Polnische Migration
Die großen braunen Zuckerrübenfelder des Havellandes und die roten Ziegeleien an der Havel machten Brandenburg im späten 19. Jahrhundert zu einem Magneten für polnische Saison- und Wanderarbeiter. Vinzenz Czech berechnet, dass allein im Erntejahr 1913
mehr als 268 000 polnische Arbeitskräfte – zu sechzig Prozent Frauen – in die ostelbischen Provinzen strömten; für Brandenburg schlagen Statistiken mehrere zehntausend temporäre Bewohner zu Buche . Diese sogenannte Sachsengängerei war genau reguliert: Arbeits- und Aufenthaltskarten, Barackenpflicht und abendliche Sperrstunden sorgten dafür, dass die polnische Präsenz sichtbar blieb, aber nicht dauerhaft Wurzeln schlug. Mit der Weimarer Grenzschließung ebbte der Strom ab, doch die Nachfrage nach billigen Erntehelfern blieb. Erneut griff der Staat regulierend ein: Ab 1967 schloss die DDR bilaterale Verträge, um polnische Kontraktarbeiter ohne Wohnrecht für Obst- und Gemüsebau einzusetzen . Ihre Namen fehlen in Volkszählungen, doch lokale Kirchenbücher verzeichnen polnische Taufen und Trauungen – Indizien für eine verdeckte Binnenmigration. Der wirkliche Durchbruch kam mit der EU-Osterweiterung 2004. Seither pendeln täglich tausende Beschäftigte über die Oder. Der German-Polish Border Survey 2024 meldet im
Sektor Frankfurt (Oder)/Słubice durchschnittlich 17 000 Grenzübertritte pro Werktag. Diese zirkuläre Migration erzeugt eine funktionale Zweisprachigkeit: Polnisch dominiert der Bau- und Pflegesektor, Deutsch Schule und Verwaltung. Im Einzelhandel stehen
„polskie półki“ mit Krakauer Wurst, während Brandenburger Bier auf polnische Feste wandert. Linguistisch sind die Spuren subtil, aber greifbar. Agrarslang der Vorkriegszeit – Burak (Rübe), Kartoflaki(Kartoffelernter) – lebt in Kantinenmenüs als Retro-Chic weiter. Im
Bauhandwerk verdrängen polnische Kommandos wie dajesz (auf geht’s) oder szybko (schnell) den früheren russischen Kasernenjargon. Gleichzeitig holen bilinguale Kitas im Oderbruch Kinder früh in ein Deutsch-Polnisch-Kontinuum, das Sprachgrenzen als Alltagserfahrung erlebbar macht. So erzählt die polnische Migration eine Geschichte, die mit temporärer Lohnarbeit begann und in einer dauerhaften Nachbarschaftskultur mündet. Sie dokumentiert, wie ökonomische Pull-Faktoren, politische Grenzverschiebungen und europäische Integrationsschübe Brandenburg sukzessive in einen mehrsprachigen Verflechtungsraum verwandelt haben.
Literaturverzeichnis
CZECH, V. (2022) Ein- und Binnenwanderungen nach Berlin, Brandenburg und in die Niederlausitz am Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft. In: M. Asche & T. Brechenmacher (Hrsg.) Hier geblieben? Brandenburg als Einwanderungsland vom Mittelalter bis heute, S.159-176.