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„Wenn gleiche Gene anders aussehen: Anpassungskünstler Pflanzen“ – Wie Biologen und Bioinformatiker das Wechselspiel von Genen und Umwelt untersuchen

Unsere Forschung ist deswegen so essenziell, weil es ohne Pflanzen keine menschliche Ernährung gibt“, betont Michael Lenhard, Professor für Genetik und Sprecher des neuen Sonderforschungsbereichs „Phänotypische Plastizität bei Pflanzen“. „Darüber hinaus dienen sie zur Herstellung von Biokraftstoffen oder Arzneimitteln“, ergänzt Projekt- und Nachwuchsgruppenleiterin Dr. Anika Küken. Um unsere Nutzpflanzen in Zukunft fit zu machen für den Klimawandel, arbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im SFB 1644 seit April 2024 in einem interdisziplinären Programm zusammen. Sie wollen die Fähigkeit von Pflanzen verstehen, sich an veränderte Temperatur- und Nährstoffbedingungen infolge des Klimawandels anzupassen. Ziel ist es zu entschlüsseln, worauf Plastizität auf molekularer Ebene beruht. Dies kann die Grundlage bilden, um die Zusammenhänge zwischen Nutzpflanzen, Plastizität und Ertrag besser zu verstehen. Neben der Universität Potsdam sind das Max-Planck-Institut für Molekulare Pflanzenphysiologie, die Humboldt-Universität zu Berlin, die Universität zu Köln, das Hasso-Plattner-Institut sowie das Leibniz-Institut für Gemüse- und Zierpflanzenbau beteiligt.

Arabidopsis und Capsella

In den kommenden Jahren wird sich das Team zunächst auf die zwei Arten Arabidopsis und Capsella konzentrieren. Arabidopsis thaliana, auch Acker-Schmalwand oder Gänserauke genannt, ist ein schnellwachsendes Unkraut. In der genetischen Forschung dient es als Modellpflanze, da es ein kleines, gut bekanntes Genom hat, das leicht modelliert werden kann. Die Art ist weit verbreitet, robust und wächst unter unterschiedlichsten Bedingungen. Mit Arabidopsis verwandt ist Capsella, auch bekannt als Hirtentäschelkraut. Es kommt als Wildsalat und Heilpflanze zum Einsatz und ist eine ein- bis zweijährige Krautpflanze mit typischen „Schötchen“, die wie die Taschen früherer Hirten geformt sind, daher der Name. Capsella illustriert einige weitverbreitete Prozesse bei Pflanzen.

„Arabidopsis ist die am besten untersuchte Pflanze weltweit“, hebt Michael Lenhard hervor. Bereits bekannt ist, dass sich ihre Blätter und Blüten je nach Umgebungstemperatur unterschiedlich entwickeln. So sind die Blätter bei einer Temperatur von 17 Grad Celsius eher länglich geformt, während sie bei 22 Grad Celsius eher runde Formen haben. Bei Capsella führen abweichende Temperaturen zu verschieden ausgeprägten Blattflächen sowie gezackten oder glatten Blatträndern. Ein Teilprojekt des SFB identifiziert die den unterschiedlichen Blattformen zugrundeliegenden Gene, um zukünftig durch Genauslese die gewünschten Eigenschaften züchten zu können.

Dem Hitzestress begegnen

Im Gewächshaus auf dem Campus Golm lässt sich die Art Capsella grandiflora mit zarten weißen Blüten bewundern. Hier werden Exemplare gezüchtet, die entweder Selbstbestäuber sind, oder Insekten als Bestäuber anlocken. Die in Golm wachsenden Pflanzen mit vielen verschiedenen Genotypen sind Ausgangspunkt für sogenannte Selektionsexperimente. Im aktuell laufenden Versuch geht es um die Toleranz der Pflanzen gegenüber Hitzestress, die von der früheren Umgebung abhängt, in der sie gewachsen sind. Einige der Pflanzenvorläufer stammen aus Griechenland, wo es heißer und trockener ist als in Deutschland. Ihr Phänotyp zeigt eine höhere Toleranz gegenüber Hitze. Isabel Bäurle, Professorin für Epigenetik, leitet das entsprechende Teilprojekt und interessiert sich für die Ursache auf molekularer Ebene. „Wir wissen, dass es verschiedene Genotypen gibt, die unterschiedlich auf die Umwelt reagieren, und wollen verstehen, warum das so ist“, erklärt sie.

In anderen Experimenten züchten die Forschenden 200 Pflanzen-Typen mit unterschiedlichem Genmaterial in verschiedenen Settings, mit niedrigen und höheren Temperaturen, viel oder wenig Tageslicht, nährstoffreichem oder -armen Boden. Die Versorgung der Pflanzen mit Stickstoff beeinflusst ihre Erscheinungsform und insbesondere ihr Wachstum. Bei der Nährstoffaufnahme spielen Wurzelhaare eine entscheidende Rolle und passen sich je nach Stickstoffkonzentration an. In einem weiteren Teilprojekt werden daher die Wurzelhaareigenschaften von Arabidopsis im Hinblick auf ihre Anpassungsfähigkeit untersucht.

Stoffwechselprozesse modellieren

Da viele Fragen zu Arabidopsis in ein und derselben Umwelt bereits geklärt sind, ist es einfacher, sie nun in verschiedenen Umgebungen zu untersuchen. „Ein weiterer großer Vorteil von Arabidopsis ist, dass die Stoffwechselmodelle, die wir im SFB benutzen, mittlerweile sehr genau und sehr gut sind – besser als für viele Nutzpflanzenarten“, ergänzt Anika Küken.

Die Modellierungsgruppen des SFB arbeiten vorranging mit dem Pflanzenstoffwechsel, auch Metabolismus genannt, der alle biochemischen Reaktionen innerhalb einer Pflanze umfasst und durch die Photosynthese angetrieben wird. Die Stoffwechselprozesse steuern Fortpflanzung und Wachstum der Pflanzen. „Mit unseren Modellen erforschen wir, wie schnell bestimmte Stoffwechselprodukte – Metabolite – in andere umgewandelt werden und wie sich diese Aktivität in verschiedenen Pflanzen unterscheidet“, sagt Anika Küken. „Dadurch können wir Abhängigkeiten im komplexen System des Stoffwechsels besser verstehen und ihre Auswirkungen auf das Wachstum der Pflanze untersuchen.“ In ihrem Teilprojekt betrachtet sie insbesondere die Plastizität des Calvin-Benson-Zyklus in Arabidopsis, als Reaktion auf wechselnde Licht- und Stickstoffverfügbarkeit über einen Tageszyklus. Der Calvin-Benson-Zyklus ist ein biochemischer Prozess innerhalb von Pflanzen, bei dem Kohlendioxid zu Glukose umgewandelt wird. Er wird auch als Dunkelreaktion der Photosynthese bezeichnet.

„Die Modelle benötigen häufig noch viele experimentelle Daten, um sie zu trainieren und besser zu machen“, erklärt die Bioinformatikerin. Dabei kommen die sogenannten omik-Wissenschaften zum Einsatz, die sich mit den biologischen Molekülen befassen, die an der Struktur, Funktion und Dynamik von Zellen und Organismen beteiligt sind: Die Genomik erforscht die Erbinformation eines Organismus, die Proteomik betrachtet alle Proteine innerhalb eines Organismus, während die Metabolomik die Zwischen- und Endprodukte des Stoffwechsels analysiert.

Ziel ist es letztlich, für jeden Genotyp die Umweltantwort beschreiben zu können. Manche Genotypen stellen ihren Stoffwechsel sehr stark um und sind dadurch in der Lage, ihr Wachstum nahezu konstant zu halten. Andere reagieren vom Wachstum her sensibel auf geringere Wasser oder Stickstoffverfügbarkeit. „Wir möchten verstehen, wie diese Änderungen mit einer höheren Toleranz gegenüber Wasser- oder Stickstoffmangel zusammenhängen“, sagt Lenhard.

Karriereförderung im Fokus

Anika Küken setzt sich auch für die Belange junger Forschender innerhalb des SFB ein. „Wir bieten zahlreiche Kurse und Weiterbildungsmöglichkeiten für unsere Promovierenden und Postdocs an, außerdem Gelegenheiten zum Netzwerken, wie das regelmäßig stattfindende ‚Meet-the-Speaker-Lunch‘ mit Expertinnen und Experten aus der SFB-Community“, sagt sie. Um über die Forschung hinaus praktische Erfahrungen zu sammeln, organisierten Promovierende und Postdocs des SFB im Oktober 2025 die zweitägige „International Conference on Phenotypic Plasticity in Plants“ in der Wissenschaftsetage im Bildungsforum Potsdam. „Im November 2025 findet außerdem ein Tag für Frauen in der Wissenschaft statt, der dem Aufbau von Netzwerken und als Plattform für Gespräche über Karriere und Familie dient“, ergänzt Küken.

Neben den 17 wissenschaftlichen Teilprojekten besteht der SFB 1644 aus einem Syntheseprojekt und einem zentralen Verwaltungsprojekt. Die über die kommenden Jahre gesammelten riesigen Datenmengen müssen gespeichert, verwaltet, analysiert und integriert werden. Dieser grundlegenden Aufgabe widmen sich der Bioinformatik Professor Zoran Nikoloski, Vizesprecher des SFB, sowie Christoph Lippert, Professor an der Digital Engineering Fakultät der Universität Potsdam und Experte für Maschinelles Lernen. Da der SFB auf die übergreifende Zusammenarbeit der Hochschulen und Forschungseinrichtungen ausgelegt ist, bietet das Syntheseprojekt die notwendige Schnittstelle, damit alle Beteiligten auf jeden angelegten Datensatz zugreifen können. „Indem wir verschiedene Ebenen untersuchen, hoffen wir schließlich Zusammenhänge zu erkennen, die man über Einzelprojekte nicht gefunden hätte“, fasst Michael Lenhard zusammen.


Michael Lenhard ist seit 2010 Professor für Genetik an der Universität Potsdam.

Anika Küken ist seit 2020 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Bioinformatik der Universität Potsdam.

Eineiige Zwillinge stammen aus derselben befruchteten Eizelle und besitzen die gleiche Erbinformation – sie sind vom gleichen Genotyp. Wachsen sie aber unter verschiedenen Umwelteinflüssen auf, so können sie sich im Laufe des Lebens anders entwickeln, beispielsweise in Bezug auf den Körperbau, Fähigkeiten oder Vorlieben. So kommt es, dass eineiige Zwillinge im Erwachsenenalter mitunter nicht identisch aussehen. Diese Fähigkeit von genetisch identischen Organismen – Tieren wie Pflanzen – wird als phänotypische Plastizität bezeichnet.

Der Sonderforschungsbereich 1644 „Phänotypische Plastizität bei Pflanzen“ untersucht die bemerkenswerte Fähigkeit von Pflanzen, ihr Wachstum und ihre Entwicklung an unterschiedliche Umgebungen anzupassen. 

Weitere Informationen zum Sonderforschungsbereich 1644: https://www.uni-potsdam.de/en/ppp