Physiologisch betrachtet sind es Hormone, die unser Wachstum steuern. Die Forschenden gehen davon aus, dass die Ursache für den Zusammenhang zwischen Umweltfaktoren und dem Wachstum im Hypothalamus, einem Teil des Zwischenhirns, liegt. Der Hypothalamus gibt über Blutgefäße sogenannte Releasing-Hormone an die Hirnanhangsdrüse ab, wodurch wiederum die Freisetzung weiterer Botenstoffe, wie Stress- oder Sexualhormone, gesteuert wird. Sie bereiten uns auf eine erhöhte Belastung vor oder sorgen für die Reifung von Eizellen. Aber auch Wachstumshormone wie Somatropin und der insulinähnliche Wachstumsfaktor 1 (IGF-1) zählen zur Gruppe der Releasing-Hormone und werden der emotionalen Situation entsprechend mit ausgeschüttet. Sie wirken auf das Wachstum der Epiphysenfugen, die sich in den langen Röhrenknochen in den Armen und Beinen befinden. Sobald sich dieser Zwischenraum schließt, haben wir unsere endgültige Körperhöhe erreicht. Das ist bei Mädchen mit 16 bis 18 Jahren, bei Jungen mit 21 bis 22 Jahren der Fall. Die Forschung geht davon aus, dass Stress, wie ihn beispielsweise schwer vernachlässigte Kinder erfahren, die Ausschüttung der Wachstumshormone beeinflusst.
Mangelernährung und Kleinwuchs
Schon im Kindesalter begegnen uns Größenvergleichskurven, sogenannte Perzentildiagramme, mit denen Ärzte bestimmen, ob wir „normal“ groß sind oder ob eine Krankheit vorliegen könnte. Liegt das Wachstums eines Kindes beispielsweise auf der dritten Perzentile, sind nur drei Prozent aller Kinder noch kleiner – und dann sollten Kinderärzt*innen mögliche Ursachen abklären. Für die Wachstumskurven der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wurden Körperhöhen von Kindern aus aller Welt ausgewertet. Dieser Klassifikation entsprechend sind weltweit rund 150 Millionen Vorschulkinder zu klein – und gelten automatisch als unterernährt. „Unstrittig ist, dass es Hunger auf der Welt gibt, und dass Mangelernährung dazu führt, dass Kinder wenig wachsen“, sagt Scheffler. „Wir kritisieren jedoch die WHO-Klassifikation, die der Einfachheit halber geringe Körpergrößen und Unterernährung gleichsetzt. Damit werden viele Menschen pathologisiert.“
Auch in der Forschung werde immer wieder Ernährung als ausschlaggebend für das Wachstum beschrieben. Zudem finde sich regelmäßig die Behauptung, dass „kleine Menschen eine verminderte körperliche, neurologische und später wirtschaftliche Leistungsfähigkeit“ hätten. Größere Kinder seien angeblich mit besseren kognitiven Fähigkeiten ausgestattet und verdienten auch als Erwachsene mehr Geld. In ihrem Buch fragen die Forschenden polemisch, ob demnach italienische Männer, die im Schnitt 177 Zentimeter groß sind, dümmer seien als die durchschnittlich 184 Zentimeter großen niederländischen Männer, obgleich es in beiden Ländern genug zu essen gebe.
Sind 150 Millionen Vorschulkinder weltweit also tatsächlich unterernährt? Um das zu überprüfen, sind Scheffler und Hermanussen ins indonesische Westtimor gereist. Dort sind 50 Prozent der Kinder kleiner als die WHO-Referenz. Die Menschen in Westtimor gelten als „stunted“, zeigen also medizinisch gesehen Wachstumsstörungen. „Wir konnten jedoch innerhalb der Population keinen Zusammenhang zwischen Körpergröße und Unterernährung finden“, berichtet Scheffler. Stattdessen seien die Kinder, die im internationalen Referenzrahmen als zu klein gelten, sportlich am fittesten gewesen und hätten auch bei den Schulleistungen nicht schlechter abgeschnitten. Dies spricht aus Sicht der Forschenden eindeutig gegen Mangelernährung als Ursache für die geringere Körperhöhe. Dafür sei vielmehr die fehlende soziale Mobilität verantwortlich.
Wir werden immer größer …
Scheffler und Hermanussen zufolge sind nämlich die gesellschaftlichen Aufstiegschancen ein wichtiger Faktor bei der Frage, wie groß Menschen werden. Um diese These zu untermauern, haben die Forschenden auch historische Daten herangezogen und sich die Körpergrößen deutscher Soldaten vom 19. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts angesehen. „Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1914 tat sich wenig, die Menschen blieben relativ klein. In den 1920er Jahren wurden die Menschen dann extrem groß. Denn in der Weimarer Republik gab es mehr Möglichkeiten, gesellschaftlich aufzusteigen“, sagt die Forscherin. In den 1930ern wurden die Kinder erwachsen, die als Säuglinge und Kleinkinder die Hungerjahre 1916 bis 1919 erlebt hatten. „Diese Kohorten waren kleiner als die vorangegangenen und nachfolgenden, aber trotzdem um mehrere Zentimeter größer, als Kohorten, die in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg das Erwachsenenalter erreicht hatten. Nach einer erneuten hungerbedingten Stagnation zum Ende des Zweiten Weltkriegs verzeichnen wir in West und Ostdeutschland gleichermaßen einen säkularen Trend, das heißt eine stetige Zunahme der Körperhöhe, was auf Demokratisierung einerseits und soziale Mobilität andererseits zurückzuführen ist.“ Die These: Je mehr Aufstiegschancen eine Gesellschaft biete, desto eher orientierten sich untere Schichten an der Größe der oberen Schichten. „Wenn sich hierarchische Strukturen etwa durch Demokratisierungsprozesse auflösen, realisieren Jugendliche, dass sie die Chance auf soziale Mobilität haben. Sie wachsen und schieben damit auch das Wachstum der Jugendlichen mit einem besseren Zugang zu Ressourcen an.“ Dadurch werde die Population insgesamt größer.
Mindestens ebenso erstaunlich ist die Beobachtung, dass die ostdeutschen Rekruten innerhalb der ersten Jahre nach der Wende zwei Zentimeter aufgeholt und sich damit an die westdeutschen Soldaten angepasst hätten. „Das ist enorm“, sagt Scheffler. Zu erklären sei dies durch den „Community-Effekt“, wonach sich das Wachstum von Kindern und Jugendlichen an ihr soziales Umfeld anpasse: und zwar an die eigene Familie, aber auch an die Peers in Kita und Schule. So zeigte eine Studie, dass die Variabilität der Körpergröße vor dem Kita-Eintritt größer ist als danach: Die Größenunterschiede der Kinder sind innerhalb eines Jahres in derselben Kita-Gruppe geschrumpft. „Die kleinen wachsen potenziell eher an die größeren Kinder heran.“ Dies sieht Scheffler auch in einer Studie zur Körperhöhe von Kindern mit vietnamesischem Migrationshintergrund in Deutschland bestätigt. Die Töchter vietnamesischer Migranten der ersten Generation waren vier Zentimeter größer als ihre Mütter, die Söhne überragten ihre Väter um acht Zentimeter. Dies bezeichnet die Humanbiologin als „strategische Wachstumsanpassung“, hinter der sich der Wunsch verberge „dazuzugehören“. Denn: „Aus der Soziologie wissen wir, dass größere Menschen statistisch gesehen mit höheren Positionen und mehr Geld, Kompetenz und Dominanz assoziiert sind. Das wird so akzeptiert und auch indirekt forciert.“ Aus dem Tierreich sei dieser Zusammenhang schon lange bekannt. „Es ist eine tiefe evolutionsbiologische Wurzel, aber mit unserer Kulturfähigkeit sind wir natürlich flexibler. Nicht jeder große Mensch ist automatisch erfolgreich und natürlich können kleinere Personen genauso viel erreichen.“ Es geht also nicht um eine Art biologisches Grundgesetz, sondern um eine statistische Auffälligkeit.
Unbegrenztes Wachstum?
In den Niederlanden leben derzeit die größten Menschen der Welt. Die Forschung vermutet neben einem funktionierenden Gesundheitssystem und einer ausgewogenen Ernährung auch geringe soziale Unterschiede als Gründe für diesen Trend: Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Niederländer durchschnittlich 163 Zentimeter groß, innerhalb von sieben Generationen ist die Durchschnittsgröße um mehr als 20 Zentimeter gestiegen. Scheffler zufolge ist diese Entwicklung nicht rein genetisch zu erklären, sondern geht auch mit den bürgerlichen Rechten einher, die 1848 im Rahmen der parlamentarischen Monarchie eingeführt wurden. Zunehmend sind Stimmen wie die von Scheffler und Hermanussen zu hören, die nicht allein Genetik, Ernährung und die medizinische Versorgung als Gründe für die Zunahme der Körpergröße in den Industrienationen betrachten. Noch ist aber zu wenig über die Einflüsse von Umweltfaktoren auf unseren Hormonhaushalt bekannt, um den säkularen Trend abschließend zu erklären.
Zuletzt verzeichneten die Niederlande übrigens keinen Anstieg der Körperhöhe mehr. „Die Zunahme der Körpergröße in den vergangenen Jahrzehnten ist als Adaptionsmechanismus innerhalb eines genetisch vorgesehenen Rahmens zu verstehen, der biomechanisch irgendwann ausgeschöpft ist“, sagt Christiane Scheffler. „Ab einer bestimmten Körpergröße werden zum Beispiel Herzprobleme wahrscheinlicher. Immer größer zu werden macht biologisch gesehen keinen Sinn.“
Christiane Scheffler studierte Biologie und Chemie. Seit 1994 arbeitet sie als Humanbiologin an der Universität Potsdam.
Lesetipp: Michael Hermanussen & Christiane Scheffler: „Größenwahn. Zur Evolution biologischer Signale im sozialen Miteinander: ein Tuch aus 36 Fäden“
https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-662-69580-7
Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Zwei 2025 „Demokratie“.

