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Moses Mendelssohn Zentrum baut digitale Bibliothek verbrannter Bücher auf

Bronzeplatte erinnert an die Bücherverbrennung in Frankfurt am Main
Foto : AdobeStock/helmutvogler
Bronzeplatte erinnert an die Bücherverbrennung in Frankfurt am Main

In der versteckten Bibliothek des Moses Mendelssohn Zentrums (MMZ) am Neuen Markt in Potsdam ist Großreinemachen. Karin Bürger, wissenschaftliche Bibliothekarin mit stattlicher Publikationsliste, lässt den Staubsauger kreisen. Hinter ihr lehnt an der Wand ein Foto des Religionsphilosophen Hans Joachim Schoeps. Und man sieht: Sein Sohn, Julius Schoeps, der Historiker und Gründungsdirektor des MMZ, sieht dem Vater mit dem stets wilden Haar zum Verwechseln ähnlich.

Gegenüber, auf der anderen Hofseite, sitzt Dr. Werner Treß, der stellvertretende Leiter des Zentrums, das der Universität Potsdam angegliedert ist. Zwischen Bibliothek und Leitungsbüro, fast auf halbem Wege, arbeitet Daniel Burckhardt an der Einrichtung von digitalen Datenbanken. Diese vier, Bibliothekarin Bürger, Institutsgründer Schoeps, Historiker Treß und Web-Architekt Burckhardt, legten den Grundstein für eine „Digitale Bibliothek der verbrannten Bücher“. Eröffnet wurde sie im Mai 2023, zum 90. Jahrestag der NS-Bücherverbrennung. 316 der ehemals verfemten Werke sollen dort Platz finden – und zwar so, wie sie gedruckt waren, bevor sie 1933 vor laufenden Kameras und geöffneten Rundfunkmikrofonen ins Feuer flogen. „Die Erfahrung zeigt, dass ein Buch umso sicherer ist, an je mehr Orten es aufbewahrt wird“, sagt Daniel Burckhardt. Dafür sei das Internet ideal. Doch die digitale Bibliothek ist auch eine längst überfällige intellektuelle Revanche an dem Ungeist des NS. Für dieses „Denkmal der anderen Art“ brauchte das MMZ einen 20 Jahre langen Atem.

„131 Autorinnen und Autoren und vier Anthologien standen 1933 auf der Liste!“ Karin Bürger perlen die Zahlen nur so von den Lippen. 94 deutsch-, 37 fremdsprachige, manche mit nur einem Werk, einige mit allen. Zusammengestellt hatte jene verhängnisvolle „Liste I – Schöne Literatur“ der arbeitslose und wütende Bibliothekar Wolfgang Herrmann. Eigentlich sollten „nur“ die Volksbüchereien um diese Titel „bereinigt“ werden. Doch die Zeit überrannte ihn: Weil die nationalsozialistisch dominierten Studentenvereinigungen 1933 auf den Zug des Judenboykotts aufspringen wollten, schnappten sie sich Hermanns Liste. Ihr Ziel, so Werner Treß: „Sie wollten bei den neuen Machthabern eine Visitenkarte abgeben.“ In dem von ihm mitherausgegebenem Standardwerk „Orte der Bücherverbrennung in Deutschland“ kann man die erschreckenden Einzelheiten nachlesen. Die Liste war der Zunder für die Bücherverbrennungen an den deutschen Universitäten – und an mehr als 200 anderen Orten, auch in Potsdam. Verfemt wurde, was als jüdisch, kommunistisch, pazifistisch, liberal oder progressiv galt. Autorinnen und Autoren flohen ins Ausland, nicht alle kamen nach 1945 zurück. Viele Bücher wurden nie wieder aufgelegt.

Das habe sie immer gestört, sagt Karin Bürger. Weil es das Unrecht fortschrieb. Und 2003, zum 70. Jahrestag, fiel auch noch das Gedenken an die Bücherverbrennung mau aus. Wer, wenn nicht das MMZ, hätte da gegensteuern sollen? Schließlich war die ungeheure Vernichtungsaktion zutiefst antisemitisch. Der empörte Julius Schoeps berief einen monatlich tagenden, hochkarätig besetzten Expertenrat. Sie lasen wie besessen, analysierten, verglichen, diskutierten. „So viel Arbeit!“, erinnert sich Karin Bürger. Der Plan war ebenso großartig wie unrealisierbar: Im Klassensatz sollten die am besten geeigneten Werke zum vergünstigten Preis an 3.000 deutsche Gymnasien gehen und von dort ins Geistesleben zurückkehren. 300 Bücher setzte das Gremium auf die Auswahlliste, besonders von jenen, deren Werke vergessen worden waren.

Werner Treß, als Autor einer viel beachteten Magisterarbeit zur Bücherverbrennung damals mit im Boot, seufzt: „Zu teuer. Zu komplex. Ein drohender Eingriff in die Bildungshoheit der Länder. Vielleicht sogar Wettbewerbsverzerrung, weil öffentliche Gelder benötigt wurden. Und nicht alle Bücher waren gemeinfrei!“ Die Verlage wollten keine kostenlose Sonderveröffentlichung gestatten. Und dann leakten auch noch Studierende die mühsam erarbeitete Liste im Internet. „Die Verlage haben unsere Liste als Qualitätssiegel für ihre Reprints benutzt“, sagt Karin Bürger bitter. Ein Urheberrechtsverstoß, der aber zu etlichen Neuauflagen führte. Dann gewann Treß den Olms-Verlag für einen Reprint der ersten zehn Bände. Sie erschienen 2008 im hellgrauen Schuber, gingen an Schulen – danach war Schluss.

Bis Daniel Burckhardt, Mathematiker, Wissenschafts- und Technikhistoriker, zusammen mit der neuen Direktorin, Professorin Miriam Rürup, 2021 ans MMZ kam. In einem Workshop betrachteten die Institutsleute die noch offenen Projekte – und entwickelten im Kulturdaten-Hackathon „Coding Da Vinci“ die Idee der Digitalen Bibliothek. Die Bücher sollen darin so erscheinen, wie sie 1933 verbrannt wurden. Dafür müssen sie gefunden, an die Einlesestelle gesendet, aufgeschnitten, digitalisiert, aus der Frakturschrift heraus transkribiert – und buchstabenweise kontrolliert werden. Das erledigt Burckhardt in der Bahn auf dem Weg zur Arbeit – und es ist für das Projekt gut, dass er in Berlin wohnt, denn das macht er „nebenher“. Wie auch das Suchen nach raren Büchern. Maria Leitners „Hotel Amerika“, das heute in der Originalausgabe von 1930 stolze 450 Euro kostet, hat er noch nicht günstiger gefunden. Bis jetzt stehen zehn Bücher in der Digitalen Bibliothek. Die anderen sollen bis zum 100. Jahrestag der Bücherverbrennung, am 10. Mai 2033, dazu kommen.

Karin Bürger sortiert derweil einen wissenschaftlichen Nachlass. In der Rückschau ist sie mit allem versöhnt. Und wenn sie jetzt in den Ruhestand geht, wird sie von woanders der Digitalen Bibliothek beim Wachsen zusehen.

Digitale Bibliothek: https://www.verbrannte-buecher.de/

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Transfer - 2024.