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33 Fragen an die Bildungsforscherin und Politikwissenschaftlerin Nina Kolleck

Welche Politik braucht gute Bildung? Muss eine Forscherin, die sich mit globalen Bildungstrends und politischer Sozialisation beschäftigt, TikTok nutzen? Braucht es ein Schulfach Demokratiebildung? Diese und weitere Fragen beantwortet Nina Kolleck. Sie ist seit 2023 Professorin für Erziehungs- und Sozialisationstheorie an der Universität Potsdam und gibt Einblicke in ihre interdisziplinäre Forschung und ihren Weg nach Potsdam.

1. Sie sind Bildungsforscherin und Politikwissenschaftlerin. Ein anstrengender Spagat?

Ja, manchmal schon. Aber genau diese Verbindung zwischen Bildung und Politik macht meine Arbeit so spannend. Bildung ist ein politisches Thema, und ohne Beachtung der politischen Rahmenbedingungen lässt sie sich nicht nachhaltig gestalten. In vielen anderen Ländern ist diese interdisziplinäre Forschung bereits weit verbreitet, während sie in Deutschland noch wenig präsent und teils nicht vollständig akzeptiert ist. Das liegt auch daran, dass sich viele Bildungsforscherinnen und Bildungsforscher als unpolitisch definieren möchten – eine Trennung, die in der Realität jedoch kaum möglich ist, da Bildung immer in einem politischen Kontext stattfindet und von politischen Entscheidungen beeinflusst wird.
Zudem wird in der Bildungsforschung und Psychologie häufig noch die Vorstellung vertreten, dass wissenschaftliche Forschung frei von Normativität sein könne. Doch auch das ist eine Illusion: Die Auswahl von Fragestellungen, theoretischen Perspektiven und methodischen Zugängen ist immer normativ geprägt. Gerade im Bildungsbereich ist es unmöglich, sich nicht auf Werte und gesellschaftliche Zielvorstellungen zu beziehen – sei es in Fragen der Chancengerechtigkeit, der digitalen Bildung oder der Gestaltung von Lernprozessen. Forschung kann nicht außerhalb gesellschaftlicher und politischer Strukturen existieren, sondern steht immer in Wechselwirkung mit ihnen.

2. Wie kam es dazu?

Ich habe mich von Anfang an sowohl für die Menschen und ihre Entwicklung als auch für die politischen Zusammenhänge interessiert. Mir war schnell klar, dass ein einziges Fach nicht ausreichen würde, um all meine Fragen zu beantworten – weder die Bildungswissenschaft noch die Politikwissenschaft allein. Um politische und gesellschaftliche Strukturen wirklich zu verstehen, braucht es Wissen darüber, wie Individuen heranwachsen, sozialisiert werden und lernen, sich in der Gesellschaft zu orientieren. Gleichzeitig können wir das Individuum nicht losgelöst vom größeren gesellschaftlichen Kontext betrachten – politische Entscheidungen, soziale Normen und wirtschaftliche Rahmenbedingungen prägen Bildungsbiografien maßgeblich. Erst in der Verbindung beider Disziplinen lässt sich erkennen, wie individuelle Entwicklungen und gesellschaftliche Strukturen sich gegenseitig beeinflussen und formen.

3. Braucht gute Bildung Politik?

Ja, unbedingt. Bildung ist immer politisch, denn sie benötigt klare Rahmenbedingungen für Chancengerechtigkeit, Qualität und Zugang. Ohne politische Entscheidungen gibt es keine Lehrpläne, keine Finanzierung und keine Förderung benachteiligter Gruppen.
Dazu gehört, dass Menschen nicht nur fachliches Wissen erwerben, sondern auch grundlegende Kompetenzen entwickeln, die sie auf persönliche und gesellschaftliche Herausforderungen vorbereiten. Dazu zählt auch beispielsweise, ein Bewusstsein zu entwickeln für die eigenen Stärken, Werte und Emotionen sowie die Fähigkeit, mit anderen empathisch zu interagieren. Bildung sollte also nicht nur auf beruflichen Erfolg vorbereiten, sondern das Individuum dazu befähigen, ein glückliches, selbstbestimmtes und sozial eingebundenes Leben zu führen. Politische Bildung und kritisches Denken spielen dabei eine zentrale Rolle, um Demokratie, sozialen Zusammenhalt und eine hohe Lebensqualität nachhaltig zu stärken.

4. Wie sollte sie aussehen?

Sie muss langfristig denken, soziale Ungleichheiten abbauen und auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren – etwa durch Investitionen in frühkindliche Bildung, digitale Infrastruktur und lebenslanges Lernen. Zudem sollte sie nicht nur Wissen und Kompetenzen vermitteln, sondern auch das Wohlbefinden der Lernenden fördern und sie befähigen, ihr Leben reflektiert zu gestalten.

5. Braucht Politik gute Bildung?

Ja, Bildung ist ein zentrales Politikfeld in der Demokratie – auch wenn das oft erst dann erkannt wird, wenn extreme politische Strömungen erstarken. Populisten und Extremisten wissen genau, dass Bildung Menschen befähigt, kritisch zu hinterfragen und sich aktiv in die Demokratie einzubringen – deshalb greifen sie sie oft an oder versuchen, sie zu beeinflussen. Gute Bildung fördert politische Teilhabe, stärkt den sozialen Zusammenhalt und wirkt Desinformation und Manipulation entgegen. Ohne eine solide Bildungsbasis verliert Politik langfristig an Legitimität und Gestaltungsfähigkeit.

6. Wenn Sie in Sachen Bildungspolitik einen Wunsch frei hätten, was würden Sie ändern?

Ich würde das Bildungssystem endlich so umbauen, dass Bildung nicht länger ein Privileg, sondern ein echtes Recht ist – unabhängig von Herkunft, sozialem Status oder finanziellen Möglichkeiten. Wir brauchen ein Bildungssystem, das konsequent durchlässig ist, in dem kein Kind aufgrund seiner Startbedingungen benachteiligt wird.  Es ist absurd, dass in einem reichen Land wie Deutschland der Bildungserfolg immer noch stärker vom Elternhaus als von individueller Leistung abhängt. Und dass Bildung einen so niedrigen Stellenwert hat, obwohl sie die Zukunft unserer Gesellschaft ist.

7. Was heißt das konkret?

Erstens massive Investitionen in Schulen, Lehrkräfte und digitale Infrastruktur, statt Bildungspolitik nach Kassenlage zu betreiben. Zweitens mehr Schutz für Kinder und Jugendliche vor Kindeswohlgefährdung – das Recht auf Bildung und ein sicheres, förderndes Umfeld muss über elterlichen Machtansprüchen stehen. Kinderrechte gehören auch in Deutschland ins Zentrum der Politik. Drittens ein System, das nicht aussortiert, sondern von Anfang an fördert – mit echter Chancengleichheit statt früher Selektion.

8. Aktuell erleben viele Staaten einen Rechtsruck, der Populismus ist auf dem Vormarsch. Ist die Demokratie in Gefahr?

Ja, die Demokratie steht weltweit vor großen Herausforderungen. In vielen Ländern erstarken rechte und populistische Bewegungen, die auf Vereinfachung, Spaltung und die Ablehnung demokratischer Prinzipien setzen. Populisten nutzen gesellschaftliche Unsicherheiten gezielt aus, schüren Misstrauen gegenüber demokratischen Institutionen, Wissenschaft und Medien, fördern eine Politik der Ausgrenzung und verbreiten Verschwörungserzählungen sowie Desinformation. Dadurch wird die Demokratie von innen geschwächt.
Diese Entwicklung ist jedoch nicht neu, sondern hat sich über längere Zeit abgezeichnet: Wenn sich immer weniger Menschen aktiv beteiligen, weil sie das Gefühl haben, ihre Stimme habe keinen Einfluss, oder wenn grundlegende demokratische Werte wie Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit schrittweise untergraben werden, gerät die Demokratie langfristig in Gefahr.

9. Was kann Bildung da ausrichten – braucht es vielleicht ein eigenes Schulfach „Demokratiebildung“?

Bildung und Sozialisation sind das Fundament jeder Gesellschaft und damit auch der Demokratie. Im Idealfall vermittelt Bildung nicht nur Wissen über demokratische Prozesse, sondern fördert auch zentrale Kompetenzen, die für eine aktive und reflektierte Teilhabe an der Gesellschaft notwendig sind.
Ein eigenes Schulfach – sei es „Demokratiebildung“ oder „Politische Bildung“ – vermittelt im Idealfall demokratische Prinzipien. Fachwissen ist eine Voraussetzung dafür, dass sich politische Mündigkeit überhaupt herausbildet, also dass Menschen lernen, sich auf der Basis von Fachkenntnissen eine eigene Meinung zu bilden. Doch für die Entwicklung mündiger Bürgerinnen und Bürger reicht es nicht aus, Fachkenntnisse zu lehren. Demokratie muss auch erlebbar sein. Schulen müssen selbst als demokratische Orte erfahrbar werden, in denen Meinungsvielfalt, Mitbestimmung und kritische Reflexion gefördert werden. Es geht nicht um Indoktrination, sondern darum, Schülerinnen und Schüler in ihrer Fähigkeit zu stärken, sich eine eigene Meinung zu bilden, Verantwortung zu übernehmen und sich aktiv in demokratische Prozesse einzubringen.

10. Welche Rolle spielen TikTok, Instagram und Co.? Sind sie die eigentlichen Feinde der Demokratie?

Soziale Medien wie TikTok, Instagram oder YouTube sind auf den ersten Blick demokratische Instrumente. Sie ermöglichen schnellen Zugang zu Informationen, fördern gesellschaftlichen Austausch und bieten Plattformen für Minderheiten sowie politische Partizipation. Gerade junge Menschen erreichen über soziale Netzwerke Inhalte, die sie sonst vielleicht nicht konsumieren würden, und können sich dort niedrigschwellig politisch engagieren.
Die Realität zeigt jedoch, dass diese Plattformen erhebliche Risiken für die Demokratie bergen. Algorithmen priorisieren Inhalte, die starke Emotionen auslösen – oft sind das extreme oder polarisierende Meinungen, die mehr Interaktion generieren. Dadurch werden Falschinformationen, Verschwörungserzählungen und Hassrede verstärkt verbreitet und sind schwer zu kontrollieren. Zudem kann die verkürzte und emotional aufgeladene Darstellung politischer Themen dazu führen, dass gesellschaftliche Fragen stark vereinfacht und komplexe Zusammenhänge nicht mehr kritisch hinterfragt werden.
Soziale Netzwerke sind nicht grundsätzlich schlecht für die Demokratie, aber sie können eine große Gefahr darstellen. Wenn sie weiterhin unreguliert bleiben und die Nutzer nicht wissen, wie sie funktionieren, wird die Situation noch schlimmer. Besonders durch Künstliche Intelligenz können die Herausforderungen für Demokratien noch schwieriger werden: Denn KI kann gezielt auf persönliche Wünsche und Sehnsüchte eingehen und Inhalte für jede einzelne Person anpassen, also gezielt Individuen mit angepassten Emotionen, Videos, Bildern und Inhalten in den Bann ziehen kann. Deshalb ist es sehr wichtig, Medienbildung und kritisches Denken zu fördern, damit Menschen soziale Medien bewusst und überlegt nutzen. Zugleich müssen die Unternehmen selbst in die Verantwortung gezogen werden, was leider viel zu wenig der Fall ist.

11. Braucht es angesichts dieses großen Einflusses digitaler sozialer Netzwerke ein eigenes Fach „Medienbildung“?

Ja, Medienbildung ist essenziell, sollte aber nicht isoliert betrachtet werden. Ich persönlich halte es für sinnvoller, Medienbildung als festen Bestandteil von Fächern wie politischer Bildung sowie anderer Fächer wie der informatischen, aber auch der historischen Bildung zu verankern.
Soziale Netzwerke haben einen enormen Einfluss auf politische Meinungsbildung und gesellschaftliche Debatten. Sie prägen, wie Informationen konsumiert, interpretiert und weitergegeben werden. Ohne ein kritisches Verständnis für Algorithmen, Künstliche Intelligenz und Desinformation kann politische Bildung kaum wirksam sein. Politische Bildung oder auch Demokratiebildung muss nach meinem Verständnis daher Medienbildung unbedingt integrieren – mit einem Fokus auf Quellenkritik, der Funktionsweise sozialer Medien, den Auswirkungen von Filterblasen und der Rolle von Desinformation in demokratischen Prozessen. Auch ist hier wichtig zu lernen, wie Algorithmen eingesetzt werden können und wie sie funktionieren. Gleichzeitig braucht es medienpädagogische Ansätze in anderen Fächern, um beispielsweise digitale Kompetenzen in der Wissenschaft, Wirtschaft oder im Alltag zu stärken.

12. Sie haben sich unlängst die Probleme und Möglichkeiten von kultureller Bildung auf dem Land genauer angeschaut. Was geht dort (nicht)?

Kulturelle Bildung in ländlichen Räumen ist extrem unterschiedlich – je nachdem, wo wir uns befinden. An vielen Orten gibt es weniger Zugang zu kulturellen Einrichtungen wie Museen, Theatern oder Galerien, und auch die Vielfalt an kulturellen Angeboten ist meist eingeschränkter als in Städten. Andererseits gibt es in den meisten ländlichen Regionen starke lokale Gemeinschaften und eine enge Verbindung zur Natur, die als Ausgangspunkt für kreative und kulturelle Bildungsangebote genutzt werden kann. Wir wissen aus der Forschung auch, dass sich Menschen in ländlichen Räumen weniger einsam und glücklicher fühlen. Doch trotz dieser Potenziale gibt es Hindernisse wie finanzielle Engpässe oder eine geringere Vernetzung zwischen den Kulturanbietern und den Bewohnern. Gerade in Deutschland ist die kulturelle Bildung in ländlichen Räumen extrem ungleich verteilt, was auch daran liegt, dass viele Regionen politisch und wirtschaftlich abgehängt wurden.

13. Schon 2017 haben Sie mehr Klimabildung gefordert. Braucht es immer mehr Bildung?

Ja, vor allem muss sich die Bildung stärker an die weltweiten Veränderungen und Herausforderungen anpassen. Klima- und Nachhaltigkeitsthemen stehen vielleicht nicht immer im Mittelpunkt, aber das wird sich zunehmend ändern, denn sie gewinnen weltweit an Relevanz – übrigens auch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

14. A propos Bildung: Was war Ihr Lieblingsfach in der Schule?

Eindeutig Mathematik und das wäre es, glaube ich, noch heute.

15. Wollten Sie mal etwas ganz anderes werden?

Oh ja, ich hatte tatsächlich viele verschiedene Berufswünsche! Ich habe mir alles Mögliche vorgestellt – von Bäckerin bis hin zu Astronautin. Dass ich mal Professorin werden würde, hätte ich früher nie gedacht. Aber Professoren waren für mich auch alte graue und sehr weise Männer, da hätte ich mir nie eine Chance ausgerechnet.

16. Sie sind seit 2023 Professorin an der Universität Potsdam, dem Ort, wo Sie 2007 studiert haben. Zufall oder Heimkommen?

Sicher beides! Vor meiner Professur an der Universität Potsdam hatte ich natürlich schon viele andere Stationen und Professuren an verschiedenen Universitäten. Aber Potsdam bietet mir nun die besondere Gelegenheit, mich manchmal wieder wie eine Studentin zu fühlen. Die Räume, Gebäude und Potsdamer Gärten und Seen verbinden mich direkt mit meiner eigenen Studienzeit, was eine ganz besondere Atmosphäre schafft. Es ist fast, als würde ich ein Stück meiner eigenen akademischen Reise fortsetzen – nur jetzt aus der Perspektive der Lehrenden.

17. Gab es einen besonderen Moment auf Ihrem akademischen Weg?

Ja, und er kommt mir immer wieder in den Sinn. Ein ehemaliger Professor sagte zu uns Studierenden: „Hinterfragt die Grenzen, statt nur innerhalb von ihnen zu arbeiten.“ Das klang erst nach einer klugen und für mich selbstverständlichen Weisheit – bis ich merkte, wie schwer das in der Wissenschaft ist. Denn das System ist so gebaut, dass man in bestehenden Rahmen denkt: Förderanträge haben feste Vorgaben, Journals bevorzugen bewährte Methoden, und wer zu weit über den Rand hinausschaut, wird gern mal belächelt. Aber genau da passiert Innovation. Wissenschaft entsteht nicht durch das Wiederholen des Bekannten, sondern durch das Fragen: Warum ist das so? Muss das so sein? Und was wäre, wenn es anders ginge? Dieser Moment – diese Erkenntnis, dass es nicht nur erlaubt, sondern notwendig ist, den Rahmen zu hinterfragen – prägt meine Arbeit seitdem. Es ist nicht immer einfach, aber wenn es leicht wäre, wäre es keine echte Forschung.

18. Sie sind als Forscherin viel herumgekommen, waren in Berlin, Heidelberg oder Aachen, aber auch in Vancouver, Berkeley, Jerusalem sowie Tel Aviv. Ausgeklügelter Plan oder der Griff nach jeder Gelegenheit?

Weder noch. Als junge Mutter während meiner Studienzeit an der Uni Potsdam musste ich meine Laufbahn so gestalten, dass sie sowohl wissenschaftlich als auch für meine Kinder sinnvoll war. Ich habe gezielt Chancen genutzt, die beides ermöglicht haben – Forschung und kostbare interkulturelle Erfahrungen für meine Kinder.
Ich war schon immer neugierig und offen für Neues – so bin ich zum Beispiel in meiner ersten vorlesungsfreien Zeit alleine nach Kamerun gereist, um für die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit zu arbeiten. Diese Offenheit für unterschiedliche Perspektiven hat meine Laufbahn geprägt und ist ein Wert, den ich auch meinen Kindern mitgeben wollte. Jede Station – ob in Vancouver, Berkeley, Jerusalem oder Tel Aviv – hat nicht nur meine Forschung bereichert, sondern auch meinen Blick auf globale Herausforderungen geschärft. Wissenschaft lebt vom internationalen Austausch, und genau dieser Austausch ermöglicht es, komplexe Themen aus den unterschiedlichsten Perspektiven zu betrachten. Diese Erfahrung prägt meine Arbeit bis heute.

19. Was haben Sie als Wissenschaftlerin mitgenommen?

Als Wissenschaftlerin habe ich vor allem mitgenommen, wie wichtig es ist, neugierig zu bleiben und weiter zu lernen – selbst wenn der Weg nicht immer gerade ist. Außerdem habe ich gelernt, wie sinnvoll der interdisziplinäre und internationale Austausch ist. Es gibt so viele überraschende Wendungen in der Forschung, und das ist etwas, das mich immer wieder begeistert. Außerdem habe ich gelernt, wie wertvoll der interdisziplinäre und internationale Austausch ist. Gerade in einer global vernetzten Welt ist es entscheidend, verschiedene Perspektiven zu integrieren und über den eigenen Tellerrand hinauszublicken.

20. Was ist Ihnen ganz persönlich in Erinnerung geblieben?

Die Begegnungen und Gespräche mit Menschen aus ganz unterschiedlichen Kulturen und Disziplinen. Diese Momente, in denen wir gemeinsam neue Ideen entwickelt oder über Themen diskutiert haben, die uns alle bewegen. Und auch die Momente, in denen ich mit meinen Kindern an verschiedene Orte gereist bin und wir zusammen neue Welten entdeckt haben, haben mir gezeigt, wie wertvoll es ist, nicht nur als Wissenschaftlerin, sondern auch als Mensch immer offen für Neues zu sein.

21. Kennt Ihre Forschung noch Grenzen – sei es von Ländern, Sprachen oder Kulturen?

Ja, Forschung hat immer mit Grenzen zu tun – sie ist eine permanente Auseinandersetzung mit dem, was wir wissen können und dem, was wir nicht wissen. Diese Grenzen sind vielfältig: Sie können sich in der Sprache manifestieren, in der wir die Welt begreifen, in den Texten, die wir lesen, und in den Bedeutungen, die durch sprachliche und kulturelle Unterschiede geprägt werden. Es gibt die methodischen Grenzen, wenn die Daten uns nicht das liefern, was wir uns von ihnen erhofft haben, oder wenn die Welt in ihrer Komplexität schwer fassbar bleibt. Und es gibt die geografischen Grenzen, wenn unsere Forschung in einen bestimmten kulturellen oder politischen Kontext eingebettet ist und wir über diese Grenzen hinaus schwer greifen können.
Aber gerade diese Grenzen sind es, die uns herausfordern und uns dazu bringen, immer weiter nach Antworten zu suchen, neue Perspektiven zu entwickeln und unser Wissen ständig zu hinterfragen. Vielleicht sind es diese „Grenzen“ der Forschung, die uns letztlich zeigen, wie unvollständig unser Wissen ist – und das ist es, was Forschung wirklich ausmacht: die Suche nach dem, was jenseits dieser Grenzen liegt, immer im Bewusstsein der Tatsache, dass wir niemals alle Antworten haben werden.

22. Sie forschen zu transnationalen Akteuren, die Bildungspolitik beeinflussen oder gar machen. Verändern sie diese nachhaltig? Was machen sie anders?

Ja, sie verändern Bildungspolitik nachhaltig, indem sie globale Standards setzen, Reformdiskurse prägen und Finanzierungsinstrumente steuern. Sie agieren oft flexibler als nationale Institutionen, nutzen Netzwerke strategisch und treiben Innovationen über Ländergrenzen hinweg voran.

23. Sie sind außerdem Teil der „Initiative für einen handlungsfähigen Staat“, in der Expertinnen und Experten diskutieren, was geschehen muss, um die Reformfähigkeit und Funktionsfähigkeit des Staates in Deutschland zu stärken. Was würden Sie vorschlagen?

Ziel ist es, konkrete Reformvorschläge zur Stärkung der Effizienz, Modernisierung und Zukunftsfähigkeit staatlicher Strukturen zu erarbeiten. Die inhaltlichen Details kann ich noch nicht nennen, aber es geht um praxisnahe und umsetzbare Ansätze für eine leistungsfähigere Verwaltung und bessere Governance, die deutliche Veränderungen und Verbesserungen in unterschiedlichen Politikfeldern bringen soll.

24. Mehr Staat oder mehr transnationale Akteure – was ist die Zukunft guter Bildung?

Die Zukunft guter Bildung liegt nicht in einem Entweder-oder zwischen staatlicher Verantwortung und transnationalen Akteuren, sondern in einem Zusammenspiel beider Aspekte. Doch um zu verstehen, wie diese Balance aussehen kann, müssen wir uns zunächst eine grundlegende Frage stellen: Was ist überhaupt „gute Bildung“? Bildung ist nicht neutral – sie ist normativ geprägt. Die Entscheidungen darüber, was in Schulen und Universitäten gelehrt wird, welche Schwerpunkte gesetzt und welche Werte vermittelt werden, basieren auf gesellschaftlichen Zielsetzungen. Geht es darum, wirtschaftliches Wachstum zu fördern? Persönliches Glück und Entfaltung zu ermöglichen? Oder demokratische Teilhabe und gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken? Je nachdem, welchen Anspruch wir an Bildung haben, ergeben sich unterschiedliche Anforderungen an das System – und an die Akteure, die es gestalten.
Der Staat spielt dabei eine zentrale Rolle. Er trägt die Verantwortung dafür, dass Bildung ein öffentliches Gut bleibt und nicht von Marktlogiken oder privaten Interessen dominiert wird. Ohne staatliche Steuerung wäre Bildung ein Privileg für diejenigen, die es sich leisten können, anstatt ein Grundrecht für alle. Der Staat sorgt für Chancengerechtigkeit, schafft verbindliche Bildungsstandards und setzt langfristige Strategien um, die nicht an kurzfristige Gewinninteressen gebunden sind. Doch genau hier liegt auch seine Schwäche: Bildungssysteme sind oft schwerfällig, reformresistent und nicht flexibel genug, um mit den rasanten gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen Schritt zu halten. Bürokratische Hürden und politische Entscheidungsprozesse bremsen Innovationen aus – und genau hier können transnationale Akteure Innovationen fördern.
Organisationen wie die OECD, UNESCO oder NGOs setzen globale Bildungsstandards, analysieren Bildungssysteme weltweit und geben Empfehlungen für Reformen. Sie ermöglichen einen internationalen Austausch und bringen bewährte Konzepte aus anderen Ländern in nationale Bildungspolitiken ein. Private Akteure, darunter große Stiftungen oder Technologieunternehmen, können flexibler als Staaten handeln und neue Herausforderungen schneller bearbeiten. Doch ihr Einfluss ist nicht unproblematisch: Transnationale Akteure sind meist nicht demokratisch legitimiert und handeln oft nach eigenen Interessen. Wenn große Konzerne Bildungsinhalte dominieren, besteht die Gefahr, dass wirtschaftliche Profitlogiken wichtiger werden als pädagogische oder gesellschaftliche Werte.

25. Forschung oder Lehre – was macht Ihnen mehr Spaß?

Beides! Das heißt aber auch, es muss genug Zeit für gute Forschung sein, neben Lehre und akademischer Selbstverwaltung, das ist in unserem Job oft nicht einfach.

26. Gibt es eine Forschungslücke in Ihrem Feld, die Sie gerne schließen würden, wenn Sie könnten?

Eine der Forschungslücken, die mich besonders interessieren, ist die Frage, wie und warum Sozialisation und Bildung den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern oder Polarisierung verstärken können. Bildung wird oft als Schlüssel zu sozialem Aufstieg, individueller Entwicklung und wirtschaftlicher Teilhabe betrachtet. Doch ihre tiefgreifenden Auswirkungen auf das soziale Gefüge einer Gesellschaft – insbesondere darauf, wie Menschen miteinander in Dialog treten oder sich voneinander abgrenzen – werden häufig unterschätzt.
Immer wieder taucht das Argument auf, dass auch hochgebildete Menschen Verschwörungsideologien anhängen können. Doch vereinzelte Beispiele sind kein empirischer Beweis gegen die positive Wirkung von Bildung auf gesellschaftlichen Zusammenhalt. Vielmehr stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen Bildung tatsächlich zur Stärkung demokratischer Werte und sozialer Kohäsion beiträgt – und wann sie stattdessen Polarisierung verstärkt. Bildung und Sozialisation prägen nicht nur unser Wissen, sondern auch unsere Werte, unsere Toleranz gegenüber anderen Meinungen und unsere Fähigkeit, mit gesellschaftlichen Konflikten umzugehen.
Mich interessiert besonders, welche Bildungsansätze langfristig gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern – und welche Mechanismen eher zur gesellschaftlichen Spaltung beitragen. Warum gelingt es in manchen Ländern besser, Bildung als Instrument des sozialen Ausgleichs zu nutzen, während in anderen Bildungssystemen bestehende Ungleichheiten und politische Polarisierung noch verstärkt werden?
Ein entscheidender Faktor ist die zunehmende Rolle digitaler Sozialisation. Junge Menschen konsumieren Informationen immer stärker über soziale Medien, in denen Algorithmen Inhalte verstärken, die Emotionen und Interaktion fördern – oft auf Kosten von Differenziertheit und kritischer Reflexion. Welche Auswirkungen hat dies auf ihr Demokratieverständnis? Inwieweit kann schulische oder universitäre Bildung diesem Einfluss entgegenwirken? Und braucht es möglicherweise völlig neue Ansätze, um Bildung in einer zunehmend polarisierten Welt wirksam zu gestalten?
Diese Fragen sind von enormer gesellschaftlicher Relevanz. Wenn wir besser verstehen, welche Mechanismen den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken und welche zur Spaltung beitragen, könnten wir gezielt Bildungsmaßnahmen entwickeln, die nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch demokratische Resilienz und die Fähigkeit zum konstruktiven Diskurs fördern.

27. Was gefällt Ihnen an Ihrem Beruf?

Ich liebe es, zusammen mit anderen jungen und alten Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und Hintergründen Wissen zu teilen, komplexe Themen verständlich zu machen und kreative Lösungen zu finden. Es macht Spaß, mit verschiedenen Perspektiven zu arbeiten, Diskussionen anzuregen und Menschen bei ihren Herausforderungen zu unterstützen.

28. Und was gar nicht?

Manchmal wäre es schön, eine Pause-Taste für Fragen zu haben, auf die es keine abschließende Antwort gibt.

29. Gibt es etwas, für das Sie kämpfen?

Früher war Wissenschaft eine „fünfte Gewalt“ in Demokratien. Wissenschaftler haben sich aktiv in gesellschaftliche Debatten eingemischt, doch heute sind sie oft zurückhaltend und wollen vermeintlich neutral bleiben. Viele sorgen sich um ihre Neutralität, ihre Reputation oder fürchten Hassrede oder einen Shit Storm als Reaktion.
Aber gerade jetzt ist das Schweigen gefährlicher als das Sprechen. Wir haben ja auch eine Verantwortung in der Gesellschaft. Wissenschaftliche Erkenntnisse sollten also nicht nur in Fachjournalen verstauben, sondern in Bildung, Politikberatung und öffentliche Debatten einfließen.

30. Gibt es etwas, das Sie – als Wissenschaftlerin – fürchten?

Als Wissenschaftlerin fürchte ich vor allem, dass der Raum für offene, kritische Auseinandersetzung und den Austausch von Ideen in der Gesellschaft immer kleiner wird – besonders im Hinblick auf die Demokratie. Wenn Menschen nur noch in ihrer eigenen Blase leben und es weniger Raum für diverse Perspektiven gibt, dann gefährdet das nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft.

31. Was ist Ihr Ausgleich zur Arbeit?

Sport, Familie, Literatur, Zeit in der Natur und meine Freunde.

32. Nutzen Sie Tiktok – beruflich oder privat?

Nur beruflich. Ich nutze es, um ein Verständnis dafür zu erhalten, wenn ich die Daten empirisch auswerte.

33. Was würden Sie als Forscherin gern erreichen?

Wissenschaft sollte nicht nur Wissen produzieren, sondern auch Verantwortung übernehmen: durch fundierte Politikberatung, durch Aufklärung und durch praxisnahe Lösungen für Bildung und Medien. Gerade in Zeiten von Desinformation und menschenfeindlichen Narrativen darf Wissenschaft nicht nur neutraler Beobachter sein, sondern muss sich aktiv in den gesellschaftlichen Diskurs einbringen. Wenn meine Forschung dazu beiträgt, dass Menschen kritischer hinterfragen, sich nicht von Manipulation und Fake News leiten lassen und sich aktiv für eine offene, demokratische Gesellschaft einsetzen, dann habe ich mein Ziel erreicht.

 


Nina Kolleck ist seit 2023 Professorin für Erziehungs- und Sozialisationstheorie an der Universität Potsdam.

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Eins 2025 „Kinder“.