Akteurinnen und Akteure dazulernen. Dazu bedarf es zunächst regelmäßiger und im Schulalltag fest verankerter Beratung oder Supervision, damit Lehrkräfte den subjektiven Sinn des kindlichen Verhaltens verstehen können. In inklusiven Schulen benötigen die betroffenen Kinder gelingende Peerkontakte und Hilfen, um ihre schulischen Entwicklungsmöglichkeiten ausschöpfen zu können. Die regelmäßige Beratung mit Eltern hat sich als eines der wichtigsten Instrumente erwiesen, um die soziale Teilhabe von Kindern mit auffälligem Verhalten in der inklusiven Schule zu sichern. Bei Kindern mit auffälligem Verhalten liegt häufig ein Unterstützungsbedarf im Bereich der Jugendhilfe vor. Die regelmäßige Kooperation ist unerlässlich, damit alle Erwachsenen dem betroffenen Kind gemeinsam in einem multiprofessionellen Team gemeinsam Halt geben. So wird die inklusive Bildung auch bei Kindern mit auffälligem Verhalten im Sinne eines sonderpädagogischen Förderbedarfs möglich.

Sie haben unlängst ein Buch zu diesem Thema veröffentlicht: „Managing Challenging Behaviour in Schools“. Worum geht es darin?
Das Buch richtet sich an Lehrkräfte und pädagogische Fachkräfte, die im Rahmen ihrer Tätigkeit mit auffälligem Verhalten konfrontiert sind. Es soll Hilfen geben für passgenaues pädagogisches Handeln in schwierigen Situationen und Konflikten, für die Entwicklung von Schulprogrammen und Schulordnungen zur Prävention von auffälligem Verhalten, Konflikten und Gewalt sowie für die inklusive Förderung von Schülerinnen und Schülern mit Beeinträchtigungen in der emotionalen Entwicklung.

Dafür habe ich meine Erfahrungen als Lehrerin, Schulleiterin und Wissenschaftlerin zusammengeführt mit aktuellen Erkenntnissen der Sozialisationsforschung, der Psychologie sowie der sonderpädagogischen und inklusionspädagogischen Forschung. Ergänzend habe ich Fallbeispiele zusammengetragen, die wirklichkeitsnah konstruiert sind und im schulischen Alltag erprobte Lösungen für schwierige Situationen beschreiben und begründen. Die Fallbeispiele zeigen, wie Lehrkräfte und pädagogische Fachkräfte in schwierigen pädagogischen Situationen Kindern und Jugendlichen zugewandt begegnen können. Einige der präsentierten Fallbeispiele wurden von der Helga Breuninger Stiftung für das Drehen von sogenannten staged videos für die Aus-, Fort- und Weiterbildung ausgewählt. Mit dem Buch erhält man über einen QR-Code auch den Zugang zu den staged videos. 

Wie kann man den Schüler*innen, Lehrer*innen und Eltern helfen?
Schülerinnen und Schülern kann man als Lehrkraft helfen, indem man ihnen durch eine pädagogische Beziehung emotional Halt gibt. Dies kann gut gelingen, wenn man als Lehrkraft sein Verhalten in regelmäßiger Fallberatung oder Supervision reflektiert. 

Ist die schulische Teilhabe einer Schülerin oder eines Schülers gefährdet oder droht, dass die oder der Jugendliche aufgrund von auffälligem Verhalten keinen Schulabschluss machen kann, sollte im Dialog mit ihm bzw. ihr außerdem geklärt werden, ob ein Bedarf an außerschulischen Unterstützungsbedarf besteht, z.B. in Form von Psychotherapie, Lerntherapie oder einer Jugendhilfemaßnahme.

Aktuell wird viel über die Digitalisierung des Unterrichts und den Einsatz digitaler Hilfsmittel gesprochen – können sie unterstützen?
Digitale Tools können – eingebettet in Qualifizierungsmaßnahmen – Lehrkräfte unterstützen, wenn sie nach rechtlicher und fachlicher Prüfung und unter Datenschutzaspekten empfohlen werden können. Lehrkräfte können dann punktuell digitale Tools zur Beratung in schwierigen Situationen nutzen. Die Helga Breuninger Stiftung bietet beispielsweise mit dem intus 3 Coachbot ein Beratungstool an. Es gibt in diesem Bereich bereits Kooperationen zwischen der Helga Breuninger Stiftung und der Universität Potsdam.


Weitere Informationen
Zu Prof. Dr. Ulrike Becker: https://www.uni-potsdam.de/de/schulentwicklung/team/prof-dr-ulrike-becker

Das Buch „Managing Challenging Behaviour in Schools“ (New York: Columbia Press 2025; Toronto, Opladen: Babara Budrich Verlag 2025) ist zunächst in deutscher Sprache unter dem Titel „Auffälliges Verhalten in der Schule“ in der von A. Prengel, A. Piezunka, A. König und S. Richter herausgegebenen Reihe „Pädagogische Einsichten: Praxis und Wissenschaft im Dialog“ erschienen. Es ist in der Universitätsbibliothek Potsdam verfügbar: https://opac.ub.uni-potsdam.de/DB=1/FKT=1016/FRM=ulrike%2Bbecker/IMPLAND=Y/LNG=DU/LRSET=1/SET=1/SID=eb2bd05b-1/SRT=YOP/TTL=1/CMD?ACT=SRCHA&IKT=1016&SRT=YOP&TRM=Managing+Challenging+Behaviour+in+Schools