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Westslawen

Schon die ältesten Schichten brandenburgischer Siedlungs- und Sprachgeschichte ruhen auf einem slawischen Fundament. Dendrochronologische Bohrkerne aus Brunnenhölzern in der Uckermark datieren die ersten Hofstellen inzwischen zuverlässig
in das letzte Drittel des 7. Jahrhunderts . Damit fällt der Beginn der westslawischen Präsenz – lange als Reaktion auf die gescheiterte Awaren-Expansion gedeutet – in eine Phase, in der Elbe und Oder nach dem Abzug der germanischen Burgunder und Semnonen mehr als ein Jahrhundert nahezu siedlungsleer waren. Diese demographische „Atempause“ ermöglichte es Gruppen wie Hevellern, Sprewanen, Wilzen/Lutizen und Obodriten, an Flussläufen bevorzugt in Talrandlagen sogenannte ukrainy – Hofreihen mit  je zwei bis vier Gehöften – aufzubauen. Die archäologisch gut belegten Perlschnur-Siedlungen zeigen eine Wirtschaft, die auf Hakenpflug-Getreide, Waldweide und handgemachte Keramik der Sukower/Prager Formenkreise setzte. Mit dem 9. Jahrhundert intensivierte sich der Austauschraum. Biermann weist nach, dass der Druck wandernder Awaren und inner-slawischer Konkurrenz als Push-Faktoren eine
Verdichtung größerer Burgwall-Territorien provozierten . In Brandenburg a. d. Havel, Spandow oder Raddusch entstanden mehrgliedrige Ringwallsysteme, die nicht nur militärischer Schutzraum, sondern auch Markt- und Sakralplatz waren. Der Adel
organisierte sich in Veche-Versammlungen, während Fernhandel über Elbe und Oder erstmals baltischen Bernstein und karolingische Glasperlen in slawische Gräber brachte. Politischer Gegenwind folgte: Die ottonische Ostpolitik des 10. Jahrhunderts setzte auf Tribute und Geiselverträge, die allerdings erst mit der strategischen deutschen Ostsiedlung (1150–1250) institutionelle Schlagkraft entfaltete. Christianisierung vollzog sich dabei keineswegs linear: Noch um 1150 berichten Chroniken von hölzernen Götterbildern auf den Burgwällen, und Hevellerfürstin Drahomira ließ heidnische Opferfeste zu, solange Tribute flossen. Erst das 12. Jahrhundert brachte eine
Diözesan-Struktur (Havelberg, Brandenburg), die Slawisch sukzessive aus Verwaltung und Gottesdienst drängte.

Am nachhaltigsten bleibt das toponymische Erbe. Über fünfzehn Prozent aller heutigen Orts-, Flur- und Gewässernamen führen polabische Endungen: -ow/-au kennzeichnen ursprüngliche Au- und Inselorte (Werder Hohen-Neuendorf), -itz deutet auf älteste Rodungsinseln (Gransee Alt-Lüdersfelde) und -in bezeichnet Binnenwiesen-Siedlungen (Semlin bei Rathenow). Hydronyme wie Spree, Havel, Dosse bilden bis heute die sprachliche Hauptschlagader des Landes. Sie verweisen darauf, dass – anders als die Menschen – Namen auf Dauer siedlungsresistent sind und politische Umbenennungen meist überdauern. Die Forschungsgeschichte selbst spiegelt ideologische Brüche: DDR-Archäologe Joachim Herrmann propagierte einen kontinuierlichen „Slawensturm“ ab 550 n. Chr.; neuere Jahrring-Daten zeigen dagegen eine Reihe zeitlich gestaffelter Mikrowellen mit regional differierenden Intensitäten . Die Westslawen liefern somit nicht bloß eine historische Randnotiz, sondern das älteste, bis heute hör- und sichtbare linguistische Substrat Brandenburgs, auf dem jede spätere Migrations- und Überlagerungsdebatte fußt.

 

Literaturverzeichnis

Felix Biermann: Frühmittelalterliche slawische Einwanderung in den brandenburgischen Raum (in: Asche/Brechenmacher 2022)