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Böhmische Exulanten

Als die Gegenreformation unter den Habsburgern in Böhmen ab 1620 ihren Höhepunkt erreichte, begann eine jahrzehntelange Abwanderung protestantischer Unitas-Fratrum. Der entscheidende Schub nach Brandenburg setzte jedoch erst 1732 ein, als König
Friedrich Wilhelm I. ein Patent veröffentlichte, das den Glaubensflüchtlingen zweierlei versprach: steuerfreie Abgaben auf Lebenszeit und ein von der lutherischen Landeskirche unabhängiges Gemeindewesen. Dieser zweifache Anker – ökonomisch und konfessionell
– machte Brandenburg zum Magneten für tschechische Facharbeitskräfte, die anderswo häufig nur geduldet wurden.

Die paradigmatischen Siedlungen sind Böhmisch-Rixdorf (Berlin-Neukölln) und Nowawes (heute Potsdam-Babelsberg). Rixdorf wuchs von  Gründerfamilien 1737 auf über 500 Personen binnen fünf Jahrzehnten; Nowawes verzeichnete 1767 bereits 228 Exulanten. Ulrich Niggemann weist allerdings nüchtern darauf hin, dass die Gesamtzahl der Böhmen trotz propagandistischer Überhöhung nie jene der Hugenotten erreichte . Gleichwohl entfalteten sie einen disproportional hohen ökonomischen Multiplikatoreffekt: Ihre Heimwebstühle produzierten Damaststoffe für das Berliner Hofzeremoniell, während Hopfen- und Obstbau das märkische Agrarangebot diversifizierten.


Der Preis der Privilegien war sozialer Konflikt. Städtische Zünfte fühlten sich durch steuerbefreite Konkurrenten bedroht, Landpfarrer klagten über „fremdländische Sekten“, und Gutsbesitzer bezichtigten die Exulanten, Löhne zu unterbieten. Niggemann interpretiert diesen Widerstand weniger als Fremdenfeindlichkeit denn als Protest gegen die staatliche Policey-Ökonomie . Tatsächlich erzwang König Friedrich II. mehrfach Kompromisse: Böhmische Märkte durften nur an Wochentagen stattfinden, die Zunftpflicht blieb in Kerngewerben erhalten.

Sprachlich entstand eine stabile Diglossie. Bis 1820 weisen Kirchenbücher zweisprachige Einträge auf: tschechisch in liturgischen Formeln, deutsch in Amtsprotokollen. Handwerksterminologie – činka (Weberschiffchen), špulka (Spule) – taucht bis in die Berliner Gewerbelisten der 1860er-Jahre auf. Mit der Reichsgründung 1871 schmolz der Dialekt rapide: Schulpflicht, Wehrdienst und Heiratsmobilität beschleunigten die Germanisierung. Gleichwohl blieb das bauliche Erbe: giebelständige Doppelhäuser mit vorkragender Bohlenwand, Bethäuser und der Böhmische Gottesacker prägen noch heute das Neuköllner Ortsbild.

In Niggemanns Synthese reiht sich die böhmische Migration ein in einen weiten Strom frühneuzeitlicher Konfessionsflüchtlinge – von Savoyarden über Waldenser bis Piemonteser –, deren kombinierte Arbeits- und Wissenspotenziale die demographische und ökonomische Erholung der Mark nach dem Dreißigjährigen Krieg erst ermöglichten. Böhmen werden so zu Mittlern zwischen lokalem Handwerk und globalen Mode- und Agrartrends, zwischen konfessioneller Autonomie und staatlich gelenkter Modernisierung.

Literaturverzeichnis

Ulrich Niggemann: „Glaubensflüchtlinge“ in Brandenburg im 17. und 18. Jahrhundert (ebd.)