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Vertragsarbeiter aus sozialistischen Bruderländern

Als die DDR Ende der 1960er-Jahre auf anhaltenden Fachkräftemangel stieß, griff sie zu einem Mittel, das man in Ostberlin als sozialistische Solidarität verkaufte, das de facto jedoch der nüchternen Arbeitskräftebeschaffung diente: Vertragsarbeit. Zwischen 1967
und 1989 schloss die Regierung mehr als ein Dutzend bilateraler Abkommen – zunächst mit Polen, bald darauf mit Vietnam, Mosambik, Kuba, Angola, Algerien, Bulgarien, Ungarn, China u. a. – und verpflichtete sich, mehrere zehntausend Männer und Frauen für zwei bis vier Jahre in ihre Kombinate aufzunehmen.

Die größten Kontingente erreichten Brandenburg nach 1978. In den Textilwerken von
Forst, den Braunkohlekombinaten der Lausitz, den Walzstraßen Brandenburgs oder den Papierfabriken Eberswaldes standen nun Schichten, in denen Vietnamesinnen Stoffbahnen prüften, Mosambikanerinnen Spinnmaschinen bedienten und Kubanerinnen
Schweißnähte zogen. Offizielle Statistiken nennen für das Jahr 1989 rund 90 600 Vertragsarbeiter:innen in der DDR, davon fast zwei Drittel Vietnamesinnen – eine Mehrheit, die in manchen Schlafheimen Brandenburgs den Klang von xin chào und Karaoke-Tapes prägte.

Das Leben folgte einem klaren Raster: Zwölf-Stunden-Schichten, verpflichtende Deutsch- und Ideologiekurse, anschließende Heimfahrt ins Wohnheim. Ausgang gab es nur mit Passierschein – Mischehen oder religiöse Feste galten als „kontraktwidrig“. Trotzdem blühte eine Schattenkultur: Vietnamesische Kassetten wurden auf Kantinen-Diskos gespielt, kubanischer Rum in Arbeiterklubs getauscht,
mosambikanische T-Shirts mischten Plattenbauflure auf. Zugleich gärten Ressentiments: Gerüchte über angebliche Sonderrationen, Neiddebatten um Jeans und Kaffeesäcke entluden sich 1987/88 in Prügeleien von Hoyerswerda bis Eberswalde – Vorboten jener
fremdenfeindlichen Ausschreitungen, die nach 1990 die Schlagzeilen dominierten.

Mit der deutschen Einheit brachen die Verträge weg. Zwei Drittel der Belegschaften kehrten binnen zwei Jahren heim – nicht selten gegen eine Abfindung von 3 000 D-Mark. Wer blieb, fand sich ohne Aufenthaltsrecht wieder. Besonders die Vietnames*innen zeigten Unternehmergeist: Sie organisierten Großimporte von Textilien, eröffneten Blumen- und Gemüsestände auf märkischen Wochenmärkten und wurden binnen eines Jahrzehnts zur sichtbarsten asiatischen Community des Landes. Heute leben schätzungsweise 12 000 Vietnames:innen in Brandenburg; kleinere Gruppen mosambikanischer, angolanischer und kubanischer Herkunft kämpfen unter dem Namen Madgermanes noch immer um ausstehende Löhne und Renten.

Sprachlich hinterließ die abgeschirmte Migration nur feine, doch erkennbare Kratzer im Brandenburgischen. In Werkskantinen trank man Mix-Tee, ein süßes Instantgetränk, das seinen DDR-Namen behielt; der spöttische Ruf Brudermann für jeden nichtdeutschen Kollegen überdauerte die Wende; und mit den Imbissen kamen Begriffe wie phở, bánh mi oder nem fest in die Speisekarten der Region. Zweisprachige Kitas in Cottbus oder Berlin-Marzahn fördern heute Deutsch und Vietnamesisch parallel – eine stille Mehrsprachigkeitsoffensive dort, wo einst Sprachkurse nur zum raschen Zurückkehren  erziehen sollten.


Die Geschichte der Vertragsarbeiter zeigt, wie eine als temporär gedachte Arbeitsmigration dauerhafte Spuren ziehen kann: Sie stabilisierte DDR-Betriebe, provozierte soziale Reibung und hinterließ – trotz staatlicher Abschottung – kulinarische, klangliche und familiäre Brücken, die das gegenwärtige Brandenburg leiser, aber spürbar pluraler machen.

 

Literaturverzeichnis
 

Marcia C. Schenck: Einwanderung aus den „sozialistischen Bruderländern“. Erinnerungen mosambikanischer Migrant:innen an die DDR (in: Asche/Brechenmacher 2022)